Die Legende vom besonderen Kind
Als ich zur Welt kam, war ich erst einmal ein ganz normales Mädchen. Ich war jahrelang der Meinung, daß meinen Eltern der traditionell männliche Erstgeborene lieber gewesen wäre, und sei es nur, weil ich in eine patriarchalisch strukturierte Großfamilie hineingeboren wurde. Meine Eltern verneinen das, und ich glaube ihnen. Daß sie aber tatsächlich erfolgreich einen Sohn gezeugt hatten, der bloß keiner werden wollte, wußte damals noch niemand. Das kam erst später ans Licht, auf Umwegen.
Als es soweit war, hatte ich schon die ersten zehn Jahre meines Lebens
hinter mir. Jahre, in denen ich als Papakind lernte, selbstbewußt,
eigenständig, unabhängig aufzutreten und mich in allen Lebenslagen wacker zu
behaupten. Jahre, in denen ich oft ein besserer Junge als meine Spielkameraden
war – und als mein um drei Jahre jüngerer Bruder sowieso. Jahre, in denen ich
mir Nischen suchte, wenn ich mal ein kleines Mädchen sein wollte – klein genug,
um bevorzugt von Männern (anderen als meinem Vater) auf den Arm genommen und
herumgetragen zu werden. Jahre, in denen ich immer wieder die Erfahrung machte,
daß Leistung mit Aufmerksamkeit und Anerkennung belohnt wurde, vielleicht sogar
mit Liebe. Jahre, in denen ich immer wieder ausprobierte, ob es auch anders
ging. Entweder, indem ich gründlich dafür sorgte, daß man sich um mich Sorgen
machen mußte, weil ich so draufgängerisch war und ständig blaue Flecken,
Schürfwunden oder schlimmere Blessuren hatte. Oder, indem ich mit trotzigem und
auffälligem Verhalten provozierte, wobei es mich immer sehr (aber nie sehr
lange) beruhigte, wenn ich zu dem Schluß kommen durfte, daß ich trotz meines
Hangs zum Extrem geliebt wurde.
Ganz sicher war ich mir da offenbar nie. Komisch eigentlich. Denn daß meine
Eltern mich lieb hatten, daran konnte kein Zweifel sein.
Aber liebten sie mich als die, die ich war. Als das, was ich war? War ich
genug, wie ich war? War ich es wirklich wert, geliebt zu werden? Wer war ich
denn?
Nicht, daß ich mir diese Frage je gestellt hätte. Das kam auch erst später.
Doch ich träumte oft davon, plötzlich tot zu sein und umgeben von Blumen im
Sarg aufgebahrt zu liegen. Dabei genoß ich die Vorstellung, wie alle um mich
weinten, und wie „es“ ihnen ordentlich leid täte.
Was genau ihnen leid tun sollte, hätte ich auf Nachfrage wahrscheinlich gar
nicht sagen können. Ich fühlte mich irgendwie nicht sicher. Irgendwas war faul.
Oder eben besonders. Merkwürdig ist, daß wir uns da offensichtlich einig waren,
meine Eltern und ich, denn ich trug das Etikett „besonderes Kind“. Nur …
warum?
Warum auch immer, wurde so der spätere Konflikt vorweggenommen. Erst gab es Probleme, weil ich kein Junge war. Später gab es Probleme, weil ich vielleicht doch kein Mädchen war. Oder kein richtiges. Und nur aus einem richtigen Mädchen kann auch eine richtige Frau werden. Oder?
Als die Sache herauskam und meine Besonderheit evident wurde, war ich, wie
schon erwähnt, bereits über zehn Jahre alt. Und hatte nicht nur einen Bruder,
sondern auch noch eine um sechs Jahre jüngere Schwester, die ganz anders –
nämlich entschieden mädchenhafter –, aber genauso besonders war wie ich,
zumindest im biologischen Sinn.
Beide hatten wir angeborene Leistenbrüche, die der Vater einer
Kindergartenfreundin meiner Schwester, ein Gynäkologe, als möglichen Hinweis
auf „testikuläre Feminisierung“ deutete. Und er sollte recht behalten.
Erste Untersuchungen ergaben, daß uns beiden trotz eindeutig weiblicher,
unauffälliger äußerer Genitalien die weiblichen inneren Geschlechtsorgane
fehlten. Spätere Untersuchungen zeigten, daß wir außerdem einen
XY-Chromosomensatz aufwiesen und beide eine komplette Androgenresistenz
ausgebildet hatten.
Heute nennt man das CAIS für Complete Androgen Insensitivity Syndrome.
Natürlich wurde der Befund uns Kindern nicht mitgeteilt. Unsere Eltern
entschieden im Einvernehmen mit den zu Rate gezogenen Ärzten, daß wir
„unbeschwert“ aufwachsen sollten, wobei man beschloß, die pubertäre Entwickung
besonders aufmerksam zu begleiten und gegebenenfalls medizinisch zu steuern
oder zu korrigieren, falls nötig.
