"Intersexualität: Aus der Rolle gefallen" - Zeit v. 18.09.2008 + Nachtrag

Die Zwitter Medien Offensive™ geht weiter!

Interessanter Artikel von Eike Bruhin, der einerseits aufzeigt, dass sich im in den letzten Jahren dank Protesten von Zwittern einiges getan hat, aber andererseits (meist unfreiwillig) auch demonstriert, dass es sich dabei faktisch erst um schüchterne Anfänge handelt, und nicht längst überwundenes Unrecht, wie der Artikel schon zu Beginn (und auch später wiederholt) vollmundig behauptet:

"Eines von 5000 Kindern kommt nicht als Junge oder Mädchen zur Welt. Es sind Intersexuelle. Früher wurden sie oft vorschnell operiert und auf ein Geschlecht festgelegt. Heute lassen Eltern und Ärzte ihnen Zeit."

Typisch ebenfalls, wie mit 1:5000 auch die Zahl der real existierenden Zwitter in bekannter Manier heruntergespielt wird -- wie mittlerweile jedesmal, wenn's um die Folgen der menschenrechtswidrigen Zwangseingriffe geht. (Geht es hingegen um den 'Zugang' der Medizyner zur "Patientengruppe", nennen sie auch heute noch 1:1000.)

Auch die altbekannte, von den menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen ablenkende Reduktion des Themas auf "Gender" bzw. "Rollenverhalten" darf im Titel einmal mehr nicht fehlen ...

Korrekt hingegen, dass der Artikel den Schwerpunkt auf die positive Geschichte eines am äusseren Genitale unoperierten jungen Zwitters legt und einmal mehr plausibel aufzeigt, dass all die "Riesenprobleme", von denen die Medizyner jeweils fabulieren, die angeblich "nur durch frühzeitige Operationen" vermieden werden könnten, klar aus der Luft gegriffen sind -- zumindest solange die Eltern den Medizynern nicht auf den Leim kriechen und die wirklich gravierenden Probleme durch Lügen, Versteckspielen und Einwilligung in Zwangsbehandlungen erst hervorbringen. Positiv auch, dass "Intersex-Aktivisten", die z.B. "»Zwangskastrationen«" anprangern, zumindest mehrmals erwähnt werden, beginnend mit Michel Reiter, über den (und andere) die Zeit ja schon 2000 zum ersten Mal berichtete. Auch "XXY" und Christianes Prozess werden angeschnitten.

Wesentlich mehr Raum als die "Intersex-Aktivisten" erhalten selbstverständlich "ExpertInnen" vom Netzwerk, die -- Überraschung! -- unablässig betonen, heute sei mittlerweile natürlich alles "gaanz anders". Obwohl die Erfahrungen der Selbsthilfegruppen nach wie vor regelmässig das Gegenteil beweisen. Einmal mehr dürfen die "ExpertInnen" auch unwidersprochen die ewiggleiche Mär verbreiten, Zwangsoperationen seien hilfreich, wenn "die Eltern [...] Zweifel" hätten, ob ihr Kind mit den "Hänseleien" in "Kita oder Schule" "selbstbewusst umgehen" könnte, dann seien "kosmetische Operationen" nämlich notwendig, weil das Kind sich nur operiert "geborgen fühle", und das sei doch das "Entscheidend[e]", so zumindest Ute Thyen. In die gleiche Kerbe haut einmal mehr auch Knut Werner-Rosen: "Es geht nicht um die Operationen, es geht um die Eltern-Kind-Beziehung"  (Nachtrag: und stellt obendrein in einem Nebensatz "Aktivisten" frech mit "Ärzte[n]" gleich, die "den Familien die »richtige« Behandlung vorschreiben", was sie aber "Niemand dürfe", sprich offensichtlich auch nicht Menschenrechte oder das Strafgesetzbuch).

Als ob Eltern, die ihr Kind anlügen, es genitalen Zwangsoperationen unterwerfen und zum versteckspielen zwingen, jemals eine positive Beziehung zu ihrem "intersexuellen" Kind aufbauen könnten -- geschweige denn umgekehrt ...

