"Intersexualität": Aufforderung um Unterstützung an Deutschen Ethikrat
Sehr geehrte Frau Florian
Bezug nehmend auf unser Telefongespräch von letzter Woche und Ihr Gespräch mit
unserem Vereinsmitglied [...] möchte ich Sie auf die Dringlichkeit hinweisen,
mit der die Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen in Deutschland
behandelt werden müssen.
Dazu lasse ich Ihnen erstmals ein paar Informationen zukommen, die Ihnen ein
Bild über die Situation von Intersexuellen verschaffen sollen.
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INHALT
1. Einleitung
2. Studien des Netzwerks Intersexualität/DSD sprechen Klartext
3. Schattenbericht und Forderungsliste
4. Juristische Probleme und Diskriminierungen
a) Verjährung: Christiane Völling gewinnt in letzter Minute Zwitter-Prozess
gegen ehemaligen Operateur
b) Diskrimierung gegenüber Knaben- und Mädchenbeschneidung
c) Diskriminierung Sterilisations- und Kastrationsverbot
5. Wir bitten um Ihre Unterstützung!
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1. Einleitung
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Bis heute werden Menschen, die mit "uneindeutigen" Geschlechtsmerkmalen geboren
werden, ohne ihre Einwilligung zwangskastriert, an ihren "uneindeutigen"
Genitalien zwangsoperiert und Zwangshormontherapien unterzogen, um ihr
"uneindeutiges" Geschlecht zu "vereinheitlichen".
Allein in Deutschland leben schätzungsweise 80’000 bis 100’000 sogenannte
Zwischengeschlechtliche, Intersexuelle, Zwitter oder Hermaphroditen.
Juristisch, politisch und sozial werden sie nach wie vor unsichtbar gemacht und
ihrer (Menschen-)Rechte beraubt.
Siehe auch: Präambel Forderungsliste Intersexuelle Menschen
e.V.:
http://intersex.schattenbericht.org/pages/Forderungen-Intersexuelle-Menschen-eV
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2. Studien des Netzwerks Intersexualität/DSD sprechen Klartext
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Bis heute schaut die Bundesregierung weg und negiert diese systematischen
Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen, obwohl sie in den letzten zwölf
Jahren mehrmals dazu aufgefordert wurde, zur Situation der intersexuellen
Menschen in Deutschland, der medizinischen Praxis und den rechtlichen
Implikationen Stellung zu nehmen.
Stattdessen propagiert die Bundesregierung die Zwangseingriffe aktiv mit
tatsachenwidrigen Behauptungen:
- Der Bundesregierung sei nicht bekannt, „dass eine Vielzahl von Intersexuellen im Erwachsenenalter die an ihnen vorgenommenen Eingriffe kritisiert“ (14/5627).
- Die Zwangsoperationen seien ausnahmslos "medizinisch indiziert" und dienten deshalb dem "Kindeswohl [...] (§ 1627 BGB)" (14/5627).
- "[G]rößer angelegte Nachuntersuchungen als auch die klinische Praxis" würden laut Bundesregierung gar beweisen, "dass die Mehrzahl der betroffenen Patienten rückblickend (d. h. im Erwachsenenalter) die bei ihnen in der Kindheit vorgenommene operative Vereindeutigung ihres Genitalbefundes für richtig befinden" – allerdings vermochte die Bundesregierung dafür keine Belege anzuführen (16/4786).
Ausführlicher: Die Bundesregierung vs. Zwitter:
http://de.indymedia.org/2008/11/233955.shtml
Aktuelle Forschungsergebnisse des "Netzwerk Intersexualität/DSD" beweisen
gegenüber den Behauptungen der Bundesregierung einmal mehr das Gegenteil:
- Die meisten Opfer der menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ihr Leben lang leiden.
- Nicht zwangsoperierte Zwitter haben im Vergleich eine deutlich höhere Lebensqualität.
