Saturday, July 7 2012

"Eine riesige Befreiung" - Interview mit Daniela "Nella" Truffer, an.schläge 05/2012

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"Es war eine riesige Befreiung, mich nicht mehr verstecken zu müssen,
aber man bezahlt auch einen Preis dafür"

1. Zwitterdemo vor dem Kinderspital Zürich, 06.07.2008
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Menschenrechte auch für Zwitter!

Die Mai-Ausgabe des feministischen Magazins "an.schläge" aus Österreich hatte als Monatsthema "Intersex" inkl. mehreren Beiträgen und Interviews ( siehe Hinweis auf diesem Blog).

Online erhältlich auf an.schlaege.at ist bisher der Artikel "1-0-1 Intersex" von Bettina Enzenhofer und Julia Mac Gowan mit einigem an Klartext.

Dieser Blog dokumentiert im Folgenden das Interview mit Daniela "Nella" Truffer:

Eine riesige Befreiung“

Daniela Truffer gründete 2007 die Menschenrechtsgruppe „Zwischengeschlecht.org“. Julia Mac Gowan und Bettina Enzenhofer erzählte sie von dem Weg dorthin.

a.schläge: Welche Herausforderungen erleben Sie durch Ihre Intersexualität? Wie wirkt sich Ihre Diagnose auf Ihr Leben aus?

Daniela Truffer: Ich wurde mit zweieinhalb Monaten kastriert, obwohl ich einen schweren Herzfehler und eine geringe Überlebenschance hatte. Mit sieben Jahren wurde mein uneindeutiges Genital operativ verkleinert. Ab Zwölf musste ich weibliche Hormone nehmen. Mit 18 wurde eine Scheide gebaut, wo vorher keine war. Die Folgen dieser kosmetischen, medizinisch nicht notwendigen Eingriffe: störende Narben, wiederkehrende Schmerzen im Genitalbereich, durch die Kastration und die Einnahme körperfremder Hormone habe ich Stoffwechselprobleme und eine verringerte Knochendichte. Ich wurde immer angelogen, konnte mit niemandem reden, schämte mich furchtbar. Um überleben zu können, musste ich so tun, als würde das alles gar nicht passieren. Dank einer zehnjährigen Psychoanalyse konnte ich vieles aufarbeiten, leide jedoch immer noch an den Folgen dieser menschenrechtswidrigen Praxis. Die Herausforderung besteht darin, trotz der psychischen und physischen Schäden weiterzuleben.

Was war Ihre Motivation, sich über Zwischengeschlecht.org zu organisieren? Und welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Als ich 2000 mit 35 Jahren via Internet andere Betroffene kennenlernte, war das wie eine Offenbarung, ich war nicht mehr allein! Ich ging zu einem ersten Selbsthilfe-Treffen in Deutschland und gründete bald darauf in der Schweiz eine Selbsthilfegruppe und die Plattform „intersex.ch“. Der Kontakt zu anderen Betroffenen half mir, dieses massive Unrecht, das wir alle erlebt haben, greifbar zu machen. Ich lernte auch andere Eltern kennen und erfuhr, dass immer noch operiert wird. Ich konnte nicht mehr so weiterleben, als ginge mich das nichts an.

2002 gab ich die ersten Interviews, zuerst anonym. Fünf Jahre später lernte ich meinen Freund und Mitstreiter Markus Bauer kennen, der viel Erfahrung mit Medien und Öffentlichkeitsarbeit hat. Als Christiane Völling uns darüber informierte, dass sie ihren ehemaligen Verstümmler anzeigen würde, wurde das Gefühl konkret, etwas bewirken zu können. Im September 2007 gründeten wir den Weblog „Zwischengeschlecht.info“, im Dezember organisierten wir die erste Zwitterdemo für Christiane Völling [1] vor dem Landgericht Köln.

Welche Konsequenzen hat es für Sie, als intersexuell „geouteter“ Mensch in der Öffentlichkeit zu stehen?

Die erste Zwitterdemo kam in der Schweizer Nachrichtensendung „Rundschau“ – plötzlich war ich im Fernsehen, Daniela Truffer, der Zwitter! Mein Umfeld war sehr betroffen und überrascht, die meisten kannten mich schon seit Jahrzehnten, wussten aber nichts von meinem „Geheimnis“. Die Reaktionen waren durchwegs positiv, viele fanden es mutig. Für meine Eltern war es nicht einfach, aber heute ist unsere Beziehung viel besser als früher. Einzig mein damaliger Arbeitgeber versuchte, mir weitere Medienauftritte zu verbieten. Als ich mich weigerte, wurde ich ein Jahr später wegrationalisiert.

Es war eine riesige Befreiung, mich nicht mehr verstecken zu müssen, aber man bezahlt auch einen Preis dafür. Irgendwie bin ich da hineingerutscht, mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand, denn ich wollte Zeugnis ablegen, wo die meisten schweigen. Ich wollte, dass die Gesellschaft erfährt, was mit Zwittern gemacht wird. Aber den Fluch des von den Medizinern auferlegten Schweigegebotes wird man nie ganz los. Auch einige Mitzwitter haben ihre liebe Mühe damit, dass ich öffentlich Klartext rede. Von meinen Freunden und Verwandten hat sich niemand von mir abgewandt, im Gegenteil: Die meisten Beziehungen sind durch meine Offenheit intensiver geworden. Einige können jedoch nicht verstehen, dass ich plötzlich eine Aktivistin bin und meine ganze Energie dafür brauche anstatt mehr auf mich zu schauen.

Welche persönlichen und politischen Forderungen stellen Sie?

Keine kosmetischen Operationen an Kindern und Jugendlichen, jeder soll selber entscheiden können. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung muss auch für Zwitter gelten. Gefordert sind Politik, Staat und Gesetzgeber. Dafür kämpfe ich seit Jahren, ein Kampf, der öffentlich und politisch geführt werden muss, wenn man wirklich etwas erreichen will. Die meisten Mediziner sind leider uneinsichtig und machen einfach weiter, weshalb ich für ein Verbot von solchen Operationen kämpfe.

Was mich neben der Uneinsichtigkeit der Mediziner belastet und fertigmacht, ist, wie Zwitter von Gruppierungen politisch vereinnahmt werden, die das sogenannte Zweigeschlechtersystem kritisieren. Es schmerzt mich, dass ich verstümmelt und angelogen wurde, und nun kommen die Kritiker dieses Systems und missbrauchen mich erneut, um ihre eigenen politischen Anliegen durchzusetzen.

Ebenso schmerzt mich, wenn Zwitter, die selbst das Glück hatten, den Genitalverstümmelungen im Kindesalter zu entgehen, öffentlich im Namen aller Zwitter reden, ohne die Verstümmelungen an Kindern angemessen anzusprechen und sich der Tragweite dieser Ausgrenzung offenbar nicht bewusst sind.

[1] Christiane Völling verklagte ihren ehemaligen Chirurgen wegen Körperverletzung auf Schadenersatz. Das Schmerzensgeld wurde ihr zugesprochen. 2010 wurde ihr Buch „Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle“ veröffentlicht.

>>> Zwitter-Genitalverstümmelungen: Diskriminierung oder Verbrechen? 
>>>
"Aufarbeitung tut not!" Klitorisamputationen u.a. "Genitalkorrekturen" an Kindern
>>> Chirurgische "Genitalkorrekturen" an Kindern: Typische Diagnosen und Eingriffe 

Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
  • IGM Überlebende – Danielas Geschichte
  • Historischer Überblick:
     "Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
  • Was ist Intersex?  • Was sind IGM-Praktiken?
  • IGM in Hannover  • Kritik von Betroffenen  • u.a.m.
>>> PDF-Download (5.53 MB)

Wednesday, March 28 2012

"Aus dem Sexleben eines im Kindesalter genitalverstümmelten und kastrierten Zwitters" - megafon 368, April 2012

>>> Friedlicher Protest + Offener Brief Inselspital Bern, 16.08.2009 (Bild: Ärger)

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1) Zur aktuellen megafon-Ausgabe mit dem Schwerpunktthema "Sex" war Daniela "Nella" Truffer von der Redaktion um einen Beitrag angefragt worden. Sie hatte zugesagt unter der Voraussetzung, dabei kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Nachfolgend ihr druckfrischer Text (Megafon 368, S. 14-15):

Aus dem Sexleben eines Zwitters
Im Kindersalter genitalverstümmelt und kastriert

Als ich mit etwa Siebzehn begann, mich selber zu befriedigen, war das ein riesiges Triumphgefühl. Ich spürte etwas und ich war die einzige, die es wusste! Bisher gehörte das, was ich da zwischen den Beinen hatte, nicht mir, sondern den Medizynern. Ich wusste, dass man da was spüren sollte, aber offenbar hatte ich nicht erwartet, dass ich noch etwas spüren würde. Erst mit über Vierzig las ich in meiner Krankenakte von der massiven Genitaloperation mit Sieben, die ich verdrängt hatte. Ich leide bis heute an den Folgen dieser menschenverachtenden Praxis.

Ich bin mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Ich habe einen männlichen Chromosomensatz und hatte bei der Geburt Hoden im Bauchraum. Mein Genital sah "uneindeutig" aus. Die Medizyner stritten sich, ob es eine vergrösserte Klitoris sei oder ein Mikropenis mit Hypospadie (das heisst mit dem Harnröhrenausgang nicht an der Penisspitze, sondern unterhalb, in meinem Fall ganz unten wie bei einem Mädchen). Darunter je nach Sichtweise ein gespaltener Hodensack oder teilweise zusammengewachsene grosse Schamlippen.

Ich wurde als Säugling im Alter von zweieinhalb Monaten kastriert, man hat meinen Bauch aufgeschnitten und meine gesunden Hoden in den Mülleimer geworfen. Aus meiner Krankenakte: Professor B., der "vor der Castratio anwesend war, glaubt[e] […] retrospektiv doch, dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf diesem Wege fortgefahren werden muss und aus dem kleinen Patienten ein Mädchen gemacht werden muss."

Wegen der Kastration wuchsen meine Knochen in der Kindheit viel langsamer. Als ich sieben Jahre alt war, wurde mein Mikropenis operativ zu einem "unauffälligen" weiblichen Genital operiert. Im Alter von achtzehn Jahren wurde eine künstliche Scheide geschaffen.

Sex mit abgeschnittenem Lustorgan

Aber ich hatte trotz allem Glück im Unglück, im Gegensatz zu vielen anderen, die ich kenne, die gar nichts mehr spüren, weil ihnen ihr Lustorgan ganz einfach amputiert wurde. Oder die eine künstliche Scheidenöffnung haben, die nie wieder richtig verheilt. Andere haben bei sexueller Erregung starke Schmerzen oder fühlen nur noch eine Art Druck.

Mein Mikropenis wurde nicht ganz abgeschnitten, wie ich später erfuhr, sondern "nur" in mich hineingestopft: Der Penisschaft wurde auseinandergesäbelt, ein Grossteil weggeschnitten, die Eichel belassen und "versenkt", dann wurden die übrigen Penisschaftstreifen um die Eichel gelegt und alles vernäht, worauf ich nun eine "sehr kleine Klitoris" habe.

Nach der Operation hatte ich einen Schock und Blutergüsse am Genital. Ich lag eine Woche im Krankenhaus, jede Nacht wurden meine Hände angebunden. Ich danke Gott, dass ich überhaupt noch etwas spüre und einen Orgasmus haben kann. Auch wenn Lust oft auch mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist: da mein Genital in mich hineingestopft und vernäht wurde, ist da auch immer ein Gefühl von Druck und Blockiertheit. Da kommt mir immer diese Käsewerbung in den Sinn: der Kleine, der raus will. Auch sonst habe ich immer wieder Schmerzen, ein plötzliches Zucken wie von einem Stromschlag, stechende, ziehende und pulsierende Schmerzen.

Mit achtzehn Jahren entschloss ich mich zu einer Scheidenoperation, die einzige Operation, die ich selber wollte. Aber was heisst schon wollen: gemäss Krankenakte hatte ich mit sieben Jahren auch der Genitalverkleinerung zugestimmt. Mir wurde von Anfang an vermittelt, dass ich "so" nicht richtig bin und keinen Freund haben könne. Die hatten mich mit Genitaloperationen und Hormonen zum Mädchen gemacht. Ich wollte nicht weiter auffallen, das letzte Teil dazu fehlte noch: eine Scheide, um mit einem Mann eine "normale" Beziehung haben zu können. Das ist die letzte Operation, danach seht ihr mich nie wieder, dachte ich.

Meine Scheide ist ein Konstrukt, wo vorher nichts war. Penetration kann schön sein, aber meine Scheide ist keine richtige Scheide, weder sonderlich dehnbar noch feucht, sondern ein künstlich gebauter Schlauch voller Narben. Wenn "er" zu lang ist, dann tut es weh, weil hinten geht's nicht mehr weiter wie bei einer "normalen" Frau. Meine Scheide wurde mit einem Hautlappen von meinem Gesäss ausgekleidet, damit die Öffnung nicht zusammenwächst. Wenn man dieses "Loch" nicht benutzt, dann zieht es sich zusammen. Ich war deshalb früher ziemlich auf Penetration fixiert, das musste sein, damit meine Scheide nicht schrumpft. Ob ich das wirklich wollte, ob das für meinen Partner auch immer sein musste, diese Fragen stellte ich mir nie. Die Angst war immer da, dass irgendwann eine neue Scheidenoperation notwendig sein würde. Ich wollte nie wieder am Genital operiert werden müssen.

Narben und Verletzungen

Heute habe ich keine Angst mehr davor, dass meine Scheide unwiederbringlich schrumpfen könnte. Ich fühle mich nicht mehr weniger wert, weil ich eine andere Sexualität habe. Sexualität hat mich immer interessiert, war für mich wichtig, Fantasien, Gedanken und Gefühle: die kann dir niemand nehmen und glücklicherweise spüre ich auch noch was zwischen den Beinen. Aber das Thema ist aufgrund meiner Geschichte belastet. Ich habe in letzter Zeit immer wieder Schmerzen in der "Scheide" und auch mein verkleinerter Penis schmerzt immer wieder mal. Irgendwelche hormonellen Veränderungen in einem Körper, der seines ursprünglichen Gleichgewichts beraubt wurde. Pfusch, der ganze Hormonhaushalt, der Stoffwechsel, alles durcheinander.

Wie den meisten Betroffenen, die ich kenne, geht es mir nicht um die Frage, ob ich mich in der zugewiesenen Rolle wohl fühle. Dass ich als Mädchen aufgezogen wurde, war für mich nicht das Problem, ich habe auch nicht das Bedürfnis, jetzt als Mann zu leben. Traumatisierend hingegen waren die Operationen, die Schmerzen, die Angst und die Lügen.

