Stellungnahme von Intersexuelle Menschen e.V. zur geplanten klinischen Studie zur Testosteronsubstitution

1.4.2009 8:15 Uhr

Lieber Olaf Hiort

Gerne lasse ich Ihnen wie gewünscht eine Stellungnahme zur geplanten klinischen Studie zur Testosteronsubstitution bei kompletter Androgenresistenz zukommen.

Intersexuelle Menschen e.V. begrüsst die geplante Studie und möchte Ihnen in diesem Zusammenhang jede mögliche Unterstützung zukommen lassen. Wir haben uns über Ihre vielversprechende Nachricht sehr gefreut: Endlich eine Studie, die beweisen soll, dass es Menschen mit CAIS mit einer Testosteron-HET psychisch und physisch besser geht! Ich hatte ihr Mail sowohl über den Vereinsverteiler wie auch über den XY-Frauen-Verteiler weitergeleitet und potentielle Teilnehmerinnen darum gebeten, eine Teilnahme zu prüfen.

Wie Sie in Ihrer Mail erwähnen, sind es Berichte von "XY-Frauen" die Sie dazu bewogen haben, die Finanzierung dieser Studie zu beantragen. Berichte einerseits über Probleme mit der Östrogen-HET und einem gesteigerten Wohlbefinden nach der Umstellung auf eine Testosteronsubstitution, andrerseits  betreffend der nach wie vor mit einer Testosteronsubstitution verbundenen Probleme mit Ärzten, die sich oft weigern, übernahmepflichtige Rezepte auszustellen, weshalb viele von uns eine adäquate HET von der Krankenkasse nicht erstattet bekommen, wie Sie ansprechen oft mit der "Begründung" Off Label-Use.

Intersexuelle Menschen e.V. begrüsst deshalb insbesondere das Ziel der Studie, "XY-Frauen" eine von den Krankenkassen bezahlte Testosteron-HET zu ermöglichen. Es ist mehr als unwürdig, dass zwangskastrierte Zwitter sich mit Ärzten und Krankenkassen herumschlagen müssen, weil Testosteronsubstitution bei XY-chromosomalen Intersexuellen, die als "Frau" leben, als Off Label-Use gilt. Faktisch sind wir der Willkür bzw. dem Wohlmeinen oder gar Mitleid der uns jeweils behandelnden ÄrztInnen ausgeliefert.

Wir wollen aber kein Wohlmeinen oder Mitleid, sondern unser gutes Recht! Nicht umsonst ist dies Teil unserer Forderungsliste, vgl. 2) Schaffung verbindlicher "Standards of care" unter Einbezug der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen. (Zur Forderungsliste vermissen wir übrigens nach wie vor eine Stellungnahme des Netzwerks, obwohl wir seinerzeit darum baten – dürfen wir Sie als 1. Vorsitzenden des "neuen" Netzwerks deshalb noch einmal darum bitten?)

Wir erachten deshalb die von Ihnen angestrebte Studie für eine grosse Chance für unsere Anliegen. Wie Sie selber bemerken, ist es aber "sehr schwer", heute "eine Medikamentenstudie offiziell durchzuführen", und wirken die Teilnahmebedingungen doch eher abschreckend. Nicht zuletzt ist das geforderte mehrmalige, monatelange Absetzen jeglicher HET für die Teilnehmerinnen physisch und psychisch sehr strapaziös, wofür zum Beispiel kaum ein Arbeitnehmer Verständnis hätte. Das Zustandekommen dieser Studie mit mindestens 30 Teilnehmerinnen ist deshalb meines Wissens nach alles andere als von vornherein gesichert.

Weiter beschränkt sich die Studie ausschliesslich auf Menschen mit kompletter Androgenresistenz. Nicht umsonst fordert Intersexuelle Menschen e.V. aber  "Evaluierung von Wirkungen und Machbarkeit der verschiedenen Hormonersatztherapien nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der betroffenen Menschen (Testosteron, Östrogen oder beides)" für alle Betroffenen. Es ist wie gesagt mehr als unwürdig, dass insbesondere für sämtliche Zwangskastrierten nach wie vor eine adäquate HET "nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen" immer noch nicht selbstverständlich ist.

