D > Neue Intersex-Leitlinie: Änderungen nur dank "massiver Anklagen von Betroffenen in der Öffentlichkeit" (Prof. Susanne Krege auf rbb)
By seelenlos on Sunday, May 25 2014, 16:13 - Die Mediziner - Permalink
Aachen, 30.05.2011: Protest + Offener Brief gegen "Ethik"-Vortrag von Susanne Krege (Pfeil)
Schon in der kürzlichen >>> Pressemitteilung zur geplanten neuen AWMF-Leitlinie 174/001 "Störungen der Geschlechtsentwicklung" (Leitung: Prof. Dr. Susanne Krege, Krefeld, DGU; Prof. Dr. Felicitas Eckoldt, Jena, Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie DGKCH; PD Dr. Annette Richter-Unruh, Bochum, Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie DGKED) hatte Sprecherin Susanne Krege (nicht zum 1. Mal) öffentlich festgehalten: "Massive Proteste von Betroffenen gegen eine einst übliche frühzeitige Geschlechtsfestlegung auf dem OP-Tisch haben zu diesem Umdenken beigetragen."
In einem Interview auf rbb-Kulturradio vom 16.05.2014 09:10h unter dem Titel "Urologen für Toleranz gegenüber Intersexualität" (>>> Programmhinweis | >>> Download mp3 5.63 MB | >>> Vollständiges Transkript siehe unten) legte Krege nach (meine Hervorhebung):
Susanne Krege: "Ich möchte vielleicht eines klarstellen [...], also letztendlich ist die Diskussion von den Betroffenen selber ausgegangen, die vor einigen Jahren massiv in die Öffentlichkeit gegangen sind und angeklagt haben, wie ihre Verläufe waren. Und dann sind alle ein bisschen wach geworden, eben auch die beteiligten medizinischen Fachgesellschaften [...]."
Dies allen Intersex-Organisationen ins Stammbuch, die auch 2014 immer noch glauben, politische und gesellschaftliche Änderungen seien das Ergebnis von Kaffekränzchen-Mauscheleien und Hintertreppen-Geheimdiplomatie mit den GenitalverstümmlerInnen und den sie deckenden PolitikerInnen, AkademikerInnen und sonstigen MittäterInnen.
Statt von der Geschichte zu lernen durch einen Blick auf erfolgreiche gewaltfreie soziale Bewegungen (englisch PDF), z.B. auf die Frauenbefreiungsbewegung, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, oder z.T. die Abolitions-Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei:
"Die ganze Geschichte des Fortschritts menschlicher Freiheit zeigt, dass alle Zugeständnisse, die ihren hehren Forderungen bisher gemacht wurden, aus dem Kampfe geboren sind ... Ohne Kampf gibt es keinen Fortschritt. [...] Der Kampf mag ein moralischer sein [...], aber ein Kampf muss stattfinden. Macht gewährt keine Zugeständnisse ohne Forderungen. Sie hat es nie getan und wird es nie tun ..."
Frederick Douglass, ehemaliger Sklave und Abolitionist, 1857
>>> ganzes Zitat
Weiter konkretisierte Krege in der rbb-Sendung zum ersten Mal, ab welchem Alter kosmetische Genitaloperationen an Kindern "kurz vor oder zu Beginn der Pubertät" neu "legitim" sein sollen, nämlich "mit Zwölf oder Dreizehn". Weshalb dies immer noch klar illegal und menschenrechtswidrig ist, siehe Kritik hier.
Einige weitere unter GenitalabschneiderInnen & Co. beliebte Mythen, Märchen und weitere Ausflüchte im Interview:
- Die (aus einer Menschenrechtsperspektive leicht durchschaubare) chronische Fixiertheit auf "(un)eindeutiges Geschlecht", typischerweise in Verbindung mit
- dem altbekannten Medizynermärchen von angeblich gaaanz seltenen "wirklich uneindeutigen" Neugeborenen ("nur bei einer Geburt von 10'000"), sowie weiter in Verbindung mit
- dem (nicht nur) unter VerstümmlerInnen ebenso populären Märchen von der angeblichen "neuen Option zum Offenlassen des Geschlechtseintrags in Deutschland" ("also es ist festgelegt, dass man es nicht mehr innerhalb der ersten vierzehn Tage eintragen muss").
- Das typische tatsachenwidrige Abstellen auf den Vorzeige-Fetisch-Sündenbock John Money ("Und es gab 1960 einen Vertreter, Money, der halt gesagt hat [...]")
