"Vernichtung intersexueller Menschen in westlichen Kulturen" - Flugblatt AGGPG (1998)
D O K U M E N T A T I O N
AG gegen Gewalt in der Paediatrie und Gynaekologie (AGGPG),
Selbstdarstellung:
Quelle: http://www2.iisg.nl/id/Systematik.asp?cat=3&id=83
[ nachformatiert + mit Links versehen ]
[ Enthält die Forderung: "Menschenrechte für
Intersexuelle" ]
[ siehe unten --> "Wir fordern:" ]
Die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie informiert:
Vernichtung intersexueller Menschen in westlichen Kulturen
Intersexuelle Menschen
Allgemein wird angenommen, daß ausschließlich zwei, eindeutig unterscheidbare
Geschlechter existieren: Mann und Frau. Diese ‘biologische Gewißheit’ wird
nicht näher reflektiert. Doch 1-4% der Geburten zeigen einige geschlechtliche
Unklarheiten auf und eine von 2000 ist geschlechtlich ausreichend atypisch, um
die Frage zu stellen: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Diese
Personengruppe, welche mit ungewöhnlicher sexueller Differenzierung geboren
wird, bezeichnet der moderne medizinische Diskurs als Intersexuelle oder
Hermaphroditen. Dem Volksmund sind sie auch als Zwitter bekannt. Intersexuelle
zeigen grundlegend auf, daß eine ‘natürliche’ bipolare
Geschlechterdifferenzierung nicht existiert, sondern biologisches (sex) und
soziales Geschlecht (gender) sowie homogen propagierte Sexualität
heterosexistisch genormt sind. Die Vielfalt tatsächlich existierender
geschlechtlicher Ausprägungen zeigt ebenso auf, daß Intersexualität in der
Gesamtheit nicht als drittes, zu Frau und Mann klar abgrenzbares Geschlecht
begriffen werden kann. Vielmehr sind mindestens 100 Variationen bekannt, welche
eine ausschließlich polar gedachte Geschlechtlichkeit absurd erscheinen lassen
sowie eine enorme Bereicherung sexueller Existenzen darstellen. Seit über 50
Jahren widmet sich die Medizin der Aufgabe, diese Vielfalt auszulöschen und
soziokulturell unsichtbar werden zu lassen. Intersexen stehen vor einer
prekären Situation, denn sie werden am Leben gelassen, ihre Besonderheiten
jedoch vernichtet .
Medizinische Klassifikation
Die gesellschaftliche Annahme eines eindeutigen biologischen Geschlechtes
umfaßt 23 Chromosomenpaare (letzteres weist XY oder XX auf und wird als
männlich resp. weiblich interpretiert), eine geschlechtsspezifische Ausprägung
reproduktiver Organe (Eierstöcke, Hoden, Gebärmutter), die Morphologie externer
Geschlechtsorgane wie Penis, Klitoris, Hodensack, Schamlippen, die pubertäre
Ausprägung sekundärer Geschlechtsmerkmale wie Brüste und Behaarung sowie
Körperöffnungen an vorgesehener Stelle (Harnröhre, Samenleiter, Vagina).
Intersexuelle erfüllen diese Kriterien in verschiedenen Bereichen nicht. So
können die Gonosomen sehr multipel ausfallen und von 45,X bis 49,XXXXY reichen,
auch Mosaike sind bekannt (z.B. 45,X / 46,XY). Gonaden (Eierstöcke / Hoden)
können gemischt und komplex angelegt sein. Die Ausprägung des Lustorgans, beim
weiblichen Geschlecht als Klitoris definiert und beim männlichen als Penis,
kann zwischen diesen beiden Längenextremen liegen. Ebenso können
Harnröhrenausgänge zwischen der Spitze des Penis und den Hoden enden und die
Vagina in der Harnröhre am Penis münden. Auch werden Intersexuelle mit ‘normal’
weiblichem äußeren Erscheinungsbild und der Chromosomenstruktur 46,XY wie auch
‘gegenläufig’ (46,XX, männliche Morphologie) geboren - um nur einige Beispiele
zu nennen. Die Medizin kreierte hieraus etwa 13 Syndrome. Einige seien folgend
gelistet: Turner-Syndrom, Hermaphroditismus Verus, gemischte / reine
Gonadendysgenesie, Klinefelter-Syndrom, Adrenogenitales Syndrom,
Androgeninsuffizienz-Syndrom (auch testikuläre Feminisierung genannt),
progestin-indu-zierte Intersexualität. Oft gebrauchte Begriffe sind:
Klitorishypertrophie, Micropenis, Hypospadien, uneindeutige Genitalien, frühe
genitale Korrektur.