Was ausserdem bei Ihrer Argumentation für die geplante Studie aus unserer Sicht sehr stört, ist die Unterschlagung der Tatsache, dass es sich auch bei der Östrogen-HET um einen Off Label-Use handelt. Die Hormonersatztherapie mit Östrogene bei Intersexuellen ist meines Wissens nach nie klinisch getestet worden, es handelt sich um Präparate, die eigentlich nur für Frauen in der Menopause zugelassen sind oder zur Schwangerschaftsverhütung dienen. Obwohl die negativen Folgen einer contrachromosomalen Hormonersatztherapie seit längerem auch in der medizinischen Literatur bekannt sind. Trotzdem ist dort Off Label-Use plötzlich kein Argument mehr. Diese scheinheilige Ungleichbehandlung ist klar entwürdigend und diskriminierend.

Leider hatte es es das Netzwerk meines Wissens nach in all den vergangenen Jahren versäumt, uns von uneingewilligten Kastrationen betroffene Menschen konkret dabei zu unterstützen, damit wir, mit welcher Diagnose auch immer, unsere Hormonersatztherapie frei wählen und anstandslos bezahlt kriegen. Als offizielle Fachstelle für Intersexualität hätten Sie uns und unseren Bedürfnissen mehr als einmal Gehör verschaffen und sich für sie stark machen können. Oder habe ich etwas verpasst? An Rückmeldungen aus Betroffenenseite hat es – wie Ihre Mail zeigt – wohl kaum gemangelt.

Wenn es Ihnen Ernst ist mit dem Ziel der geplanten Studie, "XY-Frauen" eine von der Krankenkasse anerkannte Testosteronsubstitution zu ermöglichen, bitte ich Sie deshalb dringend, zusätzlich auch andere Möglichkeiten nach Kräften zu verfolgen.

Und um konkrete Unterstützung bei einem Vorschlag, der dieselben Ziele hat:

Menschen mit CAIS (und andere XY-chromosomale Zwitter), die eine HET mit Testosteron wünschen oder neu auf eine solche umstellen möchten, sollen bei Ihren Kontakten mit ÄrztInnen, Krankenkassen und Apotheken mit einem in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk herausgegeben Infoblatt unterstützt werden. Darin ist kurz und knapp der aktuelle Wissensstand betreffend Hormonersatztherapien bei xy-chromosomalen Intersexuellen festgehalten. Das Netzwerk bestimmt zudem eine Ansprechperson, die ihren Namen und Kontaktdaten auf dieses Papier setzt, welche sich bereit erklärt, Betroffene bei Problemen mit der Testosteronsubstitution zu unterstützen. Mit diesem Infoblatt können Betroffen bei Bedarf ihre Ärzte auffordern, diesen Experten des Netzwerks zu kontaktieren und sich zu informieren.

Dieses Infoblatt soll betroffenen zwischengeschlechtlichen XY-Menschen konkret helfen, auf Wunsch eine von der Krankenkasse bezahlte HET mit Testosteron zu ermöglichen, Ärzte dazu zu verpflichten, entsprechende Rezepte auszustellen und eine bedingungslose Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse einzufordern. Das Netzwerk könnte so konkret zur Beendigung der aktuellen unwürdigen Situation helfen, ohne dass zuerst etwa völkerrechtliche oder juristische Instanzen bemüht werden müssten.

Ich danken Ihnen herzlich für Ihre baldige Stellungnahme zu diesem Vorschlag (sowie dem Netzwerk für das Feedback zur Forderungsliste). Und wünsche der geplanten Studie gutes Gelingen!

Freundliche Grüsse

Daniela Truffer
1. Vorsitzende Intersexuelle Menschen e.V.

Siehe auch:
- "Netzwerk DSD" plant Testostudie für Zwangskastrierte mit CAIS
- Ersatzhormone für Zwangskastrierte auf Kasse! "Netzwerk DSD" zum Handeln aufgefordert
- PRESSEMITTEILUNG: Zwangskastrierte Zwitter müssen Ersatzhormone selber bezahlen
- Testo-Studie: Doch keine Placebos

Published on Wednesday, April 1 2009 by nella