Bis heute werden 90% aller Betroffenen im Kindesalter meist mehrfach kosmetisch genitaloperiert. Die meisten "Intersexuellen", die ich kenne, haben keine Sexualität, wollen nicht berührt werden, haben Angst vor Beziehungen, sind schwer traumatisiert. Laut einer Studie von 2009 haben sie eine erhöhte Selbstmordneigung, vergleichbar mit Folteropfern und Opfern von sexualisierter Gewalt an Kindern.

Kampf um körperliche Unversehrtheit

In letzter Zeit denke ich immer wieder, dass es das Beste wäre, keine Sexualität mehr zu haben, asexuell zu sein. Mit diesem Körper "normalen" Sex zu haben ist doch eigentlich wie eine Komplizenschaft, wie eine Bestätigung dessen, was die für mich vorgesehen haben.

Seit viereinhalb Jahren kämpfe ich mit der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org gegen die Genitalverstümmelungen. Die tägliche Beschäftigung mit dem von den Medizynern verursachte Elend ist oft sehr belastend, verleidet mir die schönen Dinge im Leben, auch Sexualität. Auch die eigene Geschichte kommt immer wieder hoch und macht mich traurig. Aber dennoch bin ich heute stark, ich bin nicht mehr das wehrlose kleine Kind, niemand bestimmt mehr über meinen Körper. Dank einer zehnjährigen Analyse und auch dank meines Kampfes in der Öffentlichkeit habe ich einen inneren Frieden gefunden - und Gelassenheit. Trotzdem bleibt da immer eine grosser Trauer: Wie wäre ich, was würde ich fühlen, was wollen, wenn man mich nicht operiert hätte? Ich werde es nie erfahren. Ich bin ein Flickwerk, geschaffen von Medizynern, verletzt und vernarbt. Das einzige, was mir  bleibt, ist mit diesen Narben und Verletzungen weiterzuleben, nicht aufzugeben, mich selber neu zu erfinden. Auch im Bett.

Daniela "Nella" Truffer

>>> Genitalverstümmelungen im Inselspital Bern
>>> Video: "Gesetze für Zwitter gefordert" - Telebärn, 18.03.2010
>>>
"Geschlecht: Zwangsoperiert" - megafon 335, September 2009
>>> Megafon 255: Nellas allererstes Interview von 2002    

Sunday, December 18 2011

Daniela "Nella" Truffer: Redebeitrag zur Anhörung der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE), Bern 15.12.11

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>>> Schweiz: Anhörungen Nationale Ethikkommission (NEK-CEK) 2011-2012  

Daniela Truffer (Bild: NZZ Format, 10.03.2011)

Sehr geehrte Mitglieder der Nationalen Ethikkommission

Mein Name ist Daniela Truffer, ich bin Gründungsmitglied der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org. Ich möchte mich bedanken, dass ich hier im Namen der Betroffenen sprechen darf. Zahllose Betroffene setzen grosse Hoffnung in die Nationale Ethikkommission. Möge die aktuelle Anhörung dazu führen, dass endlich entscheidende Schritte unternommen werden für ein Leben in Unversehrtheit und Würde auch für Menschen mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen.

Ihrem Wunsch entsprechend möchte ich zunächst ein wenig von mir erzählen.

Ich bin 1965 mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Genitale geboren. Aufgrund meines Herzfehlers wurde ich ein paar Tage nach meiner Geburt notgetauft, da die Mediziner davon ausgingen, dass ich nicht lange überleben würde. Meine Eltern durften mich drei Monate nicht nach Hause nehmen. Mein Vater musste arbeiten, meine Mutter reiste so oft wie möglich aus dem weit entfernten Bergdorf in die Stadt, durfte mich jedoch nur durch eine Glasscheibe anschauen.

Wie die meisten Betroffenen habe ich Bruchstücke der Wahrheit über mein Schicksal erst nach Jahrzehnte langem Nichtwissen und Verdrängen aus meiner Krankenakte erfahren. Wie den meisten Betroffenen wurde auch mir vom zuständigen Spital auf Anfrage zunächst beteuert, es seien keine Akten mehr vorhanden. Erst nach weiterem Insistieren waren dann plötzlich doch noch da vorhanden und ich erhielt schliesslich einige wenige Seiten, weiter sei nichts mehr vorhanden. Erst als ich mit dem Anwalt drohte, erhielt ich einige Tage später ein dickes Paket.

Endlich hatte ich es nun schwarz auf weiss:

Aufgrund meines uneindeutigen Genitales konnten die Ärzte nicht sagen, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin. Später fand man Hoden im Bauchraum und einen männlichen Chromosomensatz XY. Wie 50% aller XY-Intersexuellen habe ich keine genaue Diagnose.

Der Befund meines äusseren Genitales laut Krankenakte:

Prima vista aussehend wie bei AGS. Der Penis ist 2 cm lang, das Scrotum nicht ausgebildet, sondern in Form von zwei Labia majora vorhanden. Kein Sinus urogenitalis, beim Perineum befindet sich die Mündung der Urethra.

Trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers wurde ich Anfang September 1965 im Alter von 2 1/2 Monaten kastriert. Meine Hoden, Nebenhoden und Samenstränge wurden in den Mülleimer geworfen. Zugleich wurde der Sinus urogenitalis zum ersten Mal "eröffnet". Diese Eingriffe wurden laut Krankenakte ohne Einwilligung meiner Eltern vorgenommen und wurden ihnen verschwiegen. Erst später entschieden sich die Ärzte dann doch anders, Zitat Krankenakte:

Entgegen dem früheren Entschluss, den Eltern nichts über die genitale Situation zu sagen, kamen wir nach reiflicher Überlegung überein, den wahren Sachverhalt trotzdem mit den Eltern zu besprechen, [...].

1. Es bestehe ein Herzvitium, welches strengster Kontrolle bedürfe.

2. Ihr Kind sei ein Mädchen und dieses Geschlecht sei ein für allemal festgesetzt.

3. Bei der Operation hatte sich folgender Befund gezeigt: es sei kein Uterus vorhanden gewesen, die Keimdrüsen seien missgebildet gewesen und hätten entfernt werden müssen. Die Vagina sei kurz.

4. Während der Pubertät, d.h. mit etwa 10 – 11 Jahren, müsse das Kind unbedingt strengestens überwacht werden, und es müsse zur rechten Zeit mit einer hormonellen Behandlung eingesetzt werden.

5. Nach der Pubertät müsse eine weitere korrektive Operation (gemeint Vaginalplastik, die Details wurden selbstverständlich nicht mit den Eltern besprochen) durchgeführt werden.

(17. September 1965)

Die Kastration wurde später als Fehler beurteilt, Zitat Krankenakte:

7. Weiteres Procedere: Ich habe den Fall unmittelbar nach der Cystoskopie nochmals mit Herrn Prof. Bettex besprochen. Es liegt seiner Ansicht nach ein männliches Geschlecht mit Hypospadie vor. Obwohl er selbst bei der früheren Beurteilung und vor der Castratio anwesend war, glaubt er retrospektiv doch, dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf diesem Wege fortgefahren werden muss und aus dem kleinen Patienten ein Mädchen gemacht werden muss. Zur Frage der Vaginalplastik äussert er sich so, dass diese sobald wie möglich durchgeführt werden sollte und nicht erst dann, wenn sich das Kind darüber im Klaren wird.

Auch meine Eltern wurden laut Krankenakte weiterhin belogen und zudem angewiesen, mit niemandem "über die Geschlechtfrage" zu reden. Noch am 3.2.1972 wurden meine Eltern im Glauben gelassen, es seien "missgebildete Ovarien" entfernt worden. Zu einem anderen Zeitpunkt wurde ihnen gesagt, es sei "fraglich", ob "das Mädchen Kinder haben könne". Mir selbst gegenüber wurde noch am 21.8.1979 behauptet, ich hätte eine "Gebärmutter", die allerdings "so klein sei, dass keine Menses zu erwarten seien".

Ich wurde dann doch älter als zunächst prognostiziert. Wegen Voruntersuchungen zur Herzoperation war ich im Alter von 6 1/2 Jahren im Februar 1972 im Krankenhaus. Aufgrund einer Infektion konnten diese Voruntersuchungen jedoch nicht durchgeführt werden. Und da ich schon mal dort war, wurde kurzerhand (Zitat Krankenakte) "die Gelegenheit benutzt, die schon 1965 geplante Genitalkorrektur vorzunehmen". Zugleich erneute "Eröffnung des Sinus urogenitalis".

Aus dem Bericht nach der Operation vom 10.2.1972:

Wichtig für den Wochenenddienstarzt: Falls die Eltern Auskunft über die Kleine wünschen, ist es wichtig zu wissen, was den Eltern über das Mädchen von der "Med. Klinik " gesagt wurde. Es steht in den vorangehenden Seiten unter "Besprechung mit den Eltern".
Post. Op.: Kind zeigt die Zeichen des Schocks.Nachblut. [...]

Starke Hämatome bds. der Clitoris. Rechts bläulich-schwärzliche Verfärbung. Beginn einer Nekrose?

Schwester "Annemarie" war dann für die Wundversorgung und das "nachts beide Hände anbinden" zuständig.

Als ich die Unterlagen zu dieser Operation in meiner Krankenakte fand, dachte ich zuerst an einen Irrtum, meinte, es müsse sich um Unterlagen aus einer anderen Akte handeln. Diese Operation war so traumatisierend, dass ich sie komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht hatte. Neben der Erkenntnis, dass ich massiv operiert wurde, hat es mich sehr erschüttert, dass ich das dermassen verdrängt hatte, weil es zu schrecklich war. Ich habe mich dadurch geschützt, hatte mir sogar eine Ersatzerinnerung zurecht gelegt, die darauf beruhte, dass meine Mutter auf mein Nachfragen sagte, dass man mir nur ein bisschen überschüssige Haut entfernt habe, ambulant.

Mit Empörung las ich weiter in der Krankenakte:

Die vorgesehene Clitorisversenkung wurde in Anwesenheit der Eltern mit dem Kinde besprochen. Daniela ist auch mit der Operation einverstanden.

Aufgrund dieser Operation habe ich wiederkehrende Phantomschmerzen, regelmässige Blasenentzündungen sowie ziehende, stechende und pulsierende Schmerzen im Genitalbereich.

Aufgrund der Kastration und der "Hormonersatztherapie" mit körperfremden Östrogenen leide ich unter Stoffwechselproblemen, Hitzewallungen, Müdigkeit, Schwindelgefühlen, und vor einigen Jahren hat man bei mir eine Vorstufe zur Osteoporose diagnostiziert.

Dennoch hatte ich Glück, denn ich habe noch sexuelle Empfindungen, wenngleich oft verbunden mit Überempfindlichkeit oder Schmerzen.
Ich kenne viele Betroffene, die keinerlei sexuelle Empfindungen mehr haben oder andere, die bei sexueller Erregung sehr starke Schmerzen haben. Ich kenne Betroffene, die haben seit Jahren eine offene Wunde zwischen den Beinen, die nicht verheilen kann. Die meisten Betroffenen, die ich kenne, haben keine sexuellen Beziehungen, sind massiv traumatisiert.

Mit achtzehn Jahren wurde bei mir eine Vaginalplastik durchgeführt, in die ich als einzige Operation bewusst einwilligte, da mir gesagt wurde, dass ich "so" nie einen Freund haben könne. Ich habe mir aber geschworen, dass es die letzte sein soll und dass ich danach nie wieder zu einem Arzt gehen würde. Nach dieser Operation hatte ich Jahre lang Alpträume, es sei nicht die letzte gewesen, es stünde mir eine ganz schlimme bevor, in der mein Rumpf vom Unterkörper getrennt werden soll.

Heute habe ich dank einer zehnjährigen Psychoanalyse einen inneren Frieden gefunden, kann wieder vermehrt Nähe und Liebe zulassen. Und dennoch ist es schwierig. Ich fühle mich wie jemand, der nach vierzig Jahren aus dem Koma erwacht ist, seine Hände betrachtet und realisiert, wie die Zeit vergangen ist und wie wenig er vom Leben hatte. Mein körperlicher Urzustand ist unwiederbringlich verloren, meine Würde wurde mir genommen.
Ich werde mein Leben lang unter den Folgen dieser menschenverachtenden Behandlung leiden. Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich neu erfinden, wenn ich weiter leben will.

Die prägenden Gefühle aus meiner Kindheit sind Scham, Angst, Ekel, sich verstecken müssen. Die Erwachsenen schienen immer peinlich berührt, meine Eltern waren verunsichert, es wurde einfach nicht darüber geredet.

Ich kenne Betroffene, die haben Jahre lang gedacht, sie seien todkrank, weil offensichtlich etwas war, aber niemand mit ihnen Klartext reden wollte.
Die meisten Betroffenen, die ich kenne, haben ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern.

Dass ich als Mädchen aufgezogen wurde, war für mich nicht das Problem, ich habe auch nicht das Bedürfnis, jetzt als Mann zu leben. Traumatisierend hingegen waren die Operationen, die Schmerzen, die Angst und die Lügen.

Wäre ich heute erst geboren und in die Fänge der Mediziner geraten, wären Prof. Bettex' seinerzeitige nachträgliche Bedenken wohl von Anfang an zum Tragen gekommen: Statt Kastration und Klitorisverkürzung hätte man wohl eine chirurgische Hodenverlagerung sowie eine Hypospadiekorrektur und Penisaufrichtung durchgeführt und mich zum Jungen gemacht. Sprich: dasselbe in hellblau statt rosarot.

Ich kenne aktuell den Fall eines dreijährigen Kindes, das als Bub aufwächst. Den Eltern wurde gesagt, es brauche nur eine Hypospadieoperation und dann sei alles gut. Jetzt sind es mittlerweile schon drei "Korrekturen". Ich weiss von einer Vielzahl Betroffener, bei denen mehr als ein Dutzend mal "nachgebessert" werden musste. Die ursprünglich keine medizinischen Probleme hatten, mittlerweile aber heftige. Die Mediziner selbst bezeichnen solche Fälle zynischerweise als "Hypospadiekrüppel".

Auch dem obigen Kind wird es wohl wenig nützen, ob es sich nun in der Geschlechterrolle wohl fühlt oder nicht, denn es wird wegen diesen uneingewilligten kosmetischen Eingriffen sein Leben lang psychische und physische Probleme haben.
Auch bei XX-Intersexuellen liegt bei allen mir persönlich bekannten Beispielen die eigentliche Problematik nicht darin, ob sie nun chirurgisch zu Mädchen oder zu Buben gemacht werden, sondern in den psychischen und physischen Folgen dieser uneingewilligten irreversiblen Eingriffe im Kindesalter.

Als problematisch ist in diesem Zusammenhang auch einzustufen, dass in der Schweiz solche Eingriffe über die Invalidenversicherung als Geburtsgebrechen lediglich bis zum 20. Altersjahr übernommen werden, was den Druck der behandelnden Ärzte auf möglichst frühzeitige Operationen zusätzlich erhöht.