- Der vielsagende Versprecher zur angeblichen Berücksichtigung von Betroffenen-Organisationen ("An dieser Leitlinie werden auch die Selbsthilfegruppen mitarbeiten – oder sie arbeiten schon mit, und ähm, so ist dieser Prozess entstanden.") Nun ist's ja unbestritten ein begrüßenswerter Fortschritt, wenn statt wie bisher lediglich 2 Eltern-Organisiationen (AGS-Eltern- und Patienteninitiative und XY-Frauen-Elterngruppe) neu auch noch Intersexuelle Menschen e.V. (IMeV) mit an Bord ist. Ob dadurch in der neuen D$D-Verstümmler-Leitlinie zumindest erstmals offiziell die "Minderheitsmeinung" verankert wird, alle Formen von IGM seien als Menschenrechtsverletzung unverzüglich einzustellen, wird sich zeigen. Zwischengeschlecht.org erhielt bisher von den Leitlinienverantwortlichen nie eine konkrete Rückmeldung – wohl nicht zuletzt, weil wir die bestehenden Leitlinien seit Jahren öffentlich, in den Medien und bei den MedizynerInnen direkt konkret und unmissverständlich kritisieren, ebenso in unseren Offenen Briefen an die betreffenden Deutschen MedizynerInnen-Standesorgansiationen (z.B. DGKJ/DGKCH 2010, DGKJ/DGKCH 2012, DGE 2011, DGE 2012, DGKED 2010, DGKED 2011, DGU 2012).
Das vollständige Transkript der Sendung von Nella findet ihr nach dem Break!
Siehe auch:
- Leitlinien-Interview mit Susanne Krege im Spiegel 22/2014
- Vortrag Leitlinienverantwortliche F. Eckoldt 13.09.2014: "AGS möglichst früh operieren"
Intersex Genital Mutilations
Human Rights Violations Of Children With Variations Of Sex Anatomy
2014 NGO Report to the UN Committee on the Rights of the Child (CRC)
>>> Download PDF (3.65 MB) >>> Table of Contents
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGMs): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGMs – eine Genealogie der TäterInnen
Transkript
Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb, Kulturradio am Vormittag, Fr 16.05.2014, 09:10 h
"Urologen für Toleranz gegenüber Intersexualität"
>>> Programmhinweis | >>> Download mp3 5.63 MB
Frank Meyer: Junge oder Mädchen? Das ist natürlich die klassische Frage, wenn ein Kind kommt. Einige Kinder sind aber bei ihrer Geburt weder ein Junge noch ein Mädchen. Oft passiert das nicht, nur bei einer Geburt von 10'000, aber es kommt vor, das ein Kind keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale hat. Bisher wurden diese Kinder fast immer möglichst rasch operiert, damit sie ein eindeutiges Geschlecht bekommen. Die Deutsche Gesellschaft für Urologie hat nun neue ärztliche Leitlinien initiiert, und sie fordert in diesen Leitlinien, dieses rasches Operieren sein zu lassen, und den intersexuellen Kindern mehr Zeit zu geben, damit sie sich selbst für ihr Geschlecht entscheiden können. Wir haben jetzt am Telefon die Professorin Susanne Krege. Sie leitet die Klinik für Urologie in Krefeld. Sie setzt sich sehr für dieses Umdenken ein. Seien Sie herzlich willkommen, Frau Krege.
Susanne Krege: Ja, guten Morgen.
Frank Meyer: Wieso hat man denn bisher die Kinder so schnell operiert?
Susanne Krege: Ja, es gibt natürlich bislang in unserer Gesellschaft das tradierte Menschenbild von zwei Geschlechtern, und davon sind wir alle geprägt, natürlich auch Eltern, für die es erst einmal ein Schock ist bei der Geburt eines Kindes, wenn ihnen gesagt wird, dass das Geschlecht nicht eindeutig sei, und letztendlich auch die Ärzte, die ja sozusagen die ersten Ansprechpartner der Eltern sind. Und es gab 1960 einen Vertreter, Money, der halt gesagt hat, dass ein eindeutiges Geschlecht, und sei es, dass man halt es operativ erreicht, und eine entsprechende Erziehung in einem Geschlecht letztendlich auch zu einer stabilen Geschlechtsidentität und einem entsprechenden Rollenverhalten im weiteren führen würde. Mit dieser Theorie hat man aber genetische und insbesondere auch hormonelle Aspekte vernachlässigt, die sich letztendlich dann doch im weiteren in der Entwicklung dieser Betroffenen auswirken. Und insofern hat sich da jetzt einiges geändert.
Frank Meyer: Eine ganz wichtige Änderung hat ja der Gesetzgeber in Deutschland vorgenommen. Es war vorher so, dass man innerhalb der ersten vierzehn Tage festlegen musste, im Geburtsregister eintragen musste, welches Geschlecht hat dieses neue Wesen, das da auf die Welt gekommen ist. Das wurde im Jahr 2013 geändert. Wie ist das eigentlich jetzt, bis wann muss man sich jetzt entscheiden, welches Geschlecht ein Kind oder ein Jugendlicher hat?
Susanne Krege: Es ist von der Gesetzeslage noch nicht ganz festgelegt, also es ist festgelegt, dass man es nicht mehr innerhalb der ersten vierzehn Tage eintragen muss, aber bis zur Volljährigkeit sollten die Betroffenen dann einen Eintrag vornehmen lassen. Und ob das nun letztendlich sein wird männlich oder weiblich, das sei dahingestellt. Ich denke, da ist noch ein Prozess im Gange. Wir müssen schauen, wie da die Weiterentwicklung sein wird.