In einer auf den Artikel folgenden Korrespondenz bemängelten auch Claudia und Frances Kreuzer, in Tat und Wahrheit habe sich "gar nichts geändert, nur die medizinischen Versprechen sind erneuert, modifiziert worden", und wiesen auch auf die unzähligen "zerbrochenen Familien" hin -- eben als Folge davon, dass Eltern, die ihre Kinder zwangsoperieren lassen, ihnen damit nie die von den "ExpertInnen" immer behaupteten "lebendige[n] Beziehungen" mit "Wertschätzung und Anerkennung" bieten können, weil sie ihnen damit immer nur zu verstehen geben, dass sie eben nicht willkommen und auch nicht geachtet und respektiert sind ...

Aber Hauptsache, den zwangsoperationsgeilen Medizynern geht auch weiterhin die gutbezahlte "Arbeit" nicht aus ...

Nachtrag: Leser_innenbrief von Claudia und Frances Kreuzer

Comments

1. On Friday, October 3 2008, 18:35 by seelenlos

Leser_innenbrief von Claudia und Frances Kreuzer zum Zeit-Artikel „Aus der Rolle gefallen“

Vom Leid mit denen aus der Rolle gefallenen...
Tja..., es ist schon ein Leid, für uns intersexuelle Aktivisten, immer wieder feststellen zu müssen, dass es Krankheiten gibt, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Eine ganz üble menschliche Krankheit ist, in bestimmten Expertenkreisen, die Arroganz gekoppelt mit einer Zwangsneurose.
Vor einigen wenigen Jahren hatte ich das zweifelhafte Vergnügen einem Referat, in Berlin am „Runden Tisch“, einem wie auch immer ernannten Experten für Intersexualität, zuhören zu dürfen. Was diesen Referenten besonders auszeichnete, war seine Unkenntnis hinsichtlich des verwendeten Fachvokabulars.
Insbesondere als Psychologe und Experte für Intersexualität sollte man mit diesen Begriffen, vertraut sein, denn der Fachbegriff an sich, kann schon hervorragende Hinweise zur psychologischen Betreuung Betroffener geben. Wäre dies damals in Berlin der einzige Fehltritt gewesen, wäre ich ja an dieser Stelle verschämt still, aber ich habe ja einen Mitschnitt des damaligen Referates.

Ganz schlimm aber trifft es uns, dass wir als intersexuelle Aktivisten, außerordentliche, sehr aktive, Mitglieder des Netzwerkes Intersexualität, Mitglieder verschiedener Selbsthilfeorganisationen, ob unserer und anderer betroffener Aktivisten berechtigter Aktivitäten, derart unqualifiziert von einem anderen Netzwerk- Mitglied angegriffenen werde.
Wir sind doch sehr befremdet, dass Herr Werner- Rosen so aus der Rolle fällt, und uns , intersexuelle Aktivisten, auf eine Ebene mit den Medizinern und Psychologen stellt, denen Betroffene die angewandten Praktiken und ihr Leid zu verdanken haben.
Wir verbitten uns daher an dieser Stelle –ausdrücklich- mit Medizinern u.a. wie Money, Verschuer, Butenandt oder deren Schülern, die, die heutigen –rechtswidrigen- Behandlungsstandards intersexueller Menschen grundlegend entwickelten, auf eine Stufe gestellt zu werden. Ich bewerte das Verhalten von Herrn Rosen als gezielte und vorsätzliche Diskriminierung Betroffener, die sich für ihre berechtigten Interessen einsetzen.
Außerdem, und das möchten wir hier ausdrücklich betonen, wirft dieses Vorgehen von Herrn Werner- Rosens ein doch sehr seltsames Licht auf die in dem Zeitartikel „Aus der Rolle gefallen“ dargestellte Einheit von Betroffenen, Wissenschaftlern, Ärzten und Psychologen im Netzwerk Intersexualität. Oder..., könnte es sein, jetzt wo man die Betroffenen nicht mehr braucht, da sie ja nicht mehr als Alibi für die Beschaffung von öffentlichen Geldern brauchbar sind, sie als unbequeme Netzwerk- Teile los zu werden?

