Zwitter: Akzeptieren statt zwangsoperieren! – Oliver Tolmein (2002)

Menschenrechte auch für Zwitter!

Die Zwitter Medien Offensive™ war schon da!

Oliver Tolmein:

Hermaphroditen: Akzeptieren statt therapieren

Dr. med. Mabuse 137, 2002

>>> http://www.tolmein.de/bioethik,recht,82,hermaphroditen.html

Gelungener, leider beklemmend aktuell gebliebener Artikel ... Oliver Tolmein ist Anwalt, Journalist, FAZ-Blogger und Co-Regisseur von "Das verordnete Geschlecht" (2001) und gehörte mit der Rechtsprofessorin Konstanze Plett zu den ersten Nicht-Zwittern, die öffentlich konkrete gesetzliche Massnahmen zum Schutz der Menschenrechte inkl. körperliche Unversehrtheit auch der Zwitter forderten. Durch die verstärkten Zwitter-Lobbyoffensiven der letzen 2 Jahre, das zuvor nie dagewesene Medienecho und die Rüge des UN-Ausschusses CEDAW erhält diese langjährige, wichtige Forderung aktuell neuen Aufwind (vgl. z.B. die Beiträge der beiden an der parlamentarischen Anhörung in Hamburg). Einige Ausschnitte aus dem Artikel (meine Hervorhebungen):

[...] Der Diskurs um die Behandlung von Zwittern gewinnt vielmehr gerade im Kontext der bioethischen Debatte, in deren Zentrum die Frage nach dem Verständnis von Mensch-Sein und die Akzeptanz von Differenzen steht, an Bedeutung. [...] Anders nämlich als viele menschliche Abweichungen vom Normalbild, die als Behinderungen qualifiziert werden, lässt sich Zwittertum unsichtbar machen und, nach den Vorstellungen zumindest der Medizin und der Jurisprudenz, heilen. [...]

Der fehlende Bedarf steht in krassem Gegensatz zur Invasivität der Eingriffe, die von den Betroffenen oft genug als Verstümmelung wahrgenommen werden: Die Verkleinerung der Klitoris oder gar deren Amputation, das Einsetzen einer Neovagina, die Entfernung von Hoden oder die Verlegung der Harnröhre. Da die Eingriffe im Kleinkindalter vorgenommen werden, können die Patienten in diese irreversiblen und folgenreichen Behandlungen nicht selbst einwilligen. Rechtsgrundlage für die folgenreichen Eingriffe, die meist mit Hormontherapien kombiniert werden, die Vermännlichung oder Verweiblichung verhindern sollen, ist deswegen das elterliche Sorgerecht aus § 1626 BGB. Das Sorgerecht ist allerdings nicht Ausdruck der elterlichen Macht über das Kind, sondern soll dem Bedürfnis der Kinder nach Schutz und Hilfe Rechnung tragen und ihnen helfen, sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Folglich findet das elterliche Sorgerecht seine Grenzen dort, wo es zweifelhaft erscheint, ob es dem Kind nützt. Für medizinische Maßnahmen gibt es beispielsweise § 1631c BGB als Ausnahme, der die Sterilisation des Kindes verbietet, weil sich, wie aus den Gesetzgebungsunterlagen hervorgeht, die Erforderlichkeit und die Auswirkungen der Sterilisation bei Minderjährigen schwer beurteilen lassen (BT-Drucksache 11/4528)

Bislang sind in der deutschen juristischen und medizinischen Fachliteratur die im Zuge der Geschlechtszuweisung vorgenommenen Eingriffe nicht grundlegend problematisiert worden. [...] Selbst die Einschränkung der ärztlichen Aufklärungspflicht über den Anlaß und das Ausmaß der Behandlung gegenüber älteren, zumindest teilweise einsichtsfähigen Kindern oder Jugendlichen wie sie sich in der medizinischen Literatur findet, wird von Juristen kommentarlos akzeptiert: "Es wäre verfehlt sie (Patienten mit sog. testikulärer Feminisierung, Anm. O.T.) über die Art ihrer Anomalie aufzuklären, weil man dann aus einem gesunden Menschen einen kranken, von Zweifeln gequälten machen würde. Sie ist lediglich über ihre ... unwiderrufliche Sterilität zu unterrichten, welche man am besten mit dem Fehlen des Uterus begründen kan. Damit finden sie sich meist ab." (Kern, Gynäkologie)

