Genitalverstümmelungen an Zwittern gleich schädlich wie weibliche Genitalverstümmelung - Terre des Femmes, 2004

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Am 8. März 1996 gründeten Heike Bödeker und Michel Reiter die "Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG)" – die erste deutschsprachige Zwitter-Lobby-Organisation, die sich entschieden für die Beendigung der genitalen Zwangsoperationen an Zwittern einsetzte. Auslöser zur Gründung war die Weigerung der (Frauen-)Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes, die seit langem gegen weibliche Genitalverstümmelung kämpft, die Bekämpfung der Genitalverstümmelungen an Zwittern ebenfalls zu ihrer Sache zu machen. Michel Reiter monierte noch 1998: "Terre des Femmes entzieht sich seit März 1996 einer Stellungnahme, intern wurde argumentiert, Betroffene hätten keine Kompetenz."

2004 griff Terre des Femmes schliesslich das Thema offiziell wieder auf. In der Ausgabe 3/4 der TDF-Zeitschrift "Menschenrechte für die Frau" erschien auf den Seiten 23-26 ein Artikel von Dr. Marion Hulverscheidt, FGM-Spezialistin und langjähriges Mitglied der AG Genitalverstümmelung von TDF, unter dem Titel >>> "Weiblich gemacht? Genitalverstümmelung bei afrikanischen Frauen und bei Intersexuellen" (PDF).

Darin bezieht sich Marion Hulverscheidt ausserdem konkret auf die durch Forderungen von "Intersexuellen-Verbände[n]" ausgelöste "Diskussion innerhalb von TDF" zum Thema. Auf diesen Artikel verwies Terre des Femmes auch 2010 auf die erneute Anfrage der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org nach einer Stellungnahme zum Thema "Genitalverstümmelungen bei Zwittern".

Im Wesentlichen kommt der Artikel zu 2 Schlussfolgerungen:

  1. Genitalverstümmelungen an Zwittern sind als körperlich vergleichbar schädlich einzustufen wie Genitalverstümmelungen an Frauen; Zwitter leiden ausserdem im Vergleich noch an zusätzlichen seelischen (Folge-)Schäden
     
  2. Terre des Femmes wird sich trotzdem nicht konkret gegen Genitalverstümmelungen an Zwittern engagieren, da sie sich explizit als Frauenorganisation definiert und ihr Aktionsfeld auch aus Kapazitätsgründen auf reine Frauenanliegen beschränkt

Zu Punkt 1. führt der Artikel abschliessend aus (S. 26):

Wie sieht es bei den chirurgisch korrigierten Intersexuellen aus? Sie leiden auch an den Operationen und Eingriffen. Jedoch: Betroffenenberichten zufolge wird das Leiden verstärkt und potenziert durch das Verschweigen dessen, was getan wurde und wird, und warum. Die Tabuisierung traumatisiert. Das Hauptproblem der Intersexuellen ist, dass sie sich allein fühlen und auch allein gelassen sind. Diese Menschen sind Einzelfälle. [...] Das Leiden wird verstärkt durch das Verschweigen.
Haben FGM und Intersex also die gleiche Wirkung? Rein somatisch betrachtet ja, dafür stehen wiederholte körperliche Eingriffe, chronische Beschwerden etc. Dies ist bei beiden gleich. [...]

Kommentar zu Punkt 1.: Dieses laut der AG Genitalverstümmelung von Terre des Femmes nach wie vor aktuelle Statement ist für den Kampf der Zwitterbewegung um die Beendigung der genitalen Zwangsoperationen von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da Terre des Femmes darin klarstellt, dass es sich bei den Übergriffen der Medizyner klar um in ihren körperlichen Wirkungen vergleichbare Verstümmelungen und Schädigungen handelt, wozu bei den Zwittern noch das systematische Belügen durch ihre PeinigerInnen kommt.

Kommt noch dazu, dass Terre des Femmes sich als Reaktion auf den Aufruf zur Solidarität der Meschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org bereit erklärte, zur kommenden Bundestagsdebatte zum Gesetzesentwurf gegen die weibliche Genitalverstümmelung explizit noch einmal auf diese Fakten hinzuweisen (entsprechend der hervorragenden Erklärung, die Terre des Femmes Schweiz unlängst zur Debatte des schweizerischen Gesetzesentwurfs gegen weibliche Genitalverstümmelung abgab). Ganz herzliches Dankeschön und weiter so!

(Der zusätzlich von Marion Hulverscheidt angeführte Aspekt, dass bei der weiblichen Genitalverstümmelung "eine Gesellschaft von Traumatisierten erzeugt" werde – "Mütter und Großmütter tun ihren Kindern das an, was sie selbst erlitten haben" –, während "[b]ei Intersexuellen [...] das Trauma für die Eltern nicht nachvollziehbar" sei, lässt allerdings alle Fälle ausser Acht, bei denen innerhalb von Familien mit "AIS" der medizinische Terror ebenfalls generationenübergreifend und unter Mithilfe von Verwandten über Kinder gebracht wird, sowie alle diejenigen Mütter mit "AGS/CAH", die ihren "Töchtern" haargenau dasselbe antun (lassen), was sie schon selbst erleiden mussten.)