- Trotzdem werden nach wie vor über 80% aller Zwitter meist mehrfach zwangsoperiert.
Aktuelle Studienergebnisse in Deutschland: Ausführlicher
hier:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/12/04/Weltweit-grosste-Zwitter-Studie-straft-Bundesregierung-Lugen
Schon 2007 bekräftigte die "Hamburger Studie": Die
"Behandlungsunzufriedenheit von Intersexuellen ist eklatant hoch".
Denselben Tatbestand untermauert nun auch eine erste Vorveröffentlichung der
"Lübecker Studie", mit 439 ProbandInnen die weltweit bisher
größte Untersuchung der Folgen von Zwangsbehandlungen:
Die Behandlungszufriedenheit ist bei intersexuellen
Erwachsenen und auch Eltern intersexueller Kinder "gering" (S. 18 ). Vor allem
erwachsene Intersexuelle sind "mit der medizinischen Behandlung sehr
unzufrieden" (S. 37), insbesondere diejenigen, die keine psychologische
Beratung erhalten haben (S. 19 ). (Obwohl Betroffenenorganisationen seit 15
Jahren psychologische Beratung als Muss fordern, ist sie immer noch die
Ausnahme.)
Die Beratungszufriedenheit auch der Eltern ist signifikant
geringer als bei "anderen chronischen Erkrankungen" (S. 18 ).
Eltern sowie Kinder und Jugendliche berichten von "Beeinträchtigungen
ihrer Lebensqualität" (S. 21). Sowohl das körperliche als auch das
psychische Wohlbefinden ist "deutlich niedriger" als bei Nicht-Intersexuellen
(S. 21). Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist auch bei erwachsenen
Intersexuellen deutlich niedriger als bei Nicht-Intersexuellen (S. 22).
Je mehr Zwangsoperationen durchgeführt wurden, desto stärker leidet die
Lebensqualität besonders "im Bereich körperliche Schmerzen" (S. 22). "25
Prozent aller operierten StudienteilnehmerInnen" berichten von Komplikationen
"im Anschluss an die Operationen" (S. 17).
Insbesondere bei operativ und hormonell dem weiblichen Geschlecht
"angeglichenen" Intersexuellen sind "in den Bereichen allgemeine
Lebensqualität, psychische und körperliche Gesundheit deutliche Unterschiede
zur Vergleichsgruppe" (S. 22) zu finden.
Insgesamt leiden 45 Prozent der Erwachsenen unter psychischen
Problemen, die "insbesondere die Arbeit und den Alltag"
beeinträchtigen (S. 37).
Auch im Bereich "Sexualität und Partnerschaft" offenbart die
Studie ein erschreckendes Bild:
Während bei nicht-intersexuellen Jugendlichen und Erwachsenen nur eine
Minderheit keine Beziehungen und sexuelle Kontakte haben, sind die Verhältnisse
bei Intersexuellen genau umgekehrt (S. 30-31).
Fast die Hälfte der Erwachsenen berichten "über eine Vielzahl von Problemen im
Zusammenhang mit der Sexualität" wie "sexuelle Lustlosigkeit" oder "Schmerzen",
zwei Drittel sehen "einen Zusammenhang zwischen diesen sexuellen Problemen und
[...] den [...] medizinischen und chirurgischen Maßnahmen" (S. 31).
Die Studienergebnisse bestätigen überdies, je häufiger Intersexuelle
Zwangsoperationen unterworfen werden, desto seltener leben sie in einer festen
Partnerschaft – und umgekehrt (S. 31).
Intersexuelle Menschen e.V. fordert Gerechtigkeit!
Entgegen der Lippenbekenntnisse von Medizinern wird nach wie vor die
überwiegende Mehrzahl zwischengeschlechtlicher Menschen mehrfach
zwangsoperiert.
