"Aus dem Sexleben eines im Kindesalter genitalverstümmelten und kastrierten Zwitters" - megafon 368, April 2012

>>> Friedlicher Protest + Offener Brief Inselspital Bern, 16.08.2009 (Bild: Ärger)

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1) Zur aktuellen megafon-Ausgabe mit dem Schwerpunktthema "Sex" war Daniela "Nella" Truffer von der Redaktion um einen Beitrag angefragt worden. Sie hatte zugesagt unter der Voraussetzung, dabei kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Nachfolgend ihr druckfrischer Text (Megafon 368, S. 14-15):

Aus dem Sexleben eines Zwitters
Im Kindersalter genitalverstümmelt und kastriert

Als ich mit etwa Siebzehn begann, mich selber zu befriedigen, war das ein riesiges Triumphgefühl. Ich spürte etwas und ich war die einzige, die es wusste! Bisher gehörte das, was ich da zwischen den Beinen hatte, nicht mir, sondern den Medizynern. Ich wusste, dass man da was spüren sollte, aber offenbar hatte ich nicht erwartet, dass ich noch etwas spüren würde. Erst mit über Vierzig las ich in meiner Krankenakte von der massiven Genitaloperation mit Sieben, die ich verdrängt hatte. Ich leide bis heute an den Folgen dieser menschenverachtenden Praxis.

Ich bin mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Ich habe einen männlichen Chromosomensatz und hatte bei der Geburt Hoden im Bauchraum. Mein Genital sah "uneindeutig" aus. Die Medizyner stritten sich, ob es eine vergrösserte Klitoris sei oder ein Mikropenis mit Hypospadie (das heisst mit dem Harnröhrenausgang nicht an der Penisspitze, sondern unterhalb, in meinem Fall ganz unten wie bei einem Mädchen). Darunter je nach Sichtweise ein gespaltener Hodensack oder teilweise zusammengewachsene grosse Schamlippen.

Ich wurde als Säugling im Alter von zweieinhalb Monaten kastriert, man hat meinen Bauch aufgeschnitten und meine gesunden Hoden in den Mülleimer geworfen. Aus meiner Krankenakte: Professor B., der "vor der Castratio anwesend war, glaubt[e] […] retrospektiv doch, dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf diesem Wege fortgefahren werden muss und aus dem kleinen Patienten ein Mädchen gemacht werden muss."

Wegen der Kastration wuchsen meine Knochen in der Kindheit viel langsamer. Als ich sieben Jahre alt war, wurde mein Mikropenis operativ zu einem "unauffälligen" weiblichen Genital operiert. Im Alter von achtzehn Jahren wurde eine künstliche Scheide geschaffen.

Sex mit abgeschnittenem Lustorgan

Aber ich hatte trotz allem Glück im Unglück, im Gegensatz zu vielen anderen, die ich kenne, die gar nichts mehr spüren, weil ihnen ihr Lustorgan ganz einfach amputiert wurde. Oder die eine künstliche Scheidenöffnung haben, die nie wieder richtig verheilt. Andere haben bei sexueller Erregung starke Schmerzen oder fühlen nur noch eine Art Druck.

Mein Mikropenis wurde nicht ganz abgeschnitten, wie ich später erfuhr, sondern "nur" in mich hineingestopft: Der Penisschaft wurde auseinandergesäbelt, ein Grossteil weggeschnitten, die Eichel belassen und "versenkt", dann wurden die übrigen Penisschaftstreifen um die Eichel gelegt und alles vernäht, worauf ich nun eine "sehr kleine Klitoris" habe.

Nach der Operation hatte ich einen Schock und Blutergüsse am Genital. Ich lag eine Woche im Krankenhaus, jede Nacht wurden meine Hände angebunden. Ich danke Gott, dass ich überhaupt noch etwas spüre und einen Orgasmus haben kann. Auch wenn Lust oft auch mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist: da mein Genital in mich hineingestopft und vernäht wurde, ist da auch immer ein Gefühl von Druck und Blockiertheit. Da kommt mir immer diese Käsewerbung in den Sinn: der Kleine, der raus will. Auch sonst habe ich immer wieder Schmerzen, ein plötzliches Zucken wie von einem Stromschlag, stechende, ziehende und pulsierende Schmerzen.

Mit achtzehn Jahren entschloss ich mich zu einer Scheidenoperation, die einzige Operation, die ich selber wollte. Aber was heisst schon wollen: gemäss Krankenakte hatte ich mit sieben Jahren auch der Genitalverkleinerung zugestimmt. Mir wurde von Anfang an vermittelt, dass ich "so" nicht richtig bin und keinen Freund haben könne. Die hatten mich mit Genitaloperationen und Hormonen zum Mädchen gemacht. Ich wollte nicht weiter auffallen, das letzte Teil dazu fehlte noch: eine Scheide, um mit einem Mann eine "normale" Beziehung haben zu können. Das ist die letzte Operation, danach seht ihr mich nie wieder, dachte ich.