Angesichts der Schwere und der Irreversibilität der Eingriffe im Zuge der Geschlechtszuweisung ist diese Zurückhaltung schwer verständlich: Wenn bei Kindern die Sterilisation, die zwar folgenreich, die aber zugleich ein vergleichsweise leicht durchzuführender, einmaliger Eingriff ist, verboten wird, ist nicht einzusehen, wieso die vollständige oder teilweise Entfernung der Klitoris, oder die mit zahlreichen, psychisch erheblich belastenden Folgeeingriffen verbundene Einsetzung einer künstlichen Vagina erlaubt sein soll, wenn nur die Eltern zustimmen. [...] Das Urteil des Amtsgerichts München, das sich mit Michel Reiters Antrag auf Zuerkennung des Geschlechts "Zwitter" beschäftigt hat, zeigte sich über die medizinische Behandlungspraxis ebenfalls besorgt und plädierte in einer für die Entscheidung von Reiters Antrags allerdings nicht unmittelbar bedeutsamen, Passage für ein Verbot der geschlechtszuweisenden Eingriffe im Kleinkindalter analog dem Sterilisationsverbot des § 1631c BGB. Dieser Weg wird auch in anderen Rechtskulturen beschritten. [...]

Möglicherweise als Reaktion auf diese Ansätze, das Thema verstärkt auf politischem und rechtlichem Terrain zu diskutieren, macht sich nun künftig auch die Wissenschaft verstärkt Gedanken über Zwitter. [...] Professor Olaf Hiort, der Sprecher der Forschergruppe ["Netzwerk DSD / Intersexualität"], will herausfinden, wie die Genitalentwicklung im Detail abläuft [...]. Dass sich durch eine gesellschaftliche Anerkennung von Zwittern auch die Situation für die Medizin grundsätzlich verändern könnte, dass aus Patienten dann Menschen ohne Behandlungsbedarf würden, kann sich Hiort nicht vorstellen.

[...] [M]anche Zwitter [stehen] dem Interesse der Wissenschaft an ihnen skeptisch gegenüber. Denn die Forschung, die sich darauf konzentriert die hormonellen und genetischen Mechanismen im Detail zu erkunden, kann für eine auf Anerkennung und gegen Diskriminierung gerichtete Strategie durchaus kontraproduktiv sein. [...]

Aber der Diskurs über Zwitter gerät nicht nur in Konflikt mit einem medizinischen Diskurs, der Abweichungen schnell als Krankheit begreift, die behandelt werden muß. Auch mit anderen Debatten beispielsweise um Transsexualität oder die Konstruktion von Geschlechtern, wie sie im Gender-Bereich heute gängig sind, läuft das Engagement von Zwittern um ihre Anerkennung nicht selbstverständlich parallel: Sie beharren ja nicht nur darauf, dass die herrschenden Vorstellungen von Geschlecht hinterfragt werden müssen, für sie ist Geschlecht gleichzeitig nicht nur eine Frage von Konstruktionen, sondern durchaus auch eine biologische Wirklichkeit, die allerdings nicht in das strikt duale Schema paßt, in die sie derzeit gerastert wird. Werden Zwitter also als dereinst als Zwitter anerkannt, müssen wahrscheinlich nicht nur die Bewahrer konservativer Vorstellungen von Mann und Frau umdenken, sondern auch etliche ihrer Kritiker.

>>> http://www.tolmein.de/bioethik,recht,82,hermaphroditen.html

Siehe auch:
- Sonja Rothärmel: "Rechtsfragen der medizinischen Intervention bei Intersexualität" (PDF)