Ich selbst bin wohl nur dank Psychotherapie überhaupt noch am Leben und in der Lage, heute hier vor Ihnen zu sprechen. Als besonders stossend empfinde ich dabei, dass für die aus meiner Perspektive verstümmelnden Eingriffe die Kosten stets problemlos übernommen wurden, ich jedoch anschliessend gezwungen war, ein Drittel der Kosten meiner Psychotherapie aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

Mir persönlich ist es nicht möglich, auf eine adäquate Hormonersatztherapie mit Testosteron umzusteigen, da dann mein "versenktes" beziehungsweise eingenähtes Genital zu wachsen beginnt, was zu starken Schmerzen führt. Ich kenne jedoch zahlreiche kastrierte XY-Intersexuelle, denen es mit Testosteron viel besser geht als mit Östrogen. Das Testosteron müssen diese jedoch, im Gegensatz zum sie krankmachenden Östrogen, aus der eigenen Tasche bezahlen.

Ich kenne weiter Betroffene, die als Frau leben, denen der Abschluss einer Versicherung zusammen mit dem Partner verweigert wurde, weil herauskam, dass sie chromosomal männlich sind.

Ich kenne eine Betroffene, der kurz vor Abschluss des Adoptionsverfahrens die Adoption eines lang ersehnten Kindes verweigert wurde, weil herauskam, dass sie chromosomal männlich ist.

Denselben Problemen sehen sich umgekehrt auch XX-Intersexuelle ausgesetzt, die als Männer leben.

Allen Lippenbekenntnissen der behandelnden Mediziner zum Trotz werden heute noch 90% aller Kinder und Jugendlichen durchschnittlich mehrfach genitaloperiert, werden die Hälfte der Kinder und 20% der Jugendlichen nach wie vor gar nicht oder unzureichend aufgeklärt. Weiter beurteilen Eltern "die behandelnden Ärzte/Ärztinnen schlechter als Eltern von Kindern mit anderen chronischen Erkrankungen", was unter anderem darauf schliessen lässt, dass auch Eltern heute noch nicht vollumfänglich aufgeklärt werden.

Wie alle mir bekannten Betroffenen hätte auch ich mir komplette Aufklärung gewünscht und keine Operationen ohne meine informierte Zustimmung. Das wäre sicher alles auch nicht einfach gewesen, aber mit dem Gefühl leben zu müssen, dass über einen bestimmt wurde, macht einen kaputt. Und mit den Narben und Schmerzen, mit den psychischen Problemen und mit den gesundheitlichen Folgen. Sofern nicht eine lebensbedrohliche Situation oder sonst eine unmittelbare, zwingende medizinische Indikation vorliegt, dürfen solche schwerwiegenden Entscheide deshalb nur von den Betroffenen selbst gefällt werden.

Mediziner sollen künftig nur für medizinisch notwendige Behandlungen zugezogen werden. Ansonsten sollen spezialisierte Psychologen und Sozialpädagogen Ansprech- und Kontaktpersonen für die Eltern sein. Für den berühmten "psychosozialen Notfall" der Eltern braucht es ein Skalpell am Kind, sondern psychologische und sozialpädagogische Betreuung für die Eltern, und gegebenenfalls später auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst.

Seit bald 20 Jahren klagen Betroffene die Zerstörung der sexuellen Empfindsamkeit und die Missachtung der körperlichen Unversehrtheit öffentlich an und fordern die Beendigung uneingewilligter kosmetischer Eingriffe, das Recht auf vollumfängliche Aufklärung und Selbstbestimmung, die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Medizingeschichte und eine gesellschaftliche Aussöhnung.

Im Namen der heutigen Betroffenen, vor allem aber im Namen der heute noch Ungeborenen, bitte ich die Nationale Ethikkommission inständig um Hilfe, für ein Leben in Unversehrtheit und Würde auch für uns. Vielen Dank!

>>> Schweiz: Anhörungen Nationale Ethikkommission (NEK-CEK) 2011-2012  

>>> Schriftliche Stellungnahme von Zwischengeschlecht.org (PDF, 460 kb)
>>>
Fehlende Einsicht der Täter - Nationale Ethikkommisson (NEK-CNE)  
>>> Verstoss gegen die Menschenrechte - Nationale Ethikkommisson (NEK-CNE) 

>>> Genitalverstümmelungen im Kinderspital: Fakten und Zahlen
>>> 150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
>>> Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter  

Friday, August 21 2009

"das Recht intersexueller Kinder auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit"

Menschenrechte auch für Zwitter!Die Zwitter Medien Offensive™ war schon da!

Aus Nellas allererstem Interview von 2002 für die Lesbenzeitschrift Die, nachgedruckt im Megafon und in der Fabrikzeitung:

Was fordern Selbsthilfeorganisationen für Intersexuelle?

Sie fordern das Recht intersexueller Kinder auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Intersexualität soll nicht mehr als Krankheit definiert, sondern die Menschen sollen mit ihrer individuellen Körperlichkeit jenseits von starren Geschlechtszuweisungen wahrgenommen werden. Sie setzen sich für die Aufklärung der Öffentlichkeit über das Thema und seine Enttabuisierung ein.

Das ganze Interview im megafon-Archiv:
>>> «Wir erfahren durch Zufall, wer wir sind»
Megafon Nr. 255, Januar 2003

Siehe auch:
- Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (Recht auf körperliche Unversehrtheit)    

Wednesday, April 15 2009

Mein Rücktritt als 1. Vorsitzende von Intersexuelle Menschen e.V.

Per Ende meines 1. Amtsjahrs erklärte ich meinen Rücktritt als 1. Vorsitzende von Intersexuelle Menschen e.V. Das vereinsinterne Mobbing überstieg meine psychischen Kräfte bei weitem. Auch will ich nicht länger als Vorstandsmitglied beteiligt sein am (wie ich es empfinde) Katzbuckeln des Vereins gegenüber den Medizynern und den verantwortlichen PolitikerInnen. Ich werde dem Verein aber als kritisches einfaches Mitglied erhalten bleiben.

Ich danke auch hier allen, die mir im Anschluss liebe und aufmunternde Worte zukommen liessen, komme jedoch auf meinen Entscheid nicht mehr zurück. Nachfolgend dokumentiere ich mein offizielles Rücktrittsschreiben.

Nella

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Thursday, January 15 2009

Über was schreibst du deine Abschlussarbeit? Über Intersexualität!

Letztes Jahr erhielt ich mehrere Anfrage von StudentInnen, die ihre Abschlussarbeit zum Thema Intersexualität schreiben (meistens begleitet von einem Referat vor der Klasse) und ein Interview mit einer zwischengeschlechtlichen Person führen wollten. Die meisten hatten sich von einem Zeitungsartikel inspirieren lassen (siehe auch hier und hier) ...

Eine davon ist Laura Borner von der Kantonsschule Wiedikon, Schweiz, die mir ihre Maturaarbeit gesandt hat: eine gelungene Arbeit, die über Zwangsoperationen, den Kampf um Selbstbestimmung und die Forderungen Zwischengeschlechtlicher berichtet. Viel Raum auch für ausführliche Interviews mit Karin Plattner, Mutter eines zwischengeschlechtlichen Kindes und Gründerin des Vereins "Selbsthilfe Intersexualität", und meiner Wenigkeit.

Ich danke Laura für diese aufklärende Arbeit!

Hier das in der Maturaarbeit veröffentlichte Interview mit mir:

Leben mit Intersexualität

Wann erfuhren Sie, dass Sie intersexuell sind? Wie erklärte man es Ihnen?
Man hat mir nichts erklärt, man hat mich ständig angelogen oder mit Halbwahrheiten abgespiesen. Ich habe aber immer gespürt, dass etwas nicht stimmt, habe mich geschämt, denn ich wusste, dass es mit meinen Genitalien zu tun hat. Sonst würden die doch nicht ständig da hingucken und hingreifen und so besorgt und peinlich berührt tun. Ich war abartig, man musste mich verstecken, man musste meinen Körper korrigieren. Ich war immer innerlich wie gelähmt, machte mich so unsichtbar wie möglich.

Wie war es für Sie, als Sie es erfuhren? Ein Schock?
Eigentlich nicht. Ich wusste immer, dass ich anders bin. Ich sah auch zwischen den Beinen anders aus als meine Schwestern und fragte offenbar meine Mutter, warum das so sei. Ich selber kann mich nicht mehr daran erinnern. Einen konkreten Hinweis erhielt ich mit ungefähr vierzehn Jahren, dass meine vermeintlichen Eierstöcke in Wahrheit Hoden waren. Der Hausarzt warf es mir in einem unkontrollierten Moment an den Kopf, ohne jedoch weiter darüber zu reden geschweige denn etwas zu erklären. Ich war nicht wirklich geschockt, ich erinnere mich sogar, dass ich dachte: ach so, jetzt verstehe ich. Aber nur nichts anmerken lassen, weiter machen wie bisher. Habe mit niemandem darüber geredet, in Büchern nachgeschaut, ein Riesenchaos im Kopf.

In wie fern änderte sich Ihr Leben?
Gar nicht, es blieb, wie es war: ich war allein damit, ich habe alles mit mir selber ausgemacht, habe nie Fragen gestellt, nie geschrieen, protestiert, immer ganz lieb und ruhig und alles geschluckt. Wie das Kaninchen vor der Schlange versetzte ich mich immer in eine Starre, wenn ich zum Arzt musste. Daheim redete niemand darüber, ich sowieso nicht, stellte keine Fragen. Angst, Verzweiflung, dumpfe Leere. Als würde man vor einem grossen schwarzen Loch stehen und man darf nicht schreien, nicht zeigen, wie verletzlich man ist, denn die sind alle überfordert, Mediziner und Eltern, tun so, als ob alles gut wäre, obwohl ein Blinder merken würde, dass das nicht stimmt. Da beginnt man mitzuspielen, denn wenn man aufhören würde, dann bräche die Welt zusammen, dieses Konstrukt. Man will nicht die sein, die alles kaputt macht.

Hat sich Ihr Bild von Mann und Frau dadurch verändert?
Ich habe immer gewusst, dass ich keine richtige Frau bin. Aber ich kann nicht vergleichen, weiss nicht, wie eine richtige Frau fühlt, wie ein richtiger Mann. Was ist das schon, eine 'richtige' Frau, ein 'richtiger' Mann? Ich habe es auch nie zugelassen, mich anders zu fühlen, kann erst heute sagen: ich bin weder noch. Heute kann ich sagen: Es gibt Frauen, es gibt Männer, und es gibt Zwitter. Ich bin ein Zwitter. Eigentlich ganz einfach. Leider habe ich vierzig Jahre meines Lebens verbraucht, um zu dieser Aussage zu kommen.

Wer half Ihnen mit der Diagnose umzugehen und sie zu verarbeiten?
Niemand, ich war immer allein damit. Ausser heute meine Psychotherapeutin respektive ich selber durch sie. Ich hatte nie eine Freundin, eine vertraute Person, mit der ich darüber reden konnte. Ich habe mich immer versteckt. So kann man keine wirklichen Bindungen eingehen, man bleibt immer isoliert. Heute, nach acht Jahren intensiver Therapie, geht es mir gut.

Wussten Sie schon immer, dass Sie anders sind, als das von der Gesellschaft entworfene ideale Bild von Mann und Frau?
Ich wusste das schon immer respektive fühlte mich immer anders. Ob das nun ist, weil ich ein Zwitter bin, körperlich dazwischen, auch im Kopf vielleicht, oder ob das ist, weil ich immer so anders behandelt wurde, weiss ich nicht. Es wurde mir ja vor allem vermittelt, dass ich anders bin, weil grundlos operieren sie den Körper ja nicht, über etwas Positives macht man kein Geheimnis. Je länger ich meine Ruhe habe und zu mir finde, desto mehr verändert sich mein Selbstbild und das sieht irgendwie schon dazwischen aus. Jetzt, wo ich niemandem mehr beweisen muss, dass ich eine richtige Frau bin, kann ich eher mich selber sein.

Wie nahm Ihre Familie, Ihre Freunde die Diagnose auf?
Es wurde nicht darüber geredet. Man machte ein Geheimnis draus, man versteckte 'es', obwohl man gar nicht wusste, was 'es' ist. Das ist ja das Absurde: man darf nicht darüber reden, aber man weiss gar nicht, worüber man nicht reden darf. Da entwickelt man einen regelrechten Verfolgungswahn, als müsste man vor etwas flüchten, aber man weiss nicht, was es ist und wann und aus welcher Richtung es kommen wird. Meine Eltern wurden auch angelogen, von Anfang an.

Machten Sie Ihren Eltern Vorwürfe, dass sie sich für einen Geschlechtsanpassung bei Ihnen entschieden hatten?
Als Kind wohl schon, denn du bist dort, im Spital, die Mediziner greifen dir immer wieder zwischen die Beine, du hast Schmerzen, Angst, furchtbare Operationen, und deine Eltern stehen so quasi daneben und schauen zu, helfen dir nicht. Die klassische Missbrauchssituation.

Hat sich dadurch Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern, Familie und Freunden geändert?
Man verliert das Urvertrauen, ganze Familien werden durch diese menschenrechtswidrige Praxis kaputt gemacht. Da können keine guten Gefühle mehr sein zwischen Eltern und Kind. Ich habe mich immer abgeschottet, habe mich immer allein gefühlt in meinem Elternhaus. Seit einigen Jahren habe ich wieder liebevolle Gefühle für meine Eltern, weil ich ihnen gesagt habe, wie sehr ich gelitten habe. Ich habe mich ihnen gezeigt, das war der springende Punkt. Vorher sagte ich nie was, das macht Distanz. Ich habe dicht gemacht, niemanden an mich heran gelassen. Heute mache ich meinen Eltern keinen Vorwurf. Sie wurden auch angelogen, auch sie sind Opfer.

In einem Bericht über Sie, las ich, dass Sie heute in einer glücklichen Beziehung leben. Wie reagierte Ihr Partner darauf, als sie Ihn über Ihr „Schicksal“ aufklärten?
Er war über die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen schockiert, konnte es kaum glauben, was die mit uns machen. Er hat keine Probleme damit, sieht mich wohl eher als Frau, aber ich bin auch der Zwitter: ich muss meine Seinsweise, meine Lebensrealität nicht verstecken, das ist wohl der springende Punkt. Er setzt sich mit mir zusammen für eine Enttabuisierung von Intersexualität ein.

Von wem erfuhren Sie, dass es auch andere Intersexuelle gibt, die sich in verschieden Selbsthilfegruppen treffen (Ärzte)?
Aus dem Internet, ganz einfach. Eines Tages gab ich meine Diagnose ein – "pseudohermaphroditismus masculinus" – und plötzlich waren da zig Informationen. Das war unglaublich. Alles im Alleingang, seit ich denken kann. Deshalb habe ich noch heute Mühe, wenn jemand mich 'begleiten' will. Von den Ärzten erfährt man das nie und nimmer, die tun eher so, als wäre man allein auf der Welt.