Man kann diesen Experten nur raten, dass sie sich weniger –über- Betroffene als vielmehr –mit- ihnen unterhalten sollten. Ärzte und Psychologen sollten auch weniger ihre eigene Befindlichkeit zum Maßstab dessen machen, was sie an intersexuellen Kindern und Menschen realisieren.
So möchte ich Herrn Werner- Rosen abschließend die folgenden drei Ratschläge, die er selbst Ärzten und Aktivisten gibt, ans Herz legen:

1. Der „Klopper“ Intersexualität findet möglicherweise –nur- in bestimmten Köpfen statt und wird vielleicht nur im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung real...

2. Wenn niemand die „richtige Behandlung“ vorschreiben soll, sollte der ratende Psychologe und Experte auch nicht vorschreiben, dass „Eltern intersexueller Kinder müssten deshalb zumindest vorläufig entscheiden...“

3. Wenn Medizin und Psychologie sich bei unserer Behandlung immer an den überforderten Menschen orientieren, kann die Qualität der Behandlung auch nur entsprechend sein...und man sollte die überwiegende Bevölkerung nicht in dieser Weise abqualifizieren, vielleicht existiert auch dies alles auch nur in der Vorstellung der Experten?

Aber nichts desto trotz ich freue mich auf das Referat von Herrn Werner- Rosen Dienstag, den 7.10.2008, 18 bis 21 Uhr, in der Oranienstr. 106, 10969 Berlin
Raum E 109 im Erdgeschoss.
Er sich hoffentlich auch...

Frau Thyen möchte ich an dieser Stelle die Überlegung antragen, dass Sie sich an ihre eigene Dissertation und die darin enthaltenen Gedanken zu Gewalt an Kindern erinnern möge und ob eine bloße Sorge vor einer hypothetischen Tumorbildung in den Gonaden, also lediglich eine Prophylaxe, eine schwere Körperverletzung an einem Kind, mit lebenslangen Folgen, rechtfertigt.
Sie weis sicher so gut wie wir, dass die bekannten Histologien der entfernten Gonaden in 9 von 10 Fällen keinen Hinweis auf Malignität zeigen. Insbesondere sollte sie hierbei nicht übersehen, dass die meisten Kastrationen nur dazu dienen um, später dann, eine lebenslange paradoxe Hormonersatztherapie, mit völlig unerforschten Nebenwirkungen, an diesen Kindern zu manifestieren. Daher entpuppt sich, in den meisten Fällen, die so fein ausgedrückte „Gonadenentfernung aus Sorge vor einer Tumorbildung“ als nichts anderes als eine banale „ablative Hormonbehandlung“ zur Persönlichkeitsveränderung und zur Vorbereitung einer späteren gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung. Ganz so, in dem Sinne, wie so was auch bei Sexualstraftätern eingesetzt wird.
Die von Frau Thyen in diesem Zusammenhang gern erwähnte „Unzumutbarkeit“ „...des Wickelns eines intersexuellen Genitales beim eigenen Kind durch die eigenen Eltern“ kann man nicht gelten lassen. Hat sie sich eigentlich keine Gedanken darüber gemacht, in welche Nöte und Erfolgs- Unsicherheiten die Eltern gestürzt werden, angesichts der an ihrem Kind vollzogenen beim Wickeln sichtbaren körperlichen Experten- Manipulationen?
Hat sie und Herr Werner Rosen nicht bedacht, dass sie mit dieser, den Eltern abgenötigten, weil angeblich einzigen richtigen und Experten- Entscheidung, gar die natürlichen Schutzinstinkte der Eltern dahingehend manipuliert werden, sich ausschließlich auf das Ziel der Realisierung der Zuweisung zu konzentrieren?
Auch das ist für uns eine Form von Missbrauch....
Man sollte die Dinge vielleicht auch mal beim richtigen Namen benennen, aber das überfordert ja die meisten Menschen nach Herrn Werner- Rosen...
Vielleicht sollte man aber auch die meisten „Überforderten“ und „Dummen“ von „Expertenseite“ nicht unterschätzen...
Nach meiner Ansicht sollte der Experte, nicht die Eltern, der ein Kind in seinen physischen und psychischen Strukturen solcherart manipuliert auch lebenslang die Verantwortung dafür übernehmen, wie wir lebenslang die Konsequenzen des Expertenhandelns zu tragen haben... 

Cl. & F. Kreuzer, Trier im September 2008