Zum 2. Punkt fasst Marion Hulverscheidt zusammen, was von Terre des Femmes auch 2010 nochmals als offizielle Position bekräftigt wurde (S. 26):

Am Schluss möchte ich auf die Frage antworten, die ich zu Beginn gestellt habe: Ist es die Aufgabe von TERRE DES FEMMES, sich für die Intersexuellen einzusetzen? Meine Antwort lautet: Nein. TERRE DES FEMMES ist eine Frauenrechtsorganisation. Wir kümmern uns um häusliche Gewalt, um Arbeitsbedingungen von Textilarbeiterinnen, um Zwangsprostitution, um die Situation von Frauen im Islam, und um die Unterstützung der Organisationen, die gegen FGM vor Ort arbeiten. Wir machen Aufklärungsarbeit in Deutschland und zeigen auf, wo FGM hier in Deutschland eine Rolle spielt, beispielsweise im Asylverfahren,wenn es um die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe geht. Im Internet gibt es mittlerweile viele Informationen über Intersexualität und es gibt Gruppen und diverse Kontaktmöglichkeiten. Die Intersexuellen haben ihre Lobbyarbeit selbst in die Hand genommen.

Kommentar zu Punkt 2.: Es ist legitim, dass sich Organisationen nicht zuletzt aus Kapazitätsgründen auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, um dort die bestmögliche Arbeit leisten zu können. Alle erfolgreichen Lobbygruppen funktionieren nach diesem Prinzip. Etwas anderes zu behaupten, wirkt selten glaubwürdig.

(Der Verein Intersexuelle Menschen e.V. ist aktuell die einzige mir bekannte Lobbygruppe, die ständig öffentlich beteuert, zuerst die "Menschenrechte aller Menschen" durchsetzen zu wollen, und erst anschliessend die der eigenen Klientel.)

Somit ist es klar das Recht von Terre des Femmes, sich auf Menschenrechtsverletzungen an Frauen beschränken zu wollen, und es steht der Organisation gut an, dass sie dies standhaft und ehrlich tut.

(Dass es so lange dauerte, bis dies öffentlich kommuniziert wurde, und dass Marion Hulverscheidt obenrein noch den Anschein zu erwecken versucht, Lobbyarbeit für Zwitter sei inzwischen ja gut abgedeckt und die Hilfe von Terre des Femmes somit sozusagen gar nicht mehr nötig, ist m.E. rückblickend allerdings nicht gerade ein Ruhmesblatt. Ebenfalls m.E. zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen ist, dass Terre des Femmes gar nicht erst darauf eingeht, dass die Medizyner selber dauernd von Operationen an "Mädchen" reden, und die häufigste "Syndromgruppe" heute noch im Verstümmelungs-Dachverband "Netzwerk DSD/Intersexualität" als "AGS-Mädchen" bezeichnet werden, sowie, dass auch sonst sehr viele Zwitter von den Medizynern offiziell als "Mädchen" betrachtet und entsprechend 'zurechtgestutzt' werden, weil dies chirurgisch einfacher ist.)

Trotzdem sollte ab und zu auch ein Blick über den eigenen Gartenzaun hinaus möglich sein, sowie im Rahmen des Möglichen auch etwas solidarische Unterstützung. In diesem Sinne ist die aktuelle Absichtserklärung von Terre des Femmes, im Rahmen der kommenden Bundestagsdebatte am Rande auch auf den ähnlich gelagerten Kampf der Zwitter sowie auf deren eigene Organsiationen zu verweisen, begrüssenswert und höchst willkommen. Fortsetzung folgt ...

>>> "Weiblich gemacht? Genitalverstümmelung bei afrikanischen Frauen und bei Intersexuellen" (PDF)

Siehe auch:
- Genitalverstümmelungen an Zwittern: Aufruf zur Solidarität
- Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit)
- Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher Genitalverstümmelung (Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal")
- Schweiz: Terre des Femmes, Amnesty und Grüne gegen Zwangsoperationen an Zwittern
- "Die Macht der Tabus" - Konstanze Plett über Genitalverstümmelung, amnesty journal 03/08
- Bundesregierung und Ethikrat: Genitalverstümmelungen an Zwitterkindern in Diskussion mit aufnehmen und handeln - Marion Böker
- "Genitalverstümmelung ein afrikanisches Problem?" 
- Genf: UNO mahnt Bundesregierung 
- Bundestag: "Weibliche Genitalverstümmelung ahnden" - aber die Zwitter verstümmelt nur ruhig weiter ... 
- Internationaler Tag gegen Mädchenbeschneidung (aber die Zwitter operiert nur ruhig weiter, sind ja keine Frauen, äh, Menschen ...)
- Bundesärztekammer gegen genitale "Zwangsoperationen" – natürlich nur bei "Mädchen und Frauen" ...  
- Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung 
- Zwitter und Patriarchat aus feministischer Perspektive