Hat es Ihnen viel geholfen, als Sie erfuhren, dass es auch andere Menschen mit Intersexualität gibt?
Das ist das Beste für alle Zwitter, alle sagen das. Dass man sich mit Gleichgesinnten austauschen kann ist das beste Heilmittel, die grösste Unterstützung! Und was machen die Mediziner? Sie sagen ihren 'Patienten' nichts davon, suchen den Kontakt nicht. Logisch, weil in den Selbsthilfegruppen erfahren die Opfer von Zwangsoperationen, dass sie nicht die einzigen sind, die sich schlecht fühlen, denen Unrecht widerfahren ist. Die isolieren uns bewusst, aus Angst vor einem 'Aufstand'. Das ist wie bei den Krankenakten: bei den meisten Intersexuellen sind sie 'verschwunden'.

Wie wichtig ist es für andere Intersexuelle, dass Sie als Betroffene aus der Anonymität traten und der Intersexualität ein Gesicht gaben?
Ich denke, dass es sicher wichtig ist. Andere Intersexuelle sollen dadurch ermutigt werden, aus ihrem Versteck zu kommen. Aber es macht auch Angst und ist wohl auch für viele ein Schock. Plötzlich ist da eine im Heftli, die sagt, sie sei ein Zwitter, spricht das aus, was man nie aussprechen durfte. Das heisst nicht, dass alle an die Öffentlichkeit müssen, aber schon aus der Isolation raus und Gleichgesinnte treffen, macht Angst. Das Gefängnis, in dem man steckt, isoliert, bietet aber auch Schutz, wird zur Gewohnheit. Vor dem Neuen hat man Angst. Zugleich macht es vielen Intersexuellen wohl auch Angst, sich quasi gegen die Mediziner und die Eltern zu stellen, indem sie schlicht und einfach aufhören, sich zu verstecken, das Schweigegelübde zu brechen, anzuklagen. Es ist ein bisschen wie beim Stockholmsyndrom. Sich gegen die wenden, mit denen man bisher das Spiel 'Alles ist in Ordnung' mitgespielt hat, weil man der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen wollte oder konnte. Aufstehen und sagen, dass man gelitten hat, die Fassade runterreissen, das reicht schon, das heisst nämlich, den Medizinern und den Eltern sagen: ihr habt versagt! Nur schon der Gang in die Selbsthilfegruppe bedeutet das ja quasi. Es ist wie beim sexuellen Missbrauch: wir reden nicht darüber, also ist es auch nicht passiert. Und wenn es doch tut, ist man ein Verräter. Die meisten haben natürlich auch Angst, sich selber einzugestehen, dass sie gelitten haben, Trauer, Schmerz, Verzweiflung nicht länger zu verdrängen.

Wer hat Ihnen zu diesem Schritt geholfen?
Ich selber, zusammen mit meiner Therapeutin. Jahrelange Psychotherapie, zu mir selber kommen, mich selber gern haben, aufhören, meine wahren Gefühle zu verdrängen. Das ist ein Riesenchrampf. So, wie ich drauf war, hätte ich das nicht allein gekonnt. Ich war ja so gefangen in dieser Fantasiewelt, die ich mir als Kind schon aufgebaut hatte, in der mir nichts etwas anhaben konnte: ich fühle keine Schmerzen, ich brauche keine Liebe, ich stehe über allem. Ich bin gar nicht da! Da findet man allein nicht mehr raus, da es etwas ist, das man selber konstruiert hat, als Schutz. Das gibt man nicht gerne her, auch wenn es einen kaputt macht.

Wenn Sie einen Wunsch hätten, was würden Sie sich wünschen?
Ich möchte meinen ursprünglichen Körper zurück haben, genauso, wie er bei der Geburt war. Keine Narben, keine Hormone schlucken, ich wäre ganz, mich selbst. Mein Körper, wie er bei der Geburt war, wie er heute wäre. Ich frage mich, wie ich gewesen wäre, aber ich werde es nie erfahren, das haben sie mir für immer genommen. Ohne mich zu fragen.

Welche Bezeichnung ist für Sie die angenehmste: Intersexuelle/r, Zwitter, Hermaphrodit?
Zwitter oder Hermaphrodit

Auf der Website von intersex fand ich verschiedene Forderungen: keine Zwangsoperationen, das Individuum respektieren, die Eltern informieren, die Gesellschaft sensibilisieren. Was denken Sie über diese Forderungen? Welche ist für Sie die wichtigste? Wird es möglich sein, sie in der heutigen Gesellschaftssituation umzusetzen?
Selbstbestimmung für Zwitter, keine nicht lebensnotwendigen Operationen ohne Einwilligung der intersexuellen Person.
Wenn man diese Forderung befolgen würde, dann würde sich alles andere quasi von selber ergeben. Es wäre sicher nicht einfach, in unserer Gesellschaft ein intersexuelles Kind aufzuziehen, aber es würde immer einfacher werden, wenn man damit beginnen würde. Man müsste, um dies zu ermöglichen, die Gesellschaft weiter aufklären, Intersexuelle und ihre Eltern unterstützen, Intersexualität in den Lehrplänen und bei den Ausbildungen aller sozialen Berufe integrieren, gezielt Fachkräfte und Kompetenzzentren für intersexuelle Menschen ausbilden, einen dritten Geschlechtseintrag ermöglichen, und so weiter und so fort. Es wird nicht einfach sein, aber wir sind schon auf dem Wege, weil Zwitter immer mehr beim Namen genannt werden. Wir existieren und man kann uns nicht mehr auf die Seite schieben.

Soll man Intersexualität als drittes Geschlecht anerkennen?
Zwitter werden nach wie vor politisch, sozial und juristisch unsichtbar gemacht. Die Möglichkeit eines provisorischen Geschlechtseintrages, der vom Betroffenen später geändert werden kann, zudem eine dritte Option beim Geschlechtseintrag, das würde uns sichtbar machen und die Lage entspannen. Das ist ja eine der Lieblingsausreden der Mediziner: man müsse ja dem Kind einen Namen geben. Als ob man ein Kind deswegen operieren müsste, Genitalkontrolle auf dem Standesamt?!

Wie sieht die momentane Rechtslage in der Schweiz und im Ausland aus?
Die Rechtslage ist klar. Prof. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an der Universität Zürich, sagt beispielsweise, dass es für einen medizinischen Eingriff die Zustimmung der betroffenen Person braucht. Bei einem Kind entscheiden in der Regel die Eltern. Aber: Geschlechtszuweisende, sprich: kosmetische, nicht lebenserhaltende Operationen, tangieren die höchstpersönlichen Rechte und dürfen nicht ohne Zustimmung des betroffenen Kindes vorgenommen werden. Bei diesen Operationen habe auch die Eltern nicht das Recht, für ihr Kind zu entscheiden.
Es handelt sich juristisch in der Schweiz wie auch in Deutschland ganz klar um schwere Körperverletzung. Die intersexuelle Christiane Völling hat in Deutschland ihren ehemaligen Arzt verklagt, der ihr vor bald dreissig Jahren ohne ihre Einwilligung die gesunden Fortpflanzungsorgane wegoperiert hat. Sie hat gewonnen, und zwar in erster wie auch in zweiter Instanz. Ich kenne weitere Intersexuelle, die einen Prozess vorbereiten. Wenn das so weiter geht, dann werden Mediziner aufhören mit diesen Operationen, aber nicht, weil sie einsehen, dass es Unrecht ist, sondern weil sie Angst vor einer Klage haben, Angst, Geld und Ansehen zu verlieren.

Was denken Sie über die Geschlechtsbestimmung bei Säuglingen durch einen operativen Eingriff?
Es handelt sich hier um massive Menschenrechtsverletzungen. Es sind in den allermeisten Fällen rein kosmetische, keine lebensnotwendigen Operationen, auch wenn die Mediziner immer wieder mit dem Krebsrisiko beispielsweise bei Hoden im Bauchraum kommen. Mehrere Studien beweisen, dass das Krebsrisiko weitaus geringer ist. Kastrationen machen das hormonelle Gleichgewicht im Körper kaputt, machen aus gesunden Menschen lebenslang kranke und von künstlichen Hormonen abhängige Menschen, diese künstlichen Hormone machen den Körper kaputt. Es handelt sich um menschenverachtende Eingriffe im Namen einer Geschlechternorm, ein zwittriger Körper darf nicht sein, der muss zurechtgestutzt werden, egal, ob der intersexuelle Mensch psychisch und physisch ein Leben lang unter den Folgen leidet. Jeder Mensch hat aber das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde.

Was halten Sie von den Argumenten von Ärzten, die behaupten, dass man so dem Kind einen langen Leidensweg erspare?
Das ist in erster Linie einfach feige von den Medizinern. Und auch von den Eltern. Wobei die Eltern eher zu entschuldigen sind, denn die haben ja meistens keine Ahnung. Aber heute kann man sich informieren. Die einen sind mutiger, die anderen weniger. Das Kind aber hat keine Wahl. Es läge in der Verantwortung der Mediziner, die Eltern aufzuklären – und sicher nicht, ihnen irreversible Operationen zu verkaufen. Es sei zum Wohle des Kindes, man wolle ihm Leid ersparen. Um Leid zu vermeiden, wird aber noch viel grösseres Leid geschaffen. Das geht nicht auf! Der Mensch redet sich gerne das ein, was ihm am Bequemsten ist und am wenigsten weh tut. Das ist wie Sondermüll entsorgen im Wald oder Batteriehühnerfleisch essen. Man weiss genau, dass es Unrecht ist, aber man tut es trotzdem. Und legt sich was zurecht, damit man gut schlafen kann. Mediziner und Eltern operieren ein intersexuelles Kind in erster Linie für sich selbst, sonst würden sie das Kind nämlich zuerst fragen. Doch das schlechte Gewissen bleibt, deshalb können Eltern ihr intersexuelles Kind sowieso nie annehmen, vielleicht erst recht nicht, wenn es verstümmelt ist, denn es erinnert die Eltern immer daran, was sie ihm angetan haben.

Zwangsoperationen sind keine Lösung. Es ist sicher nicht einfach, ein intersexuelles Kind aufzuziehen. Aber es ist ein Verbrechen, über den Körper und die Seinsweise eines Kindes zu entscheiden. Denn es geht hier nicht um lebenserhaltende Operationen, sondern um rein kosmetische Eingriffe. Zum Wohle des Kindes? Genitaloperationen führen dazu, dass die sexuelle Empfindungsfähigkeit vermindert oder gänzlich zerstört wird. Es bleiben Narben zurück, niemand kann sagen, wie viel ein intersexueller Mensch dann noch spürt. Auch psychische Narben: die meisten Intersexuellen, die ich kenne, haben keinen Partner, keine Sexualität, ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper.

Kastrationen und anschliessende Hormonersatztherapie mit körperfremden Hormonen – das sagt einem kein Arzt – führen zu massiven gesundheitlichen Problemen: Osteoporose, Stoffwechselstörungen, Diabetes, Adipositas, Depressionen, Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten, Libidoverlust, körperliche und seelische Leistungsminderung, Konzentrationsstörungen und so weiter und so fort. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass niemand jemals sagen kann, ob sich der Zwitter dann in der ihm zugewiesenen Rolle wirklich wohl fühlt. Ein Drittel aller Zwitter bringt sich um.

Was für eine Rolle spielt hierbei die Gesellschaft?
Die Mediziner agieren nicht isoliert von der Gesellschaft, aber sie haben die Definitionsmacht, sie sind spezialisiert und können deshalb Leute mit ihrem Wissen unter Druck setzen. Man ist ihnen ausgeliefert. Wenn die sagen, dass das so gut ist, dann glauben das die meisten. Auch weil sie es glauben wollen. Es geschieht im Verborgenen, Mediziner können tun und lassen, was sie wollen. Es gibt keine Kontrollen. Es gibt für alles Mögliche Nachfolgeuntersuchungen, bei Intersexualität nicht. Mit Zwanzig entliess mich mein Arzt, es hat ihn nicht interessiert, wie es mir später geht, er wollte mich nicht – wie zum Beispiel mein Kardiologe – in fünf Jahren unbedingt wieder sehen.
So schlimm und intolerant, wie die Mediziner einem weismachen wollen, ist die Gesellschaft nicht. Ich habe noch nie eine negative Reaktion erlebt. Natürlich, wenn man als Kind, in der Pubertät plötzlich 'komisch' aussieht, ein vermeintliches Mädchen plötzlich männlicher wird, das wird vielleicht ausgelacht, schräg angeschaut. Aber das ist nichts im Vergleich zu demütigenden Untersuchungen, für immer zerstörte Hormonfabriken und Genitalien, Schmerzen beim Sex oder gar keine Gefühl mehr, angelogen werden, negiert zu werden. Man kann mit den Leuten reden, ihnen erklären, was los ist. Ich kenne einige Eltern, die ihre intersexuellen Kinder nicht operieren liessen und so leben.

Mir fiel auf, dass es in letzter Zeit vermehrt Interviews und Berichte über Intersexualität gab. Möchten die Intersexuellen damit endlich erreichen, dass Die Öffentlichkeit die Augen öffnet und nicht länger wegsieht?
Natürlich. Es geht darum, ein Tabu zu brechen, aufzuklären, uns Zwittern ein Gesicht zu geben in dieser Gesellschaft. Die meisten Leute wissen überhaupt nichts über Intersexualität. Man kennt Beschneidungen in Afrika, regt sich darüber auf, zu Recht, aber dass etwas ähnliches hier in unserem 'zivilisierten' Europa und anderswo geschieht, das weiss niemand. Zwitter leben versteckt, machen sich klein, schämen sich, denn ihnen wurde von Anfang an vermittelt: du bist abartig, nicht erwünscht, nicht richtig, deshalb müssen wir dich operieren und vor allem darfst du mit niemandem darüber reden. Das prägt fürs Leben. Jetzt reden Zwitter in der Öffentlichkeit, brechen das Schweigegelübde, diese elende Last, dieses menschenunwürdige Nichtsein, das einem aufgezwungen wurde, diese Lüge, die das ganze Leben vergiftet! Aber die meisten schweigen weiterhin. Die Öffentlichkeit soll wissen, soll hinschauen, denn dann können die Verantwortlichen nicht mehr weiter tun und lassen, was ihnen passt. Die Politik soll hinschauen, das Gesetz soll hinschauen. Der Umgang mit Intersexuellen, die Maschinerie, die in Gang gesetzt wird, wenn ein zwischengeschlechtliches Kind geboren wird, muss abgestellt und in ihre Einzelteile zerlegt werden. Zwangsoperationen an Zwittern müssen verboten werden! Das sind Menschenrechtsverletzungen. Jeder Zwitter soll selber über sein Leben entscheiden dürfen.

