"Intersexualität und die Folgen: Nicht einfach wegoperierbar" - taz 22.7.11

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>>> Typisch vereinnahmender und verharmlosender Artikel über die Ethikrat-Anhörung vom 8.6.11 in der heutigen taz von Ulrike Baureithel, die unverdrossen der TäterInnenspache fröhnt ("chirurgische Korrekturen"), einmal mehr John Money unbelegt und unhinterfragt als "verantwortlichen" Sündenbock anführt und auch sonst hemmungslos von ihrem Privileg Gebrauch macht, offensichtlich noch nie um die Unversehrtheit ihrer eigenen Genitalien gefürchtet haben zu müssen.

Nicht nur werden die heute noch (auch in Berlin) täglich durchgeführten Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken bequemerweise hinwegerklärt, da sie laut taz angeblich entweder seit 30 Jahren gar nicht mehr stattfinden, oder falls evtl. doch noch, dann heute wohl nur noch ganz, ganz selten:

"Bis in die achtziger Jahre wurden uneindeutige genitale, chromosomale oder gonadische Geschlechtsmerkmale meist schon in frühester Kindheit chirurgisch angepasst", heisst es im etwa im dazugehörigen Kasten, sowie "Ärzte heute erheblich zurückhaltender mit chirurgischen Korrekturen" im Artikel selbst. Die GenitalabschneiderInnen u.a. in der Charité (--> Heiko Krude) und ihre GehilfInnen im Senat (--> Drucks. 16 / 14436) freut's ...

Quellenangaben für diese vollmundigen Behauptungen werden wenig überraschend keine geliefert – laut der aktuell weltweit grössten Erhebung der TäterInnen selbst von 2007 werden bekanntlich in Deutschland, Österreich und in der Schweiz heute noch unverändert 90% aller bedrohten Kinder und Jugendlichen durchschnittlich mehrfach genitalverstümmelt.

Statt um solche unpassenden Details geht's in gewohnter taz-Manier hauptsächlich mal wieder stets um das eine, sprich das "Dilemma [...] der bipolaren Geschlechterordnung" und das unvermeidlich daraus resultierende Leiden am "Personenstand". Dass als Beleg für Letzteres dann noch ohne Namensnennung ein Zitat von Daniela "Nella" Truffer hinzugezogen wird ("plötzlich etwas aus der Rolle fällt und von ihren Gefühlen spricht, wenn sie auf ihrem chirurgisch verstümmelten Mikropenis herumrutscht und sich anhören muss, wie man ihren Personenstand rechtlich einholt und ordentlich dokumentiert"), während Nella sich in Tat und Wahrheit im Gegenteil über diese dauernde Vereinnahmung durch privilegierte Nicht-Verstümmelte beschwerte – wen wundert's?

Das ganze Originalzitat lautet übrigens (>>> PDF-Protokoll S. 58):

Daniela Truffer [Zwischengeschlecht.org]: Es geht hier um die Lebensqualität von intersexuellen Menschen. Ich sitze hier auf meinem zerfetzten Mikropenis und was davon übrig geblieben ist, und seit über einer halben Stunde geht es um Eherecht, Homoehe, Frauenfragen, Steuertarife, Aufhebung des Geschlechtseintrags. Das ist alles, was ich zu dem Thema noch sagen möchte. Ich habe keine Lust, noch etwas zum Thema Personenstand zu sagen, wo es doch um das Thema Lebensqualität von Zwittern geht. Genitalverstümmelungen stehen für mich an erster Stelle.

Keine Erwähnung im ganzen Artikel übrigens auch davon, dass an der Ethikrat-Anhörung einmal mehr die TäterInnen & Co. als "ExpertInnen" in eigener Sache mit Abstand am besten vertreten waren ...

Wären nur schon ein paar wenige von diesen ewigen VereinnahmerInnen bei der taz und anderswo zur Abwechslung mal an den eigenen Geschlechtsteilen in einer Kinderklinik etwas genitalverstümmelt worden, hätten sie bestimmt ziemlich schnell andere Perspektiven – wetten?!

Gonade um Gonade, Lustorgan um Lustorgan!

>>> Zitty 14/2013: Heute noch Intersex-Genitalverstümmelungen in der "Charité"  
>>>
Genitalverstümmelungen im Kinderspital: Fakten und Zahlen
>>> 150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
>>> Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter

>>> Übersichtsseite zur laufenden Ethikrat-Anhörung 2011

>>> Ein bisschen Zensur auf dem Ethikrat-Online-Diskurs "Intersexualität" (I)
>>> Zensur 2.0 - Ethikrat löscht Kommentar von ETEKAR (II)
>>> Meinungsäusserung à la Ethikrat: Verstümmelungen akzeptieren oder Maul halten (III)
>>> Dokumentation der Zensur auf dem Ethikrat-Online-"Diskurs" (Stand 19.7.11) (IV)

Siehe auch:
- Zwangsoperierte über sich selbst und ihr Leben
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Offener Brief an das "3rd EuroDSD Symposium", Lübeck 21.5.2011
- 9. Menschenrechtsbericht: Bundesregierung deckt medizinische Verbrechen 
- Zwitter-Genitalverstümmelungen: Ethikrat gefordert
- "Ethik als Freifahrtschein für operieren auf Teufel komm raus" - Claudia Wiesemann
- Weltweit größte Zwitter-Studie straft Bundesregierung Lügen! 
- Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2
- Zwitter-Vereinnahmung im Bundestag (I)
- Zwitter-Vereinnahmung im Bundestag: Business as usual (II)
- "Medizinische Intervention als Folter" - Michel Reiter 30.6.2000