Meine Scheide ist ein Konstrukt, wo vorher nichts war. Penetration kann schön sein, aber meine Scheide ist keine richtige Scheide, weder sonderlich dehnbar noch feucht, sondern ein künstlich gebauter Schlauch voller Narben. Wenn "er" zu lang ist, dann tut es weh, weil hinten geht's nicht mehr weiter wie bei einer "normalen" Frau. Meine Scheide wurde mit einem Hautlappen von meinem Gesäss ausgekleidet, damit die Öffnung nicht zusammenwächst. Wenn man dieses "Loch" nicht benutzt, dann zieht es sich zusammen. Ich war deshalb früher ziemlich auf Penetration fixiert, das musste sein, damit meine Scheide nicht schrumpft. Ob ich das wirklich wollte, ob das für meinen Partner auch immer sein musste, diese Fragen stellte ich mir nie. Die Angst war immer da, dass irgendwann eine neue Scheidenoperation notwendig sein würde. Ich wollte nie wieder am Genital operiert werden müssen.

Narben und Verletzungen

Heute habe ich keine Angst mehr davor, dass meine Scheide unwiederbringlich schrumpfen könnte. Ich fühle mich nicht mehr weniger wert, weil ich eine andere Sexualität habe. Sexualität hat mich immer interessiert, war für mich wichtig, Fantasien, Gedanken und Gefühle: die kann dir niemand nehmen und glücklicherweise spüre ich auch noch was zwischen den Beinen. Aber das Thema ist aufgrund meiner Geschichte belastet. Ich habe in letzter Zeit immer wieder Schmerzen in der "Scheide" und auch mein verkleinerter Penis schmerzt immer wieder mal. Irgendwelche hormonellen Veränderungen in einem Körper, der seines ursprünglichen Gleichgewichts beraubt wurde. Pfusch, der ganze Hormonhaushalt, der Stoffwechsel, alles durcheinander.

Wie den meisten Betroffenen, die ich kenne, geht es mir nicht um die Frage, ob ich mich in der zugewiesenen Rolle wohl fühle. Dass ich als Mädchen aufgezogen wurde, war für mich nicht das Problem, ich habe auch nicht das Bedürfnis, jetzt als Mann zu leben. Traumatisierend hingegen waren die Operationen, die Schmerzen, die Angst und die Lügen.

Bis heute werden 90% aller Betroffenen im Kindesalter meist mehrfach kosmetisch genitaloperiert. Die meisten "Intersexuellen", die ich kenne, haben keine Sexualität, wollen nicht berührt werden, haben Angst vor Beziehungen, sind schwer traumatisiert. Laut einer Studie von 2009 haben sie eine erhöhte Selbstmordneigung, vergleichbar mit Folteropfern und Opfern von sexualisierter Gewalt an Kindern.

Kampf um körperliche Unversehrtheit

In letzter Zeit denke ich immer wieder, dass es das Beste wäre, keine Sexualität mehr zu haben, asexuell zu sein. Mit diesem Körper "normalen" Sex zu haben ist doch eigentlich wie eine Komplizenschaft, wie eine Bestätigung dessen, was die für mich vorgesehen haben.

Seit viereinhalb Jahren kämpfe ich mit der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org gegen die Genitalverstümmelungen. Die tägliche Beschäftigung mit dem von den Medizynern verursachte Elend ist oft sehr belastend, verleidet mir die schönen Dinge im Leben, auch Sexualität. Auch die eigene Geschichte kommt immer wieder hoch und macht mich traurig. Aber dennoch bin ich heute stark, ich bin nicht mehr das wehrlose kleine Kind, niemand bestimmt mehr über meinen Körper. Dank einer zehnjährigen Analyse und auch dank meines Kampfes in der Öffentlichkeit habe ich einen inneren Frieden gefunden - und Gelassenheit. Trotzdem bleibt da immer eine grosser Trauer: Wie wäre ich, was würde ich fühlen, was wollen, wenn man mich nicht operiert hätte? Ich werde es nie erfahren. Ich bin ein Flickwerk, geschaffen von Medizynern, verletzt und vernarbt. Das einzige, was mir  bleibt, ist mit diesen Narben und Verletzungen weiterzuleben, nicht aufzugeben, mich selber neu zu erfinden. Auch im Bett.

Daniela "Nella" Truffer

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