Wednesday, December 31 2008

Keine Strassen

ich sitze erschöpft am strassenrand. zitternd vor wut und enttäuschung versuche ich, mir den staub aus dem gesicht zu wischen. ich bin so müde, kann nicht mehr weiter. ich schaue zurück, irgendwo da draussen, ganz weit weg, sind meine lieben, ist mein leben, das mir schon lange abhanden gekommen ist. die anderen sind in eine andere richtung weiter gefahren. einige waren wütend, andere schauten betreten. ein paar klopften mir aufmunternd auf die schultern und gingen schon mal zu fuss los. die meisten wollten erst gar nicht mitkommen, sind irgendwo da hinten, weiss nicht einmal, wie ich sie erreichen kann.

ich wollte ihnen zeigen, wie es geht, dass es geht und möglich ist. bin immer noch von dem überzeugt, was ich gesagt habe. und dennoch sitze ich jetzt hier und kann nicht mehr weiter. es geht nicht mehr. ich bin am ende. ich kann's nämlich auch nicht, ausser wenn mir jemand dabei hilft.

ganz weit weg erkenne ich noch knapp seine gestalt. er ist schon lange viel schneller unterwegs, als ich es je sein kann. ich schaue ihm nach, zu müde, um ihn zu rufen. habe ihm genug zugesetzt, in meiner ohnmächtigen wut, weil er mir eifrig vorzeigte, wie wir uns wehren sollten - wenn wir denn könnten. deshalb läuft er jetzt noch schneller als vorher.

und dann schaue ich in die andere richtung. nicht weit von mir steht sie, die auch bald nicht mehr weiter kann, wenn sie so weiter macht. ich würde gerne weiter machen, wenigstens für sie würde ich gerne weiter machen. wegen der verzweiflung in ihren augen, die an meine eigene rührt. aber ich kann nicht mehr. die scham erdrückt mich, aber ich verlasse die strasse und laufe querfeldein. dort hat es keine strassen.

Wednesday, September 17 2008

Mit der Hoffnung im Herzen

Wenn eines Tages Selbstbestimmung für Zwitter gesichert sein wird, werden Zwitter mit uneindeutigen Körpern aufwachsen, unversehrt an Leib und Seele. Dieses In-die-Welt-Gelangen von zwittrigen Körpern wird die grösste Revolution aller Zeiten sein, wird Angst und Ablehnung auslösen. Es wird nicht einfach werden, obwohl die meisten Zwitter in der männlichen oder der weiblichen Rolle leben werden. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen und will dazu gehören.

Nein, nicht obwohl, sondern weil sie sich für die männliche oder die weibliche Rolle entscheiden werden, werden Angst und Ablehnung da sein, denn das Volk der Männer wird von Andersmännern und das Volk der Frauen wird von Andersfrauen bevölkert und verändert werden.

Dieses In-die-Welt-Gelangen von zwittrigen Körpern wird letztlich dazu führen, dass immer mehr Zwitter in der Zwitterrolle leben werden. Unversehrt an Leib und Seele.

Wir werden dann alle nicht mehr leben. Aber lieber tot sein als so leben wie jetzt. Mit Freude tot sein, wenn Selbstbestimmung für Zwitter gesichert sein wird. Aber wahrscheinlich werden wir alle vorher sterben, mit der Hoffnung im Herzen, dass es eines Tages so sein wird.

Bild: "Bionic" by Alex 2005

Thursday, July 10 2008

zwischen den beinen nicht nur gute gefühle

Standbild © Ärger / PigBrother.tv   --> Mehr Bilder auf bodyfascist.com

ich habe eine fantasie von mir als intaktem zwitter: eher weiblich aussehend, aber irgendwie kerlig, grösser, mehr muskeln, vielleicht eine aussenseiterin, vielleicht gehänselt als kind, eine biographie, die mich abseits der gesellschaft positioniert, vielleicht würde ich eher auf frauen stehen oder mich aufgrund meiner körperlichen besonderheit (keine vagina) eher in die richtung orientieren (man ist ja anpassungsfähig). vielleicht wäre ich einsam, vielleicht auch nicht. aber ich wäre nicht mein leben lang von hormonen abhängig, ich hätte keine immer wieder kehrenden 'komischen empfindungen' (phantomschmerzen) zwischen den beinen, die ich schon als kind immer empfand, wo ich mich jeweils irgendwo weinend verkriechen musste, einmal rannte ich aus der schule nach hause deswegen, die heute oft im zusammenhang mit einer 'blasenentzündung' auftreten. [...]
auf diese sch... hätte ich liebend gerne verzichtet! und wenn schon hätte ich lieber selber gewählt, auch wenn es vielleicht eine wahl zwischen zwei übeln gewesen wäre. [...]


es geht nicht um die frage, ob ich mich in der rolle als frau wohl fühle. ich habe nicht das bedürfnis, mich nachträglich in richtung mann operieren zu lassen. ich fühle mich schlicht und einfach nicht wohl in der rolle des angelogenen, verarschten, erniedrigten, gegen seinen willen kastrierten und genitaloperierten menschen, der hormone fressen muss und zwischen den beinen nicht nur gute gefühle hat.   -->mehr

Sunday, July 6 2008

Lügen, Zwangseingriffe, Schweigegebote: ein Leben aus der Krankenakte (Teil III)

Menschenrechte auch für Zwitter!>>> Teil I / Teil II

Verdrängung als Selbstschutz

Als ich die Unterlagen zur Genitaloperation in meiner Krankenakte fand, dachte ich zuerst an einen Irrtum, meinte, es müsse sich um Unterlagen aus einer anderen Akte handeln. Ich hatte die Operation komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht (2), wusste absolut nichts mehr davon. Neben der Erkenntnis, dass ich massiv operiert wurde, hat es mich sehr erschüttert, dass ich das dermaßen verdrängt hatte, weil es zu schrecklich war. Ich habe mich dadurch geschützt, hatte mir sogar eine 'Ersatzerinnerung' zurecht gelegt, die darauf beruhte, dass meine Mutter auf mein Nachfragen sagte, dass man mir nur ein bisschen überschüssige Haut entfernt habe, ambulant.

Am 20.7.1972 wurde ich dann am Herz operiert. Im selben Jahr haben mir die Mediziner also das Leben gerettet und vieles unwiederbringlich zerstört.

Mit achtzehn Jahren wurde eine Vaginalplastik durchgeführt. Diese Operation wollte ich selbst, da mir gesagt wurde, dass ich 'so' keinen Freund haben könne. Ich habe mir aber geschworen, dass es die letzte sein soll und dass ich danach nie wieder zu einem Arzt gehen würde. Ich gehe auch heute nur im äußersten Notfall zum Arzt, gynäkologische Untersuchungen meide ich seit Jahren ganz.


Verlorene Jahre

Heute, mit 42 Jahren, lebe ich immer noch (zäh, wie eine Katze, sagt mein Vater immer) und hatte bisher keine besonderen gesundheitlichen Probleme, wobei man das eigene Erleben nur bedingt mit anderen vergleichen kann. Nun beginne ich mir Gedanken betreffend meiner contrachromosomalen Hormonersatztherapie als Folge der Kastration und den möglichen Folgeschäden zu machen, die sich abzuzeichnen scheinen: seit etwa zwei Jahren habe ich vermehrt Gelenkschmerzen (Rücken, linke Hüfte, Knie, Füsse) nach nur einer Stunde spazieren mit Hund (vorher kein Problem), habe oft bleischwere Beine, fast täglich Schwindelgefühle, wieder vermehrt Hitzewallungen, Müdigkeit. Ich bin sehr dünn geworden. Vor zwei Jahren hat man bei mir eine Vorstufe zur Osteoporose diagnostiziert. Heute habe ich mit ziemlicher Sicherheit eine Osteoporose. Ich sollte mich deshalb aufraffen und doch wieder mal zum Arzt gehen.

Meine psychischen Probleme konnte ich zum größten Teil in einer Psychoanalyse (seit sieben Jahren in Behandlung) aufarbeiten. Ich werde jedoch mein Leben lang unter den Folgen dieser menschenverachtenden Behandlung leiden. Ich bin weder Mann, noch Frau, aber vor allem bin ich auch kein Zwitter mehr. Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich neu erfinden, wenn ich weiter leben will.

Heute habe ich dank Jahre langer Psychoanalyse meinen inneren Frieden gefunden, kann wieder Nähe und Liebe zulassen. Und dennoch ist es schwierig. Ich fühle mich wie jemand, der nach vierzig Jahren aus dem Koma erwacht ist, seine Hände betrachtet und realisiert, wie die Zeit vergangen ist und wie wenig er vom Leben hatte. Mein körperlicher Urzustand ist unwiederbringlich verloren. Meine Identität, meine Würde wurden mir genommen. Nun mache ich mich auf, um sie mir wieder zurück zu erobern!

Nella, Februar 2008
(2) Bei Dissoziationen (auch dissoziative Störungen genannt) handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, bei der es zu einer teilweisen oder völligen Abspaltung von psychischen Funktionen wie des Erinnerungsvermögens, eigener Gefühle (Schmerz, Angst, Hunger, Durst, …), der Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung kommt."
(...) (http://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziation_(Psychologie)
Vgl. auch dissoziative Amnesie: "Das Abkoppeln des expliziten Gedächtnisses von diesem "Eigenleben" der niederen Steuerungsebenen erklärt die bei Traumatisierten häufig beobachtbaren dissoziativen Symptome: das Nicht-Erinnerungsvermögen an Trauma-Situationen nennt man auch dissoziative Amnesie. Die Abtrennung des Großhirns vom Nachrichtenfluss bewirkt, dass keine oder nur wenige sinngebenden Bewertungen vorhanden (bzw. physiologisch möglich) sind und auch kaum etwas im expliziten Gedächtnis gespeichert ist. Da die impliziten Gedächtnisse zustandsabhängig arbeiten, werden die dort gespeicherten Informationen nach dem Ende der Lebensgefahr manchmal nicht mehr aktiviert; sie scheinen "vergessen" (Amnesie). Oder sie werden in bestimmten Situationen aktiviert, scheinen aber sinnlos zu sein, was dann zu Bewertungen durch die Umgebung wie "hochsensibel" führen kann." (http://www.aufrecht.net/utu/trauma.html)

Tuesday, July 1 2008

Lügen, Zwangseingriffe, Schweigegebote: ein Leben aus der Krankenakte (Teil II)

Menschenrechte auch für Zwitter!>>> Teil I

Lügen und Halbwahrheiten


Die Mediziner haben meine Eltern angelogen und in der Folge angewiesen, wie sie mich zu erziehen hätten:

"Das Kind ist ein Mädchen und wird es bleiben, die ganze Erziehung hat sich danach zu richten. Mit niemandem ausser den Eltern u. dem Arzt (...) soll über die Geschlechtfrage weiter diskutiert werden."

Meinen Eltern wurde verschwiegen, dass ich chromosomal männlich bin und dass man meine Hoden entfernt hatte. Natürlich wurde ihnen auch verschwiegen, dass man einen Fehler gemacht hatte. Meine Eltern wurden also in der Folge systematisch belogen:

"Die Eltern fragten dann natürlich ob das Mädchen Kinder haben könne, und es wurde gesagt, dass dies fraglich sei."

oder mit absurden Halbwahrheiten abgespiesen:

"Beide Eltern sind übrigens gut orientiert über die Situation. Sie wissen, dass Daniela ein Mädchen ist, und dass es ein Mädchen bleiben wird. Sie wissen, dass man die missgebildeten Ovarien entfernen musste, da sonst die Gefahr einer Virilisierung bestanden hätte; (...)." (3.2.72)

Erstens hatte ich nie Eierstöcke und zweitens kann man mit Eierstöcken nicht vermännlichen!
Auch ich wurde permanent belogen und mit unsinnigen Aussagen 'ruhig gestellt':

"21.8.79 Daniela ist beunruhigt wegen ausbleibender Menses, ob dies nicht schaden könne.
Erklärt, dass Gebärmutter so klein sei, dass keine Menses zu erwarten seien. Es schade nichts, wenn Frauen keine Menses hätten."

Genitalkorrektur statt Herzoperation

Ich wurde dann doch älter als vorgesehen. Ich war sieben Jahre alt, als die Mediziner sich dazu entschlossen, die komplizierte Herzoperation durchzuführen, obwohl die Prognose nicht sehr gut war:

"Die Operation des Endokardkissendefektes ist an sich sehr schwierig und zeigt eine hohe Operationsmortalität von rund 50 % bei der kompletten Form. In diesem Fall besteht zusätzlich eine Hypoplasie der linken Seite mit wahrscheinlicher Mitralstenose, was die Operationschancen noch weiter verschlechtert. (...) Die Gesamtprognose zusammen mit dem Pseudohermaphroditismus und dem schweren Vitium schauen wir als nicht sehr gut an. Allerdings kann erfahrungsgemäss keine Dauer angegeben werden. Trotzdem glauben wir nicht, dass das Mädchen das Erwachsenenalter erreichen wird."

Wegen Voruntersuchungen zur Herzoperation war ich im Februar 1972 im Krankenhaus. Aufgrund einer Infektion konnten diese Voruntersuchungen jedoch nicht durchgeführt werden. Und da ich schon mal dort war, wurde kurzerhand mein Genital korrigiert, wie folgender Auszug aus meiner Krankenakte dokumentiert:

"Da die Kardiologen wegen eines interkurrenten Streptococceninfektes den geplanten Herzkatheterismus hinausschieben mussten, haben wir die Gelegenheit benutzt, die schon 1965 geplante Genitalkorrektur vorzunehmen."

Aus dem Bericht nach der Operation vom 10.2.1972:

"Wichtig für den Wochenenddienstarzt: Falls die Eltern Auskunft über die Kleine wünschen, ist es wichtig zu wissen, was den Eltern über das Mädchen von der 'Med. Klinik ' gesagt wurde. Es steht in den vorangehenden Seiten unter 'Besprechung mit den Eltern'.
Post. Op.: Kind zeigt die Zeichen des Schocks. Nachblut. Es wird PPL Lsg infundiert. Zudem erbricht das Kind viel. Die starke Bronchitis, die sie seit Tagen hat, lässt leicht nach.
Starke Hämatome bds. der Clit()oris. Rechts bläulich-schwärzliche Verfärbung. Beginn einer Nekrose?"

14.2.72. Die Hämatome bds. der Clit()oris sind fluktuierend. Ueber Nacht hat die Kleine wieder nachgeblut()et, tiefer Quick?
Das Kind hustet nach wie vor stark. Links basal sind einige trockene RG zu hören. kein Fieber."

Schwester "Annemarie" war dann für die Wundversorgung und das „nachts beide Hände anbinden“ zuständig.

Neun Tage später ging es schon weiter:

"Heute (19.2.72) wurde Daniela wieder in die Kindermedizin zurückverlegt in der Hoffnung, dass im Laufe der nächsten Woche der Herzkatheterismus durchgeführt werden kann. Wenn die Operationswunde wie bisher weiter komplikationslos abheilt, dürfte für diesen Eingriff, bei dem Inguinal eingegangen werden muss, nichts im Wege stehen."