Geschlechtliche Auswahl
Es herrscht die Anschauung vor, daß es für ein weibliches Individuum leichter
sei, ‘im Leben ihren Mann zu stehen’ als ein männliches mit reduzierter
Genitalfunktion. Auch sei es chirurgisch unkomplizierter, weibliche Genitalien
zu kreieren: „it’s easier to make a hole than to build a pole“. Wird kein Y im
Chromosomensatz vorgefunden, so fällt fraglos und unabhängig vom genitalen
Erscheinungsbild die Wahl auf das weibliche Geschlecht. Sofern jedoch ein
‘männliches’ Chromosom vorgefunden wird, erfolgt ein Peniswachstumstest. Wenn
zu erwarten ist, daß der Penis eine Länge über 2,5 cm erreicht, wird eine
männliche Zuweisung vorgenommen. Wenn wider Erwarten im Laufe der Kindheit und
Pubertät das Wachstum nicht altersgerecht verläuft, kann auch zu einem späteren
Zeitpunkt eine Feminisierung stattfinden. Gesamt werden daher derzeit etwa 90%
aller Intersexuellen feminisiert.
Genitale Verstümmelung
Abhängig vom definierten Geschlecht werden möglichst zwischen der 6.
Lebenswoche und dem 15. Lebensmonat diverse chirurgische Zuweisungen
vorgenommen: Phallusreduktion (60-70% des Gewebes werden entfernt) oder
Penisaufbauplastiken, Kastrationen, Konstruktion von Neovaginen,
Hodenimplantaten, Harnröhrenverlegungen. Ist das erreichte Ergebnis nicht
zufriedenstellend, wird nachkorrigiert. Es sind uns bis zu 16 Operationen an
einem Kind bekannt. Hinzu kommen extrem hohe Hormonsubstitutionen, vielfache
gynäkologische Untersuchungen, Bougierungen (Dehnung der Vagina mit Stäben)
sowie mehrfache fotografische Ablichtung der Genitalien. Auf psychosozialer
Ebene werden Eltern zu rigider geschlechtlicher Sozialisation angehalten. Bei
Fehlverhalten erfolgen psychologische Untersuchungen. Die Behandlungsdauer
richtet sich nach dessen Beginn und ist selten vor dem 17. Lebensjahr beendet.
Hormonelle Ersatzgabe soll ebenso wie weitergehende klinische Untersuchungen
lebenslang erfolgen.
Folgeschäden
Eltern erleben eine Cotraumatisierung, da sie zum einen unter erheblichen Streß
gesetzt werden, medizinische Anweisungen zu befolgen, zum anderen schädliche
Folgen der medizinisch nicht notwendigen Behandlung an ihrem Kind miterleben.
Die hieraus resultierende Destruktivität überträgt sich auf das Kind. Für
intersexuelle Kinder sind folglich Eingriffe und Reaktionen der Bezugspersonen
extrem traumatisierend, denn neben massiven Integritätsverletzungen kommen
strikte Tabuiserungsanweisungen, Reduktion zum Objekt und gesamtpersonelle
Ablehnung seitens der Eltern hinzu. Lebenslange physische und psychische
Schädigungen sind die Folge. Sozialer Unbill, welchen es offiziell zu vermeiden
galt, wird dadurch noch verstärkt. Unseres Wissens zufolge unternehmen 80% der
Intersexen Suizidversuche, hiervon 25% erfolgreich.
Wer ist die AGGPG?
Die einzige ‘Verfehlung’ Intersexueller ist, daß sie in einem ‘illegalen’
Körper geboren werden. Gesellschaftliche Spaltung der Menschen in zwei
Geschlechter legitimiert alle Vorgänge, obwohl in diesem Bereich seit
Jahrzehnten schwerste Menschenrechtsverletzungen von Ärzten an Intersexen
ausgeführt werden. Dies ist nicht länger tolerierbar. Daher hat sich die
Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) von und für
Intersexuelle 1996 gegründet, um für Anerkennung und Gleichberechtigung
intersexueller Menschen einzutreten sowie Aufklärung und Forschung zu
betreiben. Sie steht in engem Kontakt zu anderen internationalen Gruppen, wie
z.B. der Intersex Society of North America (ISNA) mit derzeit etwa 150
intersexuellen Mitgliedern.
Wir fordern:
- Menschenrechte für Intersexuelle
- das Recht auf Selbstbestimmung und vollständige Aufklärung
- Beendigung chirurgischer Eingriffe vor Einwilligungsfähigkeit
- psychologisches Betreuungsangebot für alle Familenangehörigen
- außerklinische Beratungsstellen und Kontaktvermittlung zu kritischen Gruppen
Bei Interesse senden wir gerne weitergehendes Informationsmaterial zu. Zudem
sind Informationen zu Intersexualität auf nachfolgenden Internetseiten
abrufbar: http://www.isna.org http://www.qis.net/~triea
http://users.southeast.net/~help
http://home.t-online.de/home/boedeker_spreitzer_gbr/is_homep.htm
http://home.t-online.de/home/aggpg/index.htm
[ Siehe auch: ]
- Selbstdarstellung der
AGGPG
-
"Medizinische Intervention als Folter" - Michel Reiter
30.6.2000
-
"Genitalverstümmelungen in Deutschland in der Kinder- und Jugendgynäkologie" -
AGGPG 1996
-
"Für die Kinder kämpfen wir" - Michel Reiter, 1997
- Zwangsoperationen
an Zwittern: Wer sind die Täter? Was soll mit ihnen
geschehen?
-
Zwangsoperationen an Zwittern: Wie können die Täter gestoppt werden?
- Anliegen
an den Deutschen Ethikrat 23.6.10
Published on Monday, August 31 2009 by seelenlos