Deutscher Ethikrat: Kein Handlungsbedarf bei Genitalverstümmelung an "Intersexuellen"?! (Forum Bioethik 23.6.10)

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Der Deutsche Ethikrat veröffentlichte heute eine
>>> Pressemitteilung 06/2010 über die Veranstaltung vom vergangenen Mittwoch in Berlin.

2 Sätze daraus springen sogleich ins Auge (meine Hervorhebungen):

Der Umgang mit der Intersexualität berührt eine Reihe medizin-, rechts- und sozialethischer Fragen, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Lucie Veith und Claudia Kreuzer benannten die Probleme, mit denen sich intersexuelle Menschen konfrontiert sehen, und forderten im Namen des Vereins Intersexuelle Menschen e. V., ein Verbot von nicht lebens- oder gesundheitsnotwendigen Eingriffen ohne die informierte Einwilligung der Betroffenen Menschen zu erlassen [...].

Hört, hört!

Dafür ein fettes Dankeschön! Ebenso dafür, dass der Ethikrat die Veranstaltung transparent dokumentieren und dazu nebst den Audiomitschnitten auch die Wortprotokolle öffentlich zugänglich machen will. (Nachtrag: letzteres allerdings auch bald ein halbes Jahr später noch nicht realisiert ...)

Leider war's das dann auch schon mit den guten Nachrichten:

Statt sich umfassend und für die Rechte künftiger Zwitterkinder stark zu machen, bedient der Ethikrat im Rest der Pressemitteilung durchgehend LGB(T)-Eigenbedarf-Diskurse und -Forderungen wie z.B. "festgelegte Geschlechtsnormen [...] hinterfragen", "Diskussion über die gesellschaftliche Akzeptanz [...] anstoßen", "Recht auf [...] sexuelle Identität" bzw. "die Politik soll etwas gegen Diskriminierung unternehmen" und "die Gesellschaft ändern".

Das eigentliche, ethische und menschenrechtliche Kernproblem beim "Thema Intersexualität", nämlich die (auch) in Deutschen Kliniken ungebrochen weiterpraktizierten Genitalverstümmelungen an Kindern, mag der Ethikrat dagegen in der ganzen Pressemitteilung nirgends beim Namen nennen. Noch nicht einmal das Faktum, dass es sich um chirurgische Eingriffe an Genitalien von Kleinkindern handelt, findet irgendwo Erwähnung.

Stattdessen verwendet der Deutsche Ethikrat durchgehend diskret verklausulierte Beschönigungen aus der TäterInnensprache wie "Geschlechtszuweisung", "medizinische Intervention", "geschlechtszuweisende Eingriffe" oder schlicht "medizinische[...] Versorgung".

Noch die plumpste Medizynerlüge darf nicht fehlen:

'Nun ja, früher mag es ja zwischendurch moglicherweise eventuell einmal "Probleme" gegeben haben – jetzt aber nicht mehr, heute ist längst alles wieder gut und überhaupt ganz anders!'

Durch die "zunehmende[...] Kritik an den früheren Behandlungsmaßstäben" sei nämlich "inzwischen auch die ethische Diskussion [...] konkreter und lebendiger geworden". Folglich kann es sich nur noch um kurze Zeit handeln, bis die versammelten ExpertInnen auch die letzte noch verbleibende "Frage, wie sich das Mitbestimmungsrecht minderjähriger Kinder konkret umsetzen lässt", erfolgreich gelöst haben. So dass in Deutschen Kinderchirurgien künftig Zwitterkinder nur noch 100% ethisch einwandfrei verstümmelt werden, worauf wir nun alle beruhigt nach Hause gehen können.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so operieren sie noch heute ...

Nicht ganz überrschend sieht der Deutsche Ethikrat im Anschluss an eine Plenarsitzung am Tag nach der Veranstaltung vorerst keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Immerhin will der Ethikrat aber "das Thema weiter beobachten und im Rahmen der Diskussion über das künftige Arbeitsprogramm darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang das Thema weiter bearbeitet werden soll."

Dieser Blog wird seinerseits den Ethikrat dabei im Auge behalten ...

>>> Anliegen von Zwischengeschlecht.org an den Deutschen Ethikrat 23.6.10
>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 22.6.10
>>>
"Ethik als Feigenblatt?" - Zwischengeschlecht.org am "Forum Bioethik" 23.6.10
>>> "Ethik als Freifahrtschein, an die Eltern eine ohnehin schon feststehende Entscheidung abzudelegieren" - Claudia Wiesemann, Forum Bioethik 23.6.10
>>> Veranstaltung des Ethikrates in Berlin 23.6.10 
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Siehe auch:
- Amnesty Deutschland: Zwangsoperationen "fundamentaler Verstoß gegen die Menschenrechte"
- Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher Genitalverstümmelung
- Chirurgische Genitalverstümmelungen: UNO mahnt Bundesregierung
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit) 
- Kosmetische Genitaloperationen an Kindern: Gesetzgeber gefordert
- "Netzwerk DSD/Intersexualität": Ethik-Empfehlungen als Feigenblatt für Zwangsoperateure