Fazit: Zum zweiten Mal wurde ich trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers aufgrund meines uneindeutigen Geschlechts operiert! Keine Rede von Infektionsgefahr mehr! Die Mediziner stellten ihre Definitionsmacht über mein Leben!

Fortsetzung

Thursday, June 12 2008

Lügen, Zwangseingriffe, Schweigegebote: ein Leben aus der Krankenakte (Teil I)

Menschenrechte auch für Zwitter!Von Anfang an keine Chance

Ich bin 1965 mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Genitale geboren. Aufgrund des Herzfehlers wurde ich ein paar Tage nach meiner Geburt notgetauft, da die Mediziner davon ausgingen, dass ich nicht lange überleben würde. Sie behielten mich in der Folge im Krankenhaus, meine Eltern durften mich nicht nach Hause nehmen. Mein Vater musste arbeiten, meine Mutter reiste so oft wie möglich aus dem weit entfernten Bergdorf in die Stadt, durfte mich jedoch nur durch eine Glasscheibe anschauen.

Als meine Eltern mich nach drei Monaten endlich nach Hause nehmen durften, war ich gezeichnet von den Folgen eines Hospitalismus(1). Ich hätte so schlimm ausgesehen, dass sie sich geschämt habe, mit mir im Dorf spazieren zu gehen, erzählte mir meine Mutter.

Die Mediziner begründeten diese Maßnahme mit der Infektionsgefahr aufgrund des Herzfehlers. Während diesen drei Monaten wurden gemäß Krankenakte auch verschiedene Untersuchungen aufgrund meines uneindeutigen Genitales durchgeführt, wobei festgestellt wurde, dass sich im Bauchraum Hoden befanden und ich über einen männlichen Chromosomensatz verfüge.

Der Befund meines äußeren Genitales:

„Prima vista aussehend wie bei AGS. Der Penis ist 2 cm lang, das Scrotum nicht ausgebildet, sondern in Form von zwei Labia majora vorhanden. Kein Sinus urogenitalis, beim Perineum befindet sich die Mündung der Urethra. Diese ist nicht stenosiert, sie weist dorsalseits eine reizlose Narbe auf."

Trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers wurde ich Anfang September 1965 im Alter von 2 1/2 Monaten kastriert, was aus zwei Sichtweisen unverständlich ist: Diese Operation barg einerseits aufgrund meines Herzfehlers ein großes Risiko. Andererseits machte sie aufgrund der angenommenen geringen Lebenserwartung keinen Sinn. Es liegt also nahe, dass die Ärzte in Kauf genommen haben, dass ich an den Folgen der Narkose und des Eingriffs sterbe, dass ihnen das 'Experiment' wichtiger war.

Die durchgeführte Kastration wurde ohne Einwilligung meiner Eltern vorgenommen und sollte ihnen in der Folge verschwiegen werden. Die Ärzte entschieden sich dann doch anders:

"Entgegen dem früheren Entschluss, den Eltern nichts über die genitale Situation zu sagen, kamen wir nach reiflicher Überlegung überein, den wahren Sachverhalt trotzdem mit den Eltern zu besprechen, insbesondere da eine gesteuerte Nachkontrolle über die nächsten 20 Jahre nicht gesichert ist.
(...)
2. Ihr Kind sei ein Mädchen und dieses Geschlecht sei ein für allemal festgesetzt.
3. Bei der Operation hatte sich folgender Befund gezeigt: es sei kein Uterus vorhanden gewesen, die Keimdrüsen seien missgebildet gewesen und hätten entfernt werden müssen. Die Vagina sei kurz.
4. Während der Pubertät, d.h. mit etwa 10 – 11 Jahren, müsse das Kind unbedingt strengestens überwacht werden, und es müsse zur rechten Zeit mit einer hormonellen Behandlung eingesetzt werden.
5. Nach der Pubertät müsse eine weitere korrektive Operation (gemeint Vaginalplastik, die Details wurden selbstverständlich nicht mit den Eltern besprochen) durchgeführt werden."
(17. September 1965)

An anderer Stelle heißt es (und natürlich ist wie üblich von 'Eierstöcken' und nicht von 'Hoden' die Rede):

"Besprechung mit Eltern: Entgegen dem früheren Entschluss kamen wir überein, dass man den Eltern doch sagen muss, dass das Kindlein kastriert werden musste und in der Pubertät streng überwacht werden müsste, da die Nachkontrolle eben nicht gesichert ist und die Mutter eine [...] ist und ev. zu einem späteren Zeitpunkt nach [...] verschwinden kann."

Die Kastration wurde später als Fehler beurteilt:

"7. Weiteres Procedere: Ich habe den Fall unmittelbar nach der Cystoskopie nochmals mit Herrn Prof. (...) besprochen. Es liegt seiner Ansicht nach ein männliches Geschlecht mit Hypospadie vor. Obwohl er selbst bei der früheren Beurteilung und vor der Castratio anwesend war, glaubt er retrospektiv doch, dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf diesem Wege fortgefahren werden muss und aus  dem kleinen Patienten ein Mädchen gemacht werden muss. Zur Frage der Vaginalplastik äussert er sich so, dass diese sobald wie möglich durchgeführt werden sollte und nicht erst dann, wenn sich das Kind darüber im Klaren wird.“

Fazit: Ich wurde im Alter von nur 2 1/2 Monaten trotz eines lebensbedrohenden Herzfehlers ohne die Einwilligung meiner Eltern kastriert und die Kastration stellte sich später als Fehler heraus!
(1) "Unter Hospitalismus (ursächlich auch Deprivationssyndrom genannt) versteht man alle negativen körperlichen und seelischen Begleitfolgen eines längeren Krankenhaus- oder Heimaufenthalts. Dies beinhaltet auch mangelnde Umsorgung und lieblose Behandlung von Babys und Kindern, in der Psychiatrie Symptome infolge von Heimaufenthalt, oder durch Folter oder Isolationshaft. Der Ausdruck Deprivationssyndrom stammt vom Begriff Deprivation, lateinisch deprivare - berauben in Bezug auf Reize und Zuwendung." (http://de.wikipedia.org/wiki/Hospitalismus)
Vgl. auch Deprivationssyndrom: "Als Deprivation (auch Deprivationssyndrom, anaklitische Depression) bezeichnet man in der Pädiatrie (Kinderheilkunde) die mangelnde Umsorgung und fehlende Nestwärme bzw. Vernachlässigung von Babys und Kleinkindern. Hospitalismus tritt häufig in Krankenhäusern, Säuglingsstationen und Heimen auf. Dauert die Deprivation länger an, kommt es zu psychischem Hospitalismus und zur Unfähigkeit, soziale Kontakte aufzubauen, dem Autismus ähnelndem Verhalten oder zu Sprachstörungen. " (http://de.wikipedia.org/wiki/Deprivation)

Fortsetzung ...

Tuesday, March 18 2008

Jesus loves me!

ich kann mich noch gut an dieses gefühl erinnern, als ich mit weissem kleid, blumenkranz, schleier und kerze zur ersten kommunion gehen, den leib christi zu mir nehmen durfte. ich fühlte mich angenommen, beseelt, auch ich war es wert, jesus hatte mich lieb. ich war ganz aufgeregt und glücklich und stolz. es war wie eine bestätigung, dass ich doch auch dazu gehöre. obwohl ich abartig und nicht richtig war. das war wie eine absolution. dass ich nicht richtig war, hatte man mir ein jahr vorher unmissverständlich gezeigt, als man trotz lebensbedrohendem herzfehler mein zwittriges genital zurecht stutzte. der liebe gott nahm mich im gegensatz zu den menschen an, zumindest glaubte ich daran. ich war als kind sehr gläubig und dachte eine zeitlang sogar darüber nach, wie es wäre, nonne zu werden, in der abgeschiedenheit und im schutz der katholischen kirche zu leben. hab offenbar schon früh damit begonnen, meine optionen abzuwägen.

Sunday, January 20 2008

"Aufklären, aufklären, aufklären!" (una cara amica)


Guten Abend

Ich absolviere die 2. FMS in Liestal und schreibe eine Arbeit über Intersexualität. Darum habe ich ein paar Fragen an Sie, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir diese möglichst schnell (...) beantworten können.

1. Als Sie noch ein Kind waren, hatten Sie das Gefühl anders zu sein, oder sich zu unterscheiden zu Mädchen/Jungen?
ich wusste immer, dass etwas anders war. kein wunder, man ist immer wieder beim arzt, der schaut einem zwischen die beine, niemand redet mit einem. die mutter ist einmal verzweifelt, dann wieder peinlich berührt, die ärzte schauen drein, als müsste man gleich sterben. ich habe schon als kleines kind gemerkt: die wissen die antworten nicht, also frage ich nicht, weil sonst gibt's so unangenehme gefühle dabei.
das wurde immer alles verheimlicht, das habe ich dann auch übernommen, dieses verheimlichen. das ging soweit, dass ich meinen körper verdrängt habe und die gedanken einfach unbetrachtet und unverarbeitet vorbeiziehen liess. ich war irgendwie leer und dumpf und gar nicht da. ich war oft gar nicht da, vor allem wenn ich beim arzt war.
es ist schlimm, immer dieses vage gefühl, dass man etwas verbergen muss, sonst findet das jemand heraus und dann wird's ganz schlimm, die leute spucken dich an, lachen dich aus, man ist das monster. immer diese angst, dass jemand es sieht, dass die menschen doch noch einen rest dessen sehen, was man mir weggeschnitten, wegradiert, weggenommen hat. ich war immer allein, seit ich denken kann.

2. Wie und wann haben Sie erfahren, dass Sie intersexuell sind und wie haben Sie reagiert?
ich wusste immer, dass etwas anders ist, wusste aber nie genau was. es hatte etwas mit meinen genitalien zu tun, das wusste ich, und schämte mich. ich war irgendwie grusig, so fühlte ich mich.
danach habe ich schritt für schritt etwas mehr rausgefunden, irgend eine bemerkung eines arztes, ein bericht in der zeitung, ein medizinisches wörterbuch. am schluss in der selbsthilfegruppe habe ich dann die 'einfache' antwort erfahren: ich hätte ein bub werden sollen, aber mein körper ist teilweise resistent auf die männlichen hormone, deshalb habe ich mich nicht ganz zum mann entwickelt, bin irgendwie in der mitte stehen geblieben.

3. Waren Sie gut in ihre Schulklasse integriert, oder wollten sie keinen Kontakt mit anderen aufbauen?
ich war eher ein einzelgänger, aber glaub noch ne lustige zwischendurch, irgendwie habe ich in erinnerung, dass man mich mochte, akzeptierte, in ruhe liess. ich war ein einzelgänger mit gruppenanschluss, irgendwie so. in der primarschule war ich ne wilde, die sich mit den knaben prügelte und den mädchen mit langbeinigen spinnen angst machte, und das total lustig fand. ich glaub ich war irgendwie beliebt, habe mich nicht als armes kind in erinnerung, das ständig aufs dach kriegt (das kriegte ich ja sonst schon genug).
dann kippte es: in der sekundarschule war ich mit meiner schwester in der klasse, weil ich ein jahr älter und zuerst ein jahr real und dann in die sek. das war glaub die zeit, wo ich angefangen habe, weibliche hormone zu nehmen. in der sek war ich immer total ruhig, verschlossen, allein (obwohl mit meiner schwester zusammen, aber wir waren sehr verschieden und sie hatte auch ihre sorgen).

4. Wusste der Bekanntenkreis, dass Sie intersexuell sind?
nein, das wusste niemand ausser meine eltern und eine cousine meines vaters, die mich mal hüten musste, weil meine eltern wo hin mussten.

5. War es schwierig für Sie, mit dieser Situation als Intersexueller umzugehen?
es ist schwierig mit dem gefühl umzugehen, dass es einen eigentlich gar nicht geben darf. man hat mich operiert und psychisch unter druck gesetzt, damit ich jemand anders werde. die logische schlussfolgerung: so, wie ich war, war ich nicht richtig. deshalb mussten sie mich ja verändern. dieses gefühl bestimmt das ganze leben, macht vieles kaputt. für immer. auch wenn man es schafft, zum beispiel wie ich in jahre langer psychotherapie, die lebensqualität zu steigern, weniger angst zu haben, mehr freude zu empfinden, einfach zu leben, sicher zu sein, ein gutes körpergefühl zu entwickeln, sich gerne zu haben.

6. Wie war es, als Sie in die Pubertät kamen?
da war gar nichts ausser einer grossen scham. da ich schon als baby kastriert worden bin (hoden raus: hormonproduktion futsch), kam ich gar nie richtig in die pubertät. ich musste ab zwölf jahren weibliche hormone nehmen, damit mein busen wachse und meine hüften sich runden.

Mit freundlichen Grüssen und vielen Dank im Voraus

Sandra Kirchhofer

Siehe auch Ich bin etwas anders und dennoch ziemlich gleich

Tuesday, October 2 2007

Unbeschwerte Kindheit

durch die geheimhaltung, die offensichtlichen lügen oder halbwahrheiten gerätst du in einen zustand der permanenten verunsicherung. du weiss nie, woran du bist. weil es nicht fassbar ist, wird es umso bedrohlicher. du bist immer unter einem gewissen druck, irgendwas stimmt nicht, aber niemand redet klartext mit dir. sie schauen sorgenvoll und gehen zugleich auf abstand. als würden sie eines tages mit dir in den wald spazieren, um dir eine kugel in den kopf zu jagen.