Am 21. Juli 2008 reichte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e.V. in New
York vor dem UN-Komitee CEDAW einen ersten Schattenbericht zu den
Menschenrechtsverstößen gegenüber intersexuellen Menschen in Deutschland ein.
Im kommenden Januar wird die Bundesregierung in Genf Rede und Antwort stehen
müssen. Weitere Vorstöße sind in Vorbereitung.
Der Dachverband der deutschsprachigen Selbsthilfegruppen, Intersexuelle
Menschen e.V., fordert ein Leben in Würde für alle zwischengeschlechtlichen
Menschen, das sofortige Ende der von der Bundesregierung geduldeten,
menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen und eine angemessene Entschädigung für
alle Opfer!
Öffentliche Veranstaltung am Montag, 15. Dezember 2008 in
Berlin:
Podiumsdiskussion, Vorstellung und Übergabe der CEDAW-Schattenberichte an die
Bundesregierung >> http://www.boell.de/calendar/VA-viewevt-de.aspx?evtid=5707
Literatur und Quellen:
"Hamburger Studie"
http://www.springer.com/medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0
Vorabbericht der "Lübecker Studie"
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/12/04/Weltweit-grosste-Zwitter-Studie-straft-Bundesregierung-Lugen
CEDAW-Schattenbericht Intersexuelle Menschen e.V.
http://intersex.schattenbericht.org
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3. Schattenbericht und Forderungsliste
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Am 21. Juli 2008 reichte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e.V. in New
York vor dem UN-Komitee CEDAW einen ersten Schattenbericht zu den
Menschenrechtsverstössen an intersexuellen Menschen in Deutschland ein.
Bestandteil des Schattenberichts ist die Forderungsliste des Vereins
Intersexuelle Menschen e.V., die am 20. Juli 2008 präsentiert wurde.
Darin sind verschiedene Menschenrechtsverletzungen, denen intersexuelle
Menschen regelmässig ausgesetzt sind, detailliert dokumentiert.
http://intersex.schattenbericht.org
Dem Schattenbericht beigefügt war auch die Forderungsliste von
Intersexuelle Menschen e.V.
http://intersex.schattenbericht.org/pages/Forderungen-Intersexuelle-Menschen-eV
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4. Juristische Probleme und Diskriminierungen
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a) Verjährung: Christiane Völling gewinnt in letzter Minute
Zwitter-Prozess gegen ehemaligen Operateur
Am 12.12.2007 fand am Landgericht in Köln ein Prozess statt, der auf ein
grosses Medienecho stiess und für zwischengeschlechtliche Menschen einen
Meilenstein im Kampf für ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Würde
darstellte. Mit einer Kundgebung vor dem Landgericht drückte der Verein
Intersexuelle Menschen e.V. seine Solidarität mit Christiane Völling aus und
forderte: Menschenrechte auch für Zwitter! Schluss mit genitalen
Zwangsoperationen!
Das erste Urteil erfolgte am 6.2.2008 am Landesgericht Köln: Christiane Völling
gewann den Prozess gegen Ihren ehemaligen Operateur in erster Instanz! Richter
Dietmar Reiprich hielt gleich zu Beginn fest: "Die Klage ist dem Grunde nach
gerechtfertigt."
Vollständiges Gerichtsurteil:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2008/25_O_179_07grundurteil20080206.html)
Prozessbericht und Pressespiegel:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/02/07/Sieg-fur-Christiane-Volling
Am 3.9.2008 lehnte das Oberlandesgericht Köln die Berufung des Chirurgen
einstimmig definitiv ab: "Der Chirurg hat die Patientin vor der Operation nicht
hinreichend aufgeklärt und sie daher mangels wirksamer Einwilligung schuldhaft
in ihrer Gesundheit und ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzt."
Das Verfahren ging ans Landgericht zurück, wo bis heute über die Höhe des
Schmerzensgeldes entschieden wird. Gefordert sind mindestens 100'000
Euro.