Frank Meyer: Sie fordern nun, dass ein junger Mensch Zeit bekommen sollte, sich selbst zu entscheiden bis zum Beginn der Pubertät, also mit Zwölf oder Dreizehn. Meinen Sie, das ist tatsächlich ein guter Zeitpunkt für einen jungen Menschen, sich zu entscheiden: ich will ein Mädchen sein, ich will ein Junge sein?
Susanne Krege: Ich möchte vielleicht eines klarstellen, Sie haben das eben schon gesagt, dass die Deutsche Gesellschaft für Urologie das fordert, also letztendlich ist die Diskussion von den Betroffenen selber ausgegangen, die vor einigen Jahren massiv in die Öffentlichkeit gegangen sind und angeklagt haben, wie ihre Verläufe waren. Und dann sind alle ein bisschen wach geworden, eben auch die beteiligten medizinischen Fachgesellschaften, und wir haben uns intensiv in den letzten Jahren mit dieser Thematik auseinandergesetzt. An dieser Leitlinie werden auch die Selbsthilfegruppen mitarbeiten – oder sie arbeiten schon mit, und ähm, so ist dieser Prozess entstanden. Ich denke, wenn man die Verläufe der Betroffenen hört, muss man ganz ehrlich sagen, das ist eine solche Entscheidung, welchem Geschlecht man angehören möchte, wie man sich identifiziert, dass das schon verständlich ist, dass das nicht über die Köpfe der Betroffenen erfolgen kann. Und es gibt da ein paar interessante Untersuchungen, die zeigen, dass selbst in Fällen, wo wir als Mediziner jetzt denken würden, diese Person kann hinterher als Mann nicht glücklich sein, weil zum Beispiel kein ausreichendes Peniswachstum stattfinden kann, ähm, sich dann doch bei den Betroffenen ganz anders entwickeln. Also, es gibt ganz viele Entwicklungsformen, die man nicht vorhersagen kann, und insofern stimmen wir im Grossteil der Fälle zu, dass man diese Operationen nicht mehr im Kleinkindesalter durchführen soll.
Frank Meyer: Wobei andererseits, wenn man sich vorstellt, dass ein junger Mensch gross wird bis zum Lebensjahr zwölf, dreizehn ungefähr, ohne ein eindeutiges Geschlecht, das ist doch auch schwierig, weil ja auch unter Kindern die Frage: bist du ein Junge oder bist du ein Mädchen, eine ganz wesentliche Frage ist?
Susanne Krege: Das ist völlig richtig, also, diese Problematik sehen wir natürlich auch. Dazu bedarf es einer wirklich intensiven Betreuung der Betroffenen, nicht nur jetzt von, sagen wir mal, Endokrinologen und operativ tätigen Leuten, sondern insbesondere gleich von Anfang an auch von Psychologen und Sozialarbeitern. Am Anfang sind es in erster Linie die Eltern, die betreut werden müssen, aber dann mit der zunehmenden Entwicklung des Kindes, wo das Kind ja auch über die, äh, ja, Veränderung aufgeklärt werden muss - ich will jetzt nicht unbedingt von Erkrankung sprechen, ähm, da ist die psychologische Begleitung ganz, ganz wichtig. Das haben wir auch integriert in die Leitlinie, dass eine interdisziplinäre Betreuung solcher Betroffenen stattfinden muss. Und das zweite ist natürlich, dass sich die Gesellschaft auch öffnen muss, wobei ich denke, dass durch die vielen Diskussionen, es war ja jetzt nicht nur die Intersexualität, sondern auch die Transsexualität in den letzten zehn Jahren, da doch ein deutlicher Wandel stattgefunden hat. Und ich denke, ich bring immer gerne dieses Beispiel, auf welche Toilette soll denn ein Kind in der Schule gehen,
Frank Meyer: Mmh.
Susanne Krege: ähm, das wird sich lösen lassen, solche Dinge. Also, es wird Probleme noch geben, aber ich sehe eine zunehmende Entwicklung auch in der Gesellschaft, dass sie toleranter wird.
Frank Meyer: Gebt intersexuellen Kindern Zeit, sich für ihr Geschlecht zu entscheiden. Das fordert die Deutsche Gesellschaft für Urologie in den Leitlinien, die sie initiiert hat. Wir haben mit Susanne Krege gesprochen, Fachärztin für Urologie in Krefeld. Frau Krege, ganz herzlichen Dank.
Susanne Krege: Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.
Frank Meyer: Wiederhören.
Siehe auch:
- Leitlinien-Interview mit Susanne Krege im Spiegel 22/2014
- Vortrag Leitlinienverantwortliche F. Eckoldt 13.09.2014: "AGS möglichst früh operieren"
Intersex Genital Mutilations
Human Rights Violations Of Children With Variations Of Sex Anatomy
2014 NGO Report to the UN Committee on the Rights of the Child (CRC)
>>> Download PDF (3.65 MB) >>> Table of Contents
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGMs): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGMs – eine Genealogie der TäterInnen