Bruchstücke

in der primarschule, ich weiss es noch genau, weil es auf dem grossen pausenplatz war, und dieser gehörte zur primarschule, stand ich, ich kann mich noch gut erinnern, verliebt in martin und dachte: das geht nicht, das ist nicht möglich für mich. sonst weiss ich nicht mehr viel über das, was ich als kind dachte.

meine mutter meinte immer wieder, die ärzte hätten an mir herumgepfuscht, es wäre nicht nötig gewesen, meine eierstöcke rauszunehmen, die hätten an mir herumexperimentiert. als ich wieder einmal bei unserem hausarzt war, ich war etwa vierzehn, habe ich mein sprüchlein aufgesagt, das meine mutter mir aufgetragen hat, von wegen, dass es nicht nötig gewesen wäre, meine eierstöcke zu entfernen. unser hausarzt reagierte gereizt, stand auf, verwarf die hände und rief aus: das waren doch gar keine eierstöcke, das waren hoden. ich blieb sitzen, erschlagen, verletzt, beschämt, aus verschiedenen gründen: dass ich dummerchen da aufsage, was meine mutter mir aufgetragen, unfähig, selbständig zu handeln und zu fragen, ich unwissende und naive; die reaktion des arztes, wie eine ohrfeige, einerseits wie er es sagte, ach, diese dummen arbeiterleute begreifen doch auch gar nichts, andererseits was er sagte: hoden. und statt mir dann endlich zu erklären, warum denn hoden, liess er mich allein im sprechzimmer zurück.

so dumm und so klein und nichtig bin ich aber nicht, ich dachte, oha, jetzt oder nie, wenn er schon nichts sagt, muss ich wohl selber zu meinen infos kommen, und warf einen raschen blick in meine krankenakte: zuoberst stand 'pseudohermaphroditismus masculinus'. was? pseudo heisst pseudo, also nicht wirklich etwas, hermaphroditismus kommt von hermaphrodit, das ist doch so ein komisches fabelwesen, halb mann, halb frau, und masculinus ... als tochter einer italienischen mutter und daselbst sehr sprachgewandte person war auch das ziemlich klar. war ich geschockt? schon, aber so wie immer, eher gelähmt, aber nichts anmerken lassen, so tun, als wäre alles in ordnung. war wieder mal eine seelische ohrfeige mehr, war wieder mal ein konsterniertes, reaktionsloses sitzenbleiben und abwarten, im kopf lief’s aber rund. aber eigentlich war es klar, war ich nicht wirklich überrascht. das elend war, dass ich auf diesem wege rausfand, was mir vorenthalten wurde. ich hatte nun einen vorsprung, von dem weder mein arzt noch meine eltern wussten. aber ich war allein damit. dann kam der arzt zurück, ich weiss nicht mehr, was wir besprochen haben, aber sicher nichts mehr über hoden. er hat so getan, als wäre das vorhin gar nicht geschehen.

irgendwann mit sechzehn oder so habe ich begonnen, mich selbst zu befriedigen, ich schloss mich dafür im badezimmer ein. ich schämte mich nicht und hatte keine schuldgefühle, ich kann mich noch gut erinnern, dass ich irgendwie ein triumphgefühl hatte, ha, was für gefühle ich da entfesseln kann, was für starke gefühle ich da habe. als hätte ich angenommen, dass das nicht möglich sei oder so. das konnten sie mir nicht wegnehmen! und es war ganz allein meines und die anderen wussten nicht, dass es da war. die hatten ja mit allen mitteln versucht, mir meine sexualität auszutreiben, aber sie war trotzdem da! das war mein triumphgefühl. es sah etwas anders aus da unten, das habe ich wohl schon früh gemerkt, meine klitoris war grösser als normal, nach der operation blieb so ein schrumpeliges ding zurück, wahrscheinlich die vorhaut meines mikropenisses, und meine scheide so ein vernarbtes gewebe. obwohl es nicht so schön aussah und wohl auch nicht normal war oder sogar ziemlich abartig, weil ja die ärzte immer wieder hinschauten und darüber redeten und mich so behutsam, als wäre ich ganz eine arme sau, behandelten, und meine mutter so komisch schaute und auswich mit von einem nervösen lächeln begleiteten erklärungen, trotzdem kann ich solche gefühle haben, wenn ich meinen fantasien freien lauf lassen. wie diese aussahen, weiss ich nicht mehr, aber im fernsehen gab es manchmal so sexszenen.

als ich nach der vaginaloperation zu hause tag und nacht diese plastikprothese tragen musste, es schmerzte und manchmal blutete es, stakste ich vor meinem vater, meiner mutter und meinen schwestern in der wohnung herum und schämte mich so sehr. es wussten ja alle, warum ich so komisch herumlaufe, aber es wurde nicht darüber geredet. diese zur schau gestellte geschlechtlichkeit oder konstruierte geschlechtlichkeit. in dieser zeit hatte ich immer so eine art turnschuhe an aus mausgrauem stoff, ich freute mich so sehr über diese schuhe, hatte sie gekauft, obwohl sie etwas schräg aussahen, vielleicht etwas vom ersten, was ich selbständig, ohne von meiner mutter sekundiert zu werden, kaufte. es war die zeit der engen hosen und depeche mode. ich konzentrierte mich auf diese schuhe, lief oder eben stakste mit ihnen herum, trug sie immer, nannte sie mausschuhe. meine mutter neckte mich und lachte, die mit ihren mausschuhen, und ich schaute die schuhe immer an, wenn ich herumlief. diese schuhe waren irgendwie wie freiheit für mich, ich klammerte mich an dieses bild. trotz dieser erniedrigenden situation, dieser wunde zwischen den beinen und dann noch so ein plastikstöpsel habe ich coole schuhe an. schade, dass ich sie nicht mehr habe, sie waren am schluss regelrecht zerschlissen und wurden wohl weggeworfen.

ich kann mich noch genau an den abschiedsbesuch bei meinem arzt erinnern. wir standen am fenster und schauten ins grüne hinaus. mein arzt stand links von mir. er sah mich von der seite an und sagte dann mit seiner ruhigen und sanften art: weißt du, nella, du hast eben xy-chromosomen, aber es ist besser, wenn du es deinem freund nicht sagst, der würde das nicht verstehen. ich schaute weiter aus dem fenster, er auch, ich konnte nicht mehr denken. xy? ich sagte nichts dazu, er auch nicht viel mehr, es gab keine erklärungen oder erläuterungen. ich glaube, ich habe dann gefragt, ob es noch andere wie mich gibt oder so. dann haben wir uns bald einmal voneinander verabschiedet, ich ging allein mit diesem xy im kopf in mein leben zurück. weiss nicht mehr, wie lange ich es mit mir herumtrug, bevor ich es meinem freund sagte. er hat's verstanden.

Saturday, September 15 2007

Ich bin etwas anders und dennoch ziemlich gleich.

Menschenrechte auch für Zwitter!Schon praktisch, wenn die eigene Lebensgeschichte als Artikel in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde (siehe unten). Man kann dann darauf verweisen und muss nicht lange überlegen, was man jetzt erzählen will und wo man beginnen soll.

Ansonsten:

Die ersten Beiträge in meinem Blog sind selbstredend. Es geht nicht um mich, sondern um die Sache. Aber ich werde auch manchmal etwas von mir erzählen.

FrançaisEnglishVerein Zwischengeschlecht.orgSpendenMitglied werdenAktivitäten

>>> Aktion & Offener Brief Kinderspital Zürich, 6.7.08   (Bild: Ärger)

Artikel in der Annabelle 9/06 vom 10. Mai 2006:

(Ja, die Zwitter Medien Offensive gabs schon damals!)

Nicht Frau und nicht Mann

>>> Artikel als PDF

Sie ist ein Hermaphrodit, ein Zwitter mit Merkmalen beider Geschlechter. Über drei Jahrzehnte war ihr Dasein geprägt von Schweigen, Scham und den Schmerzen von Operationen, in denen die Ärzte sie äusserlich zur Frau formten. Dann endlich zerrte sie das Tabu ihres Lebens ans Tageslicht.

Text: Claudia Senn

Was sagt man als Arzt zu den Eltern, wenn ein Kind wie Nella zur Welt kommt? An dem alles dran ist, aber eben auch ein Zipfelchen zu viel: fünf Zehen an jedem Fuss, fünf Finger an jeder Hand, eine Klitoris, die grösser ist als normal, viel grösser. Sagt man: Gratuliere, Sie haben ein halbes Mädchen? Einen halben Jungen? Ein Bubenmeiteli?

Gleich nach der Geburt stellten die Ärzte fest, dass Nella keine Gebärmutter hatte und keine Eierstöcke, dafür Hodenanlagen im Inneren des Körpers. Ihre Vagina war sehr kurz, wie zugewachsen. Und ein Test ergab, dass sie xy-Chromosomen hatte, genetisch also ein Junge war. «Nennen Sie sie doch einfach Andrea», riet eine Krankenschwester den verstörten Eltern. «Das können Sie notfalls leicht in Andreas umwandeln.»

Nellas Eltern dachten wohl, sie hätten eine Art Monstrum geboren. Eine Missgeburt, so selten wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Keiner sagte ihnen, dass so was häufiger vorkommt, als man denkt. Zwar gibt es keine genauen Zahlen, doch schätzen die Ärzte, dass etwa eines von 2000 bis eines von 5000 Kindern intersexuell ist, also Merkmale beider Geschlechter hat.

Meist weisen die Ärzte einem solchen Baby innert weniger Tage ein Geschlecht zu. Bei Nella fassten sie den Entschluss, dass aus ihr ein Mädchen werden sollte, auch wenn sie männliche Chromosomen hat. Denn es gibt eine einfache Regel in der plastischen Chirurgie: «It’s easier to make a hole than to built a pole» – es ist einfacher, eine Vagina herzustellen als einen Penis.

Vorerst entfernten sie dem Säugling jedoch nur die Hodenanlagen. Orchiektomie nennen die Ärzte diese Operation. «Ich nenne sie Kastration», sagt Nella.

Als das kleine Mädchen, das auch noch einen schweren Herzfehler hatte, nach drei Monaten Klinik endlich nach Hause entlassen wurde, litt es unter Hospitalismus. So nennt man das, wenn ein Kind nach langem Spitalaufenthalt aus Mangel an Liebe und Zuwendung vollkommen erloschen und verkümmert ist.

Heute ist Nella 38. Niemand, der es nicht weiss, käme auf die Idee, dass sie ein Hermaphrodit ist. Sie ist der sportliche Typ Frau, trägt Jeans und Kapuzenshirts, ist ungeschminkt, mit kurzen braunen Haaren.

Natürlich hat sie in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie zieht ein Pseudonym vor, weil sie keine Lust hat, nach der Publikation dieses Artikels Anrufe von sensationsgeilen Medien zu kriegen. Auch in ihrem Umfeld weiss längst nicht jeder, was mit ihr los ist. Immerhin hat sie es nach fünf harten Jahren Therapie geschafft, den engsten Freundeskreis einzuweihen. Das ist schon viel, wenn man sich ein Leben lang für abartig gehalten hat.

Wann beginnt ein intersexuelles Kind zu ahnen, dass es anders ist als die anderen? «Ich spürte es von Anfang an», sagt Nella. Schon als kleines Kind weiss sie instinktiv, dass mit ihren Genitalien etwas nicht stimmt. «Immer schauten die Erwachsenen da hin. Dauernd fummelten sie da unten rum. Ständig musste ich zum Arzt, der Nadeln und Katheter in mich hineinstach.» Niemals wird Nella von jemand anderem als den Eltern gehütet, denn ein Fremder könnte ja beim Wickeln ihre vergrösserte Klitoris entdecken. Andere Kinder kommen kaum zu Besuch, denn die könnten Doktor spielen wollen. Nella wird von allen abgeschirmt. Die Familie deckt ihr grösstes Geheimnis mit Stillschweigen zu. Manchmal betrachtet sich das kleine Mädchen nackt im Spiegel und rätselt: Was ist es nur, was mit mir nicht stimmt?

Instinktiv spürt Nella auch, dass es nicht ratsam ist, Fragen zu stellen. Sie denkt, dass mit ihr etwas sehr Schlimmes los sein muss, so schlimm, dass man es niemals aussprechen darf, weil sonst etwas Furchtbares geschieht. Früh lernt sie, «einfach nicht vorhanden» zu sein, wenn wieder ein Arzt, der nur die medizinische Sensation vor sich sieht und nicht das kleine Kind, zwischen ihren Beinen fuhrwerkt. Das Bild, das sie von sich selbst aus jener Zeit vor Augen hat, ist «ein mageres kleines Mädchen mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, das niemals weint, niemals protestiert, stumm alles über sich ergehen lässt. Das bei allen ärztlichen Torturen verzweifelt versucht, sich auf den einen Gedanken zu konzentrieren: Es ist gleich vorbei.»

Als sie sieben ist, wird ihr kaputtes Herz operiert und bald darauf eine Genitalkorrektur vorgenommen. Es ist ein riskanter Eingriff. Die Ärzte nehmen dabei in Kauf, Nellas sexuelle Empfindungsfähigkeit für immer zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören, wenn sie die für die Lust wichtigen Nervenbahnen verletzen.

Immer haben die Eltern Angst, dass über ihre Tochter getuschelt wird – wie in Nellas ersten Lebensjahren, als die Familie noch in einem engen katholischen Dorf lebte. «Die ist nicht normal», flüsterten da einmal Kinder, als die junge Mutter mit Nella im Kinderwagen an ihnen vorbeiging. Jetzt, wo die Familie in einer anonymeren Kleinstadt lebt, bleibt sie von solchen Gerüchten verschont. Nur einmal, als Nellas Mutter Streit mit der einzigen Verwandten hat, die in das Familiengeheimnis eingeweiht ist, droht die, öffentlich zu machen, «was Nella für eine ist». Nella steht daneben, stumm wie ein Möbelstück, und denkt: Aha, ich bin also abartig. Wenn die anderen das rausfinden, spucken sie mich an.

Sie ist ein wildes Kind zu dieser Zeit, fast ein wenig bubenhaft. Prügelt sich mit Jungs und erschreckt Mädchen mit langbeinigen Spinnen. Mit zehn ist sie zum ersten Mal in einen Jungen verliebt. Ganz allein steht sie auf dem Pausenplatz und denkt: Verliebt sein, nein, das geht bei mir nicht. So wie ich bin, kann ich niemals mit einem Bub zusammen sein.

Als sie zwölf ist, erklärt ihr der Arzt, dass man ihr als Baby die Eierstöcke habe entfernen müssen, weil die «bösartig» gewesen seien, und dass sie deshalb keine Kinder bekommen könne. Dass es in Wirklichkeit Hodenanlagen waren, wissen zu dieser Zeit nicht einmal die Eltern. Nella muss nun weibliche Hormone schlucken, ein Leben lang. «Sonst wäre ich irgendwie Kind geblieben, ein Neutrum.» Wie geplant wachsen ihr nun Brüste und runden sich die Hüften. Nella empfindet darüber überwältigende Scham. Später verringern die Ärzte einmal ihre Dosis, da leidet die junge Frau unter Wallungen, als wäre sie bereits in den Wechseljahren.

Als die Mutter die erste Menstruation der um ein Jahr jüngeren Schwester feiert, steht sie daneben, stumm. «Jetzt bist du eine richtige Frau», sagt die Mutter zu ihrer Schwester. Ich nicht, denkt Nella da zum ersten Mal, ich bin keine richtige Frau.

Sie zieht sich völlig zurück, ist immer allein und liest, in ihrer Ecke des Zimmers, das sie mit ihrer Schwester teilt. Freundschaften geht sie aus dem Weg, «aus Angst vor diesen ganz normalen Mädchenfragen wie: Nimmst du Tampons oder Binden?»

Eines Tages sollen Schreibtische für das Zimmer der Schwestern angeschafft werden. Platz gibt es jedoch nicht für zwei, sondern nur für einen einzigen. «Den darf Nella haben», beschliesst der Vater, «Nella wird ja später sowieso nicht ausziehen.» Nella steht daneben, wie immer stumm, und fühlt sich, als habe der Vater ihr soeben eine Ohrfeige verpasst. Ich bin also nicht nur keine richtige Frau, denkt sie, sondern ich habe auch keine Zukunft.

