Schweiz: Terre des Femmes, Amnesty und Grüne gegen Zwangsoperationen an Zwittern
By seelenlos on Saturday, August 15 2009, 01:41 - Die anderen - Permalink
>>> Nachträge 1-3
In der Schweiz lief im Frühjahr 2009 die Vernehmlassung (-> 05.404) zur parlamentarischen Initiative "Verbot von sexuellen Verstümmelungen". Inzwischen sind die Stellungnahmen der angefragten Organisationen zum Teil öffentlich.
Soweit uns bekannt, kritiserten Terre des Femmes (TdF) und Amnesty Schweiz dabei, dass der vorliegende Gesetzesvorschlag Genitalverstümmelungen an Zwittern einmal mehr ignoriert. Nachtrag 1: Ebenso die Grünen Schweiz.
Dies kommt einer kleinen Revolution gleich und weckt Hoffnungen für die Zukunft – nämlich, dass diese und weitere Organisationen und Parteien die Ächtung der Menschenrechtsverletzungen an Zwittern irgendwann nicht nur in Einzelstatements kritisieren, sondern eine offizielle Position dazu erarbeiten werden. Material dazu gibt's ja zur Genüge ...
Während der Passus bei Terre des Femmes rundum gelungen ist und auch die Grünen klar für Selbstbestimmung argumentieren, hat's Amnesty zunächst einmal mehr nicht kapiert und verwechselt "Intersexualität" nach bekanntem LGBT-Muster mit "sexueller Identität". Schade!
Dass Terre des Femmes Schweiz sich so klar und eindeutig gegen "Zwangsoperationen von zwischengeschlechtlich Betroffenen ausspricht", kann aus Sicht der Zwitterbewegung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Entstand doch vor 13 Jahren die erste deutschsprachige Zwitter-Menschenrechtsgruppe, nämlich die "Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGP)", nicht zuletzt deshalb als eigenständige Organisation, weil die Betreffenden bei Terre des Femmes Deutschland mit ihrem Anliegen schmählich abblitzten. Im Februar 1998 schrieb der AGGPG-Mitbegründer Michel Reiter in einer Publikation über die Gemeinsamkeiten und Differenzen von IGM und FGM:
Terre des Femmes entzieht sich seit März 1996 einer Stellungnahme, intern wurde argumentiert, Betroffene hätten keine Kompetenz. Amnesty International, Sektion Deutschland, meinte im Oktober 1996, die AGGPG solle die Geschehnisse hinsichtlich einer Beurteilung als Folter stärker differenzieren und wünschte uns „alles Gute und viel Kraft auf einem äußerst schwierigen Weg“. Diese Reaktionen, sofern überhaupt Antworten erfolgen, wiederholen sich stereotyp.
Umso erfreulicher, dass Terre des Femmes Schweiz nunmehr so deutliche und treffende Worte findet. Dafür an alle Beteiligten ein herzliches Danke!
Nachfolgend der vollständige Abschnitt der Terre des Femmes-Stellungnahme zu "Intersexualität": >>> Ganze TdF-Stellungnahme (PDF)
Intersexualität
TERRE DES FEMMES Schweiz bedauert es, dass im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf die Chance verpasst wurde, Zwangsoperationen von zwischengeschlechtlich Betroffenen (in der Regel Kinder) mit in das Verbot der sexuellen Verstümmelungen mit einzubeziehen. TERRE DES FEMMES Schweiz fordert, dass geschlechtsangleichende Operationen allein mit dem Einverständnis der betroffenen zwischengeschlechtlichen Personen durchgeführt werden dürfen. Der intersexuellen Person steht es ebenfalls zu, gänzlich auf geschlechtsanpassende Operationen verzichten zu können. Vom Verbot ausgenommen sind nur Operationen, wenn das Leben einer betroffenen Person bedroht ist. In diesem Fall sind die Operationen auf den Bereich der medizinischen Indikation beschränkt und nur mit dem Einverständnis der Eltern erlaubt.
Verschiedene Ländersektionen von Amnesty International werden schon seit Jahren von Zwitterorganisationen um Unterstützung angegangen – auch von Zwischengeschlecht.org. Leider hat Amnesty International auch 2009 immer noch keine offizielle Position betreffend genitale Zwangsoperationen an Zwittern.
Umso grösser die Freude, dass sich Amnesty Schweiz in der Vernehmlassung zur Genitalverstümmelung für die Ächtung der genitalen Zwangsoperationen an Zwittern ausspricht. Dafür auch an Amnesty ein herzliches Danke!
Umso grösser dann leider beim genaueren Durchlesen die Enttäuschung, dass Amnesty Schweiz offensichtlich noch nicht einmal gemerkt hat, worum es bei den genitalen Zwangsoperationen geht: Nämlich um massive Verletzungen elementarer Grundrechte, namentlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper (und NICHT um "Verletzungen der sexuellen Identität" oder andere LGBT- oder Genderthemen). Ist es wirklich so schwer?