Glücklicherweise kam es dazu nicht. Meine körperliche Entwicklung vollzog sich
höchst erfreulich, von Hormongaben während der Pubertät konnte abgesehen
werden. Nur die Regel kam nicht. Daß die Monatsblutungen spät einsetzten, war
in der Familie allerdings schon vorgekommen, und eine Tante konnte vorgewiesen
werden, die ihre Tage erst mit 19 bekommen hatte. So war weiterer Aufschub
relativ unproblematisch möglich.
So weit, so gut. Es ist nachvollziehbar, daß Eltern, wenn sie keine
fruchtbaren Impulse von Medizinern und anderen Ratgebern erhalten, so
entscheiden. Und es ist ganz sicher eine vorsichtige und liebevolle
Entscheidung.
Doch auch solche Elternliebe macht blind. Die Vorzeichen dieser dem elterlichen
Wunsch nach „unbeschwerten“ Zeit des Heranwachsens waren folgende: Die Last der
Wahrheit ruhte allein auf den Schultern meiner Eltern. Sie trugen dieses
Gewicht an meiner Stelle, wo es schwerer und schwerer wurde, je mehr ich
heranwuchs. Und es belastete sie. Mir dagegen fehlte ein Stück meiner eigenen
Lebenswahrheit, ein Teil meiner selbst, ohne den ich mich natürlich nicht zu
mir hin, sondern nur von mir weg entwickeln konnte. Die unbeschwerte
Leichtigkeit meines Seins war eine Farce.
Hinzu kommt: Weil wir nicht miteinander redeten, wurde die Sache an sich im
Laufe der Zeit unaussprechlich. Auf dringende Empfehlung sogenannter Experten
hin, wurde auf Fragen bestenfalls mit Ausflüchten geantwortet. Die Wahrheit
wurde mir vorenthalten, weil ich noch zu unreif war. Doch diese Unreife wurde
durch die fehlenden Informationen geradezu konserviert, fortgeschrieben. Als
ich die Wahrheit dann mit 16 Jahren erfahren durfte, fehlte mir jegliche innere
Reife, um sie zu verarbeiten. Denn die fehlende Konfrontation mit der eigenen
Besonderheit hatte mich nicht nur geschont. Sie hatte auch eine innere
Entwicklung verhindert, die ich als „besonderes Kind“ nun in einem Sprung hätte
nachholen müssen, um mit der eigenen Besonderheit leben zu können. Natürlich
war das unmöglich. Der einzige zur Verfügung stehende Weg war die Verdrängung
…
Mit dem Verdrängen begann ich früh – wie früh, weiß ich nicht. Erinnern kann ich mich jedoch zum Beispiel daran, daß ich bei den seit meinem 13. Lebensjahr zweimal jährlich anstehenden Gynäkologenbesuchen nie eine Frage gestellt habe – weder dem Arzt, noch meiner Mutter. Daß ich überhaupt dorthin mußte, kann ich nicht verstanden haben, habe es meines Wissens auch nie versucht zu verstehen. Es geschah über meinen Kopf hinweg mit meiner unausgesprochenen Zustimmung. So fuhren wir jedes Mal wortlos dorthin, ich absolvierte meine Sitzung auf dem Stuhl, wunderte mich diffus darüber, warum das jeweilige Untersuchungsergebnis den Arzt so offensichtlich froh stimmte, war wohl aber selber froh, daß „alles in Ordnung“ war, wartete vor der Tür, wenn der Arzt meine Mutter regelmäßig zum Vier-Augen-Gespräch ins Sprechzimmer bat, lauschte auch nie an der Tür, wartete einfach draußen, bis wir wortlos wieder heimfuhren. So jedenfalls will es meine Erinnerung. Ich denke, daß es in dieser Zeit allmählich begann, daß die Sprachlosigkeit zum Prinzip wurde.
Um mich aufzuklären, fuhren meine Eltern mit mir weg. Ich werde nie
vergessen, wie glücklich ich darüber war. Nur wir drei, ich hatte die Eltern
ganz für mich allein und stand im Mittelpunkt ihres Interesses. Dann kam die
Stunde der Wahrheit, und Mama und Papa gaben sich alle Mühe, sie mir liebevoll
beizubringen und gut zu erklären. Was für ein Streß: Sie hatten alles auf diese
eine Karte gesetzt, und nun mußten sie mit dieser Karte einen Stich machen, um
den nicht zugelassenen Prozeß zu kompensieren.
Aber Mühe allein genügt nicht. Was sich mir in diesem Moment einprägte, war,
daß ich trotz meiner Besonderheit liebenswert und wertvoll war, auch ganz Frau
natürlich. Das hatten sich meine Eltern wohl all die Jahre selbst immer wieder
eingeredet. Meiner Besonderheit zum Trotz und obwohl mir etwas fehlte, war ich
liebenswert und wertvoll, auch ganz Frau natürlich. Aber nicht, weil ich so
war, wie ich war.