Vollständiger Beschluss der Zurückweisung:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/koeln/j2008/5_U_51_08beschluss20080903.html
Pressespiegel:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2008/09/10/Von-Zwangsoperateur-schuldhaft-in-Selbstbestimmungsrecht-verletzt-Zwitterprozess-Pressespiegel-OLG-4608
Viele weitere Betroffene haben keine Möglichkeit zur Klage, da die
herkömmlichen Verjährungsbestimmungen und die durch die Zwangsbehandlungen
resultierenden Traumata eine rechtzeitige Klage verunmöglichen (ähnlich wie bei
sexuellem Kindsmissbrauch). Auch Christiane Völling wäre die Verjährung um ein
Haar zuvor gekommen.
b) Diskrimierung gegenüber Knaben- und
Mädchenbeschneidung
Bei Knabenbeschneidungen handelt es sich in der Regel ebenfalls nicht um
eingewilligte, medizinisch nicht indizierte Operationen, zu welcher auch die
Erziehungsberechtigten keine Einwilligungserlaubnis haben. Die hat inzwischen
auch das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. festgehalten:
http://web2.justiz.hessen.de/migration/rechtsp.nsf/92FC95DE06E27651C125734C0031B366/$file/04w01207.pdf
Auch bei Phimose wird deshalb inzwischen von Knabenbeschneidungen im
Kleinkindalter abgeraten:
http://www.aerztezeitung.de/medizin/fachbereiche/paediatrie/default.aspx?sid=305805
Mittlerweile setzt sich gar die Auffassung durch, Beschneidungen an Knaben ohne
Einwilligung der Betroffenen seien generell widerrechtlich:
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=61273
Die Mädchenbeschneidung ist in Deutschland unbestrittenermassen prinzipiell
strafrechtlich geächtet.
Obwohl juristisch wie auch betreffend der Folgen für die Opfer in vielfacher
Hinsicht mit Knaben- und Mädchenbeschneidung vergleichbar, werden genitale
uneingewilligte Zwangsoperationen ohne medizinische Indikation an jungen
Intersexuellen nach wie vor systematisch praktiziert.
c) Diskriminierung Sterilisations- und Kastrationsverbot
In Deutschland sind Eltern zur Einwilligung von Kastration oder Sterilisation
bei ihren Mündeln unbestrittenermassen nicht befugt. Trotzdem werden an
Intersexuellen Kindern systematisch Zwangskastrationen durchgeführt.
http://www.lobby-fuer-menschenrechte.de/Intersexualitaet02.php
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5. Wir bitten um Ihre Unterstützung!
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Zwischengeschlechtliche Menschen werden systematisch medizinisch nicht
notwendigen, traumatisierenden Zwangsbehandlungen unterworfen. Diese stellen
einen erheblichen Verstoß gegen ihr Menschenrecht auf körperliche
Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde dar.
Intersexuelle Menschen e.V. fordert die vollständige Umsetzung und Anwendung
der Menschenrechte auch für Intersexuelle. Unsere Anliegen dürfen nicht mehr
länger ignoriert werden. Menschen mit einer Besonderheit der geschlechtlichen
Entwicklung sind ein Teil unserer Gesellschaft und haben als gleichberechtigte
Bürger ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung.
Wir bitten den Deutschen Ethikrat, sich mit unserer Situation ernsthaft
auseinander zu setzen und seinen Beitrag zu leisten, damit diese
Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen gegen Intersexuelle Menschen
endlich ein Ende haben.
Ich bitte Sie um eine zeitnahe Stellungnahme.
Freundliche Grüsse
Daniela Truffer
1. Vorsitzende Intersexuelle Menschen e.V.
>>> 150 Jahre
Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
Siehe auch:
-
Erneute Anfrage um Unterstützung an Deutschen Ethikrat
- Deutscher
Ethikrat reiht sich ein unter die MittäterInnen
Published on Thursday, December 11 2008 by seelenlos