Die Amnesty-Stellungnahme liegt nur auf französisch vor und ist auf dem Netz noch nirgends veröffentlicht. Nachfolgend eine Übersetzung des Abschnitts, worin es um "Intersexualität" geht:
Schliesslich möchte Amnesty International die Gelegenheit wahrnehmen, um dem Bedauern darüber Ausdruck zu verleihen, dass im Zusammenhang mit dem behandelten Thema dasjenige der Genitalverstümmelungen an Intersexuellen (besser bekannt als Hermaphroditen) nicht angesprochen wurde. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die quasi systematisch und überwiegend an kleinen Kindern praktizierten chirurgischen Eingriffe – meistens durch Entfernung der äusseren männlichen Geschlechtsorgane – Verletzungen der sexuellen Identität dieser Menschen und somit eine klare Menschenrechtsverletzung darstellen. Amnesty International hätte somit gewünscht, dass dieser Tatbestand im Rahmen dieser Anpassung unserer Rechtsordnung ebenfalls behandelt worden wäre.
Nachtrag 2009: Auf Anfrage zeigten sich die verantwortlichen ExponentInnen des LGBT-Flügels von Amnesty Schweiz / "queeramnesty" leider absolut uneinsichtig: Die undankbaren Zwitter sollen gefälligst ruhig sein und sich demütig hinten anstellen, das "dritte Geschlecht" sei sowieso schon für Transgender reserviert, für Zwitter käme allenfalls ein eventuelles "viertes Geschlecht" in Frage ... Nachtrag 2010: Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden und Amnesty Schweiz hat an der Generalversammlung 2010 eine hervorragende Motion überwiesen, um Amnesty International endlich zu einer offiziellen Position zu bewegen betreffend der Menschenrechtsverletzungen an Zwittern. Dafür allen Beteiligten ein herzliches Danke!
Nachtrag 2: Auch die Grünen Schweiz setzten sich in ihrer >>> Vernehmlassungsantwort (PDF) in einem eigenen Abschnitt ebenfalls konkret ein für den Schutz von Zwitterkindern vor uneingewilligten "hormonellen und /oder chirurgischen Eingriffen" und für ihr Recht auf Selbstbestimmung:
Intersexualität
Unseres Erachtens muss in einem Gesetz zu sexuellen Verstümmelungen auch das Thema Intersexualität geregelt werden. Von Intersexualität betroffene Kinder und Jugendliche müssen geschützt werden vor hormonellen und /oder chirurgischen Eingriffen, die lediglich dem Zweck dienen, einem eindeutigem Geschlecht zugeordnet werden zu können. Sie sollen das Recht erhalten, bei Volljährigkeit selbst zu entscheiden, welchem Geschlecht (wenn überhaupt) sie angehören und gegebenenfalls eine geschlechtsangleichende Operation, welche die Funktionsfähigkeit der Genitalien bewahrt, vornehmen zu dürfen, wie dies heute bei transsexuellen Menschen möglich ist.
Damit sind die Grünen die allererste erste CH-Partei, die sich konkret politisch für Zwitter stark macht! Auch hier allen Beteiligten ein herzliches Danke! Erwachsene Zwitter, die eine Änderung des Geschlechtseintrags und/oder Operationen wollen, rechtlich mit Transsexuellen gleichzustellen, wäre allerdings beim gegenwärtigen Stand der Dinge (Zwang für Transsexuelle, sich selber als geistesgestört einzuordnen, Bedingung Entfernung innerer Geschlechtsorgane für Personenstandswechsel) allerdings definitiv nicht wünschenswert! Solange dieses rechtliche Problem andauert, muss vielmehr eine Möglichkeit entsprechend § 47 Personenstandsgesetz in Deutschland angestrebt werden. Dies zusätzlich auch, weil Zwitter in der Öffentlichkeit (und in der Politik) eh schon oft genug mit Transsexuellen "verwechselt" werden.
Nachtrag 3: >>> Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens (PDF) der Rechtskommission des Nationalrates mit einer Zusammenfassung aller Stellungnahmen. Der Abschnitt zu den Stellungnahmen betreffend Zwitter lautet (S. 17):
Es sei zu bedauern, dass die Frage der sexuellen Verstümmelung bei zwischengeschlechtlichen Personen in diesem Zusammenhang nicht angegangen worden sei (Grüne; Amnesty International, TDF).
Siehe auch:
-
Artikel auf humanrights.ch u.a zur Terre des Femmes-Stellungnahme
[Nachtrag 29. 8.09: Inzwischen wurde die Stellungnahme von
Amnesty ergänzt – leider völlig unkritisch und ohne den vereinnahmenden
Fehlgriff zu thematisieren.]
-
"Genitalverstümmelung ein afrikanisches Problem?"
-
Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher
Genitalverstümmelung (Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal")
-
Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2
(Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit)
-
Kosmetische Genitaloperationen an Kindern: Gesetzgeber gefordert
-
Amnesty International zum x-ten Mal zur Unterstützung aufgefordert
-
Bundestag: "Weibliche Genitalverstümmelung ahnden" - aber die Zwitter
verstümmelt nur ruhig weiter ...
-
Internationaler Tag gegen Mädchenbeschneidung (aber die Zwitter operiert nur
ruhig weiter, sind ja keine Frauen, äh, Menschen ...)
-
Bundesärztekammer gegen genitale "Zwangsoperationen" – natürlich nur bei
"Mädchen und Frauen" ...
-
Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung
-
Zwitter und Patriarchat aus feministischer Perspektive