Doch dann bekommt sie endlich einen ersten konkreten Hinweis darauf, was mit ihr nicht stimmt. Die Mutter trägt ihr auf, den Hausarzt zu fragen, warum man ihr denn die Eierstöcke entfernt habe. Das sei doch bestimmt gar nicht notwendig gewesen. «Das waren gar keine Eierstöcke, das waren Hoden!», blafft der verärgerte Arzt und verlässt das Zimmer. Nella, 15 Jahre alt, bleibt allein zurück, geschockt, ratlos, aber nicht wirklich überrascht. Vor sich auf dem Tisch sieht sie ihre Krankenakte liegen. Sie wirft einen verstohlenen Blick hinein und liest zum ersten Mal, welchen Namen ihre «Krankheit» hat: Pseudohermaphroditismus masculinus. Daneben steht der Vermerk: «Die Diagnose ist der Patientin auf keinen Fall mitzuteilen.»

Dann kommt der Arzt zurück und sagt – nichts. Nella geht nach Hause und erzählt – nichts. In ihrem Kopf beginnt es zu rattern wie verrückt. Heimlich sucht sie überall nach Informationen, bezieht Dinge auf sich, die nichts mit ihrem Krankheitsbild zu tun haben, und hat bald «ein Riesengetto» im Kopf, das alles nur noch schlimmer macht. Nachts liegt sie wach, starr vor – unbegründeter – Angst, dass ihr demnächst ein Penis wachsen könnte.

Wenn Nella von ihrer Kindheit erzählt, wird spürbar, was für eine Wut sich in ihr angestaut hat. Auf die Ärzte, die ihr all die Jahre nicht die Wahrheit sagten, sondern nur ein absurdes Gemisch aus Lügen, Andeutungen und Halbwahrheiten. Auf die Eltern, die aus Scham und Hilflosigkeit striktes Stillschweigen breiteten über Nellas Andersartigkeit und damit ihre Tochter in die Isolation trieben. Auf sich selbst, weil sie in ihrer Not alle Gefühle und Bedürfnisse von sich abspaltete und stumm war wie ein Möbelstück.

Und doch war da etwas, was ihr ein Gefühl physischen Lebendigseins gab. Mit 17 entdeckt Nella, die nun die Handelsschule besucht, dass sie sich selbst befriedigen kann. Ein überwältigender Triumph! Ihr habt gemeint, ihr könnt mich kaputtmachen mit eurem Rumgeschnippel, denkt sie glücklich, aber es geht doch! Genau wie bei den anderen! Das konntet ihr mir nicht nehmen! Doch ist das, was ihr allein so viel Freude macht, auch mit einem Partner möglich? In einem Buch informiert sie sich über Penisgrössen und erfährt: Mit ihrer verkürzten Scheide «geht das nie und nimmer». Auch die Ärzte sagen, dass sie «so» nie einen Freund haben könne, und raten zu einer weiteren Operation.

Es ist ein traumatischer Eingriff. Obwohl sie die Operation so schnell wie möglich aus ihrem Bewusstsein zu löschen versucht, hat sie noch Jahre später Alpträume, in denen ihr Unterkörper brutal abgetrennt und verkehrt herum wieder angeschraubt wird. Nach dem Eingriff muss sie Tag und Nacht eine Art Dildo tragen, damit ihre blutende, mit einem Stück Gesässhaut ausgekleidete Scheide nicht wieder zuwächst. «Das Ziel dieser Operation ist es, eine Penetration möglich zu machen», sagt Nella. «Die Resultate sind jedoch oft unbefriedigend. Viele haben furchtbare Schmerzen. Die Scheide kann sich nach einiger Zeit wieder zusammenziehen. Man leidet unter Vernarbungen.» In der Selbsthilfegruppe, in der sie sich viele Jahre später mit Leidensgefährtinnen austauscht, nennen sie die Operation zynisch «fickfertig machen».

Doch damals, als sie aus dem Spital kommt, denkt sie erst, dass nun endlich alles gut ist. Endlich hat sie ihre Vagina. Endlich kann sie mit einem Mann schlafen. Endlich kann ihr keiner mehr vorwerfen, sie sei keine richtige Frau.

Während eines Sprachaufenthalts in Paris lernt sie ihren Freund kennen, mit dem sie noch heute zusammenlebt. Nach dem ersten Sex ist sie wahnsinnig erleichtert. Es funktioniert! Sie funktioniert!

Doch bleibt Sex für sie etwas Mechanisches. Rein, raus, eruptiv, wild im besten Fall. Sie kann Lust erleben, aber nicht diesen entspannten zweisamen Rausch, für den man sich ganz fallen lassen muss. «Ich möchte ja gern», sagt sie. «Ich würde mich so gern öffnen, erlöst werden von einem anderen aus der Einsamkeit. Doch ich kriege immer gleich solche Angst, wenn jemand zärtlich zu mir ist.» Zu lange hat sie ihren geschundenen Körper gehasst, als dass ihn jetzt plötzlich jemand lieben dürfte. «Ich möchte ihn einfach niemandem zumuten», sagt sie. Nie im Leben würde sie ihren Körper nackt in einer Sauna zeigen oder ihm sogar eine Massage gönnen.

Ihrem Freund hat sie lange vorgeworfen, er zeige zu wenig Gefühl, sei zu distanziert. «Doch mit einem Mann, der ständig mit mir ins Bett will oder kuscheln, hätte ich gar nicht umgehen können. Der hätte ja das, was ich die ganze Zeit zu verdrängen versuchte, heraufholen wollen.» Am Anfang der Beziehung klärt sie ihn kurz darüber auf, dass sie intersexuell ist, keine Kinder kriegen kann und mehrere Operationen hatte. Danach spricht sie nur noch selten darüber.

Mit 20 zieht Nella von zu Hause aus und folgt ihrem Freund nach Zürich. Kaum der beklemmenden Familienatmosphäre entronnen, macht sie eine für sie ganz und gar überraschende Entdeckung: Sie ist intelligent. Auf dem zweiten Bildungsweg holt sie die Matura nach und schliesst als Beste ihres Jahrgangs ab. Danach schreibt sie sich an der Uni für Geschichte ein. Sie ist die Erste in ihrer Familie, die studiert. Ausgerechnet sie, der Zwitter!

An der Uni merkt sie, dass sie der Stoff fasziniert. Das ist genau mein Ding!, denkt sie. Doch neben ihrer Begeisterung lauert immer auch die Angst, enttarnt zu werden. Ist eine intellektuelle Frau nicht verdächtig? Eine Frau, die Karriere machen will wie ein Mann? Die, mit anderen Worten, gar keine richtige Frau ist?

Nella beobachtet sich sowieso schon täglich im Spiegel. Ihre Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwachsen wie bei einem Mann. Die Schultern, die ihr zu breit vorkommen. Den Bizeps, der ihr zu kräftig erscheint. Aus der Angst heraus, nicht genug Frau zu sein, schmeisst sie schliesslich ihr Studium hin und nimmt einen Teilzeitjob an. Den Rest der Zeit ist sie Hausfrau, putzt, bügelt, bereitet aufwändige Abendessen. «Im Grunde genommen habe ich mich als graue Maus inszeniert, als die Karikatur einer Frau.»

Doch die verdrängten Gefühle bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche in Form von massiven Zwangsgedanken. Wenn ich diesen Putzlappen nicht zehnmal auswasche, geschieht ein Unglück, denkt Nella. Sie ist erschöpft, fühlt sich «so wertlos wie ein Stück Scheisse». Wenn sie überhaupt noch aus dem Bett kommt, trinkt und raucht sie ohne Limit. Gleichzeitig ist sie so aggressiv, dass sie Angst hat, Amok zu laufen. Einmal steht ihr im Tram jemand einen Moment lang im Weg, da möchte sie ihm am liebsten die Faust in die Fresse rammen. «Ich fühlte mich wie eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen kann.»

Mit 33 Jahren zieht Nella die Notbremse und beginnt eine Therapie. Fünf Jahre kämpft sie dreimal die Woche dagegen, stumm zu sein wie ein Möbelstück. Als sie das grosse Tabu ihres Lebens Stück für Stück ans Licht zerrt, kommt ihr das erst vor wie ein gigantischer Verrat. Etwa zur selben Zeit tut sie etwas, was sie schon lang hätte tun können, wenn sie es nur gewagt hätte: Sie gibt bei Google den Begriff ein, den sie in ihrer Krankenakte gelesen hat: Pseudohermaphroditismus masculinus. Da tut sich eine ganze Welt auf! Selbsthilfegruppen, Intersexuellen-Netzwerke, Informationsforen. Es gibt noch mehr Menschen wie sie! Allein in der Schweiz müssen es Hunderte sein! «Ich war unglaublich aufgewühlt.»

Niemals wird sie den Moment vergessen, als sie ihr erstes E-Mail an eine Selbsthilfegruppe abschickt. Die Freude und auch die rasende Angst, durch einen einzigen Mausklick aus einem Leben voller Schweigen und Verdrängung hinauszutreten!

Es ändert alles. Es ist, als käme sie nach lebenslangem Umherirren endlich heim. Beim ersten Treffen sitzt sie mit ihren Leidensgefährten im Restaurant und könnte platzen vor Glück. Sie ist nicht mehr allein, alle haben Ähnliches erlebt wie sie. Dieselben Schmerzen, dieselben Lügen über «bösartige» Eierstöcke, derselbe Vermerk in der Krankenakte: «Die Diagnose ist der Patientin auf keinen Fall mitzuteilen.»

Manche haben einen trotzigen Humor bewahrt. Wenn sie aufs Klo gehen, sagen sie: «Ich muss mal für kleine Zwitter.» Das findet Nella wahnsinnig befreiend. Es ist, als würden sie der Gesellschaft ein Schnippchen schlagen: Ätsch, ihr habt uns nicht kleingekriegt. Selbst nach den schlimmsten Erfahrungen kann man noch lachen.

Mit einigen ihrer neuen Freunde chattet sie nun jeden Tag. Das macht der Isolation ein Ende. Aber es löst nicht die Verwirrung. Sie fühlt sich nicht mehr als «Mogelpackung». Aber was ist sie dann? «Völlig weibliche psycho-sexuelle Identität» steht in ihrer Krankenakte. Nella geht in die Luft, wenn sie das liest. «Diese Anmassung der Ärzte, was wissen die schon!» Sie weiss zurzeit nicht mal, ob sie Männer oder Frauen liebt. Sie fühlt nicht wie eine Frau. Sie fühlt auch nicht wie ein Mann. «Ich bin etwas Drittes. Ich bin ein Hermaphrodit.» Das würde sie am liebsten allen sagen, nur ist die Gesellschaft leider nicht bereit dafür. Die Gesellschaft sieht Intersexualität als Krankheit, nicht als Variation der Natur. Was hätten ihre Eltern denn tun sollen? Sie nicht operieren lassen? «Ich weiss es nicht», sagt Nella. Auch ohne Operation wäre es in der Pubertät vielleicht schwierig geworden, falls das in ihren Hoden gebildete Testosteron zu Bartwuchs und Stimmbruch geführt hätte.

Aus ihrer Gruppe kennt sie ein Kind, dessen Eltern mit seiner Intersexualität völlig offen umgehen und es keiner medizinischen Behandlung aussetzen. «Du bist ein ungewöhnliches Mädchen», haben sie zu ihm gesagt, «du hast manches von einem Jungen. Wenn du grösser bist, kannst du dir aussuchen, ob du ein Mädchen oder ein Junge sein willst.» Nella findet das sehr mutig. Doch auch dieses Kind wird es schwer haben, wenn seine Schulkameraden eines Tages beim Duschen sagen: Hey, was hast du denn da zwischen den Beinen?

«Wahrscheinlich gibt es für das Problem, das die Gesellschaft mit uns hat, keine schnelle Lösung», sagt Nella.

Sie wünscht sich, die Gesellschaft könnte es ertragen, Menschen wie sie einfach in Ruhe zu lassen. Dann müsste sie keine Hormone schlucken. Dann hätte sie keine Narben. Dann fehlte ihr nicht so sehr das Fundament für eine stabile Identität. «Stattdessen hätte ich dieses Gefühl, ich wäre ganz. Ich wäre ich selbst. Alles wäre da.»

Es fühlt sich so gut an in ihrer Fantasie.

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Das diktierte Geschlecht

Ob aus einem Embryo ein Mädchen oder ein Junge wird, steuert ein komplexes genetisches Programm, das in bestimmten Entwicklungsphasen die Ausschüttung von Hormonen anregt. Geht dabei etwas schief, kann der Embryo Merkmale beider Geschlechter entwickeln.

Zu den häufigsten Formender Intersexualität gehört die partielle Androgenresistenz (PAIS) wie bei Nella. Sie hat xy-Chromosomen, ist also genetisch männlich. Gleichzeitig sind die Zellen ihres Körpers aber teilweise resistent gegen männliche Hormone, sodass diese im Mutterleib nicht richtig «wirken» konnten. Eine Folge davon ist ein nicht eindeutiges Genital.

Die Praxis, intersexuelle Kinder so früh wie möglich einem Geschlecht zuzuordnen und zu operieren, geht auf eine – heute widerlegte – Theorie des US-Sexualforschers John Money zurück. Money glaubte, die geschlechtliche Identität sei das Ergebnis sozialer Prägung. Der Mensch komme sozusagen als Neutrum zur Welt und lerne erst von seinen Eltern, sich als Mädchen oder Junge zu fühlen. Damit die Eltern ihm eine eindeutige Geschlechtsidentität vermitteln könnten, müsse ein nicht eindeutiges Genital so schnell wie möglich operiert werden – und das Kind dürfe anschliessend auf keinen Fall davon erfahren.

Viele Geschlechtszuweisungen erweisen sich jedoch als falsch, und die Betroffenen leiden ein Leben lang physisch und psychisch darunter. Obwohl die Mikrochirurgie grosse Fortschritte gemacht hat, haben Genitalkorrekturen auch heute noch häufig zur Folge, dass das sexuelle Lustempfinden verloren geht oder dass sexuelle Erregung als schmerzhaft wahrgenommen wird. Und die körperfremden Hormone, die viele Intersexuelle nach einer Kastration lebenslänglich einnehmen müssen, haben schwere Nebenwirkungen zur Folge.

Fortschrittliche Ärzte sprechen sich heute dafür aus, einem intersexuellen Kind ein vorläufiges Geschlecht zuzuweisen, dieses aber nicht vor der Pubertät mit Operationen festzulegen, sodass das Kind selbst entscheiden kann, ob es als Mann oder Frau (oder weiter als Hermaphrodit) leben will.

Mehr Informationen www.infointersex.ch: Die Website ist noch im Aufbau, enthält aber hervorragende Links mit Adressen von Selbsthilfegruppen und Forschungsnetzwerken sowie Literaturtipps.

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