Daß ich mein eigenes So-Sein unter diesen Voraussetzungen nur als
Mangelzustand wahrnehmen konnte, liegt nahe. Seither war da dieses Fragezeichen
hinter meiner Person, hinter meinem Frausein natürlich auch. Es verfolgte mich
wie ein Schatten, wurde zu einem Teil meinerselbst, indem es den fehlenden Teil
in meinem Inneren ersetzte beziehungsweise dessen Platz einnahm und hartnäckig
okkupiert hielt.
Niemand wird eins mit sich selbst, der von einem Fragezeichen beschattet wird.
Niemand entwickelt eine gesunde – auch sexuelle – Identität, dem zur
Vollwertigkeit – auch der sexuellen – etwas fehlt. Niemand findet selbst das
Schöne schön, wenn die Wahrheit eine häßliche ist. Die Norm ist dagegen, also
geschieht es nicht.
Wir alle, meine gesamte Familie, waren Opfer der Norm. Wir verhielten uns
und fühlten so. Wir lebten im ständigen Kampf mit der Norm. Und der einzige
Weg, diesen Kampf zu gewinnen, war besser zu sein, die Norm zu
übertreffen.
Gar nicht so einfach: Denn wir waren ja alle Einzelkämpfer. Das zu hütende
Familiengeheimnis schweißte uns zusammen, löste aber die Isolation der
Einzelnen nicht auf. Da wir das Reden miteinander – zumindest über dieses Thema
– nicht gelernt hatten, nicht hatten üben dürfen, blieben wir stumm. Selbst
dann noch, als das Reden eigentlich erlaubt war. Unser Verhalten, unser Umgang
miteinander, waren geprägt von Annahmen, Unterstellungen, Deutungen,
Interpretationen, Projektionen. Denn ein offener Austausch wurde zwar immer
beschworen, fand aber nicht statt.
Das war umso schmerzlicher, als diese Blockade gar nicht zu uns paßte. Wir
waren keine verkorkste, wir waren im Grunde eine schöne Familie, die fest
zusammenstand und in Liebe miteinander verbunden war. Trotz dieser Nähe waren
wir meilenweit voneinander entfernt. Wir waren eine – von außen nicht selten
mit Neid betrachtete – vorbildliche Familie, aber wir waren nicht wir selbst.
Wesentliche Beziehungen untereinander gab es nicht.
Weil ich also über meine Besonderheit aus einer Vielzahl verzwickter und
unglücklich miteinander verwobener Gründe nicht sprechen konnte, entwickelte
ich meine eigenen einsamen Strategien. In der Schule hatte ich nun immer
Tampons parat, falls eins von den anderen Mädchen einen brauchen und mich
darauf ansprechen sollte. Ansonsten verhielt ich mich gegen die Norm. Ich lebte
im verdeckten Widerstand.
Irgendwie brachte ich die letzten beiden Schuljahre erfolgreich hinter mich.
Zwei weitere Jahre, die von mir einerseits latent weniger forderten, als ich
draufhatte. Mir andererseits aber ständig zu viel abverlangten, weil ich im
Grunde lieber ein Kind geblieben wäre. Oder wäre es richtiger zu sagen, ich
wäre gerne eines gewesen?
Meine sich erst spät entwickelnde Weiblichkeit glich ich durch
provozierenden Intellekt aus, meine Naivität und meinen Mangel an Reife durch
eine vorwitzige, forsch-unterhaltsame, aggressive Art des Auftretens nach dem
Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.
Leider klappte das natürlich nicht in allen Lebensbereichen. Meine ersten
Beziehungen zum anderen Geschlecht waren enttäuschend, unglücklicherweise war
vor allem das sprichwörtliche „erste Mal“ stark traumatisierend und blieb für
die darauffolgenden zwei Jahre mein letztes Mal.
Als ich 18 war und mein frühes Abi in der Tasche hatte, zog ich fort von
Zuhause: Die ZVS wies mir einen Studienplatz rund 400 Kilometer von meiner
Geburtsstadt entfernt zu.
Diesem Ruf folgte ich ungerührt, was als massiver Freiheitsdrang und
Unabhängigkeitswunsch gewertet und bedingungslos akzeptiert wurde. Auch ich
glaubte ganz fest an diesen Mythos. Nun hatte ich etwas zu beweisen, und das
tat ich auch. Und zwar gründlich.
Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, sie habe nach meinem Weggang aus dem
Elternhaus viel um mich geweint, habe oft den Wunsch gehabt, mir näher zu sein,
mich wenigstens anzurufen, sich das aber mir zuliebe versagt, weil ich doch so
offensichtlich wegstrebte von Zuhause und eine Freiheit suchte, die ich nur
finden konnte, wenn man mich losließ.
Viel dringender als losgelassen zu werden, hätte ich etwas ganz anderes
gebraucht, aber das war mir selbst nicht bewußt – so wenig, wie vieles andere
auch …
Ich studierte endlos, engagierte mich kulturell und gesellschaftlich, war Sängerin in einer Punkband, später bei zickigen Avantgarde-Pop-Projekten, organisierte Festivals und Parties, arbeitete als DJ und Musikjournalistin, trat in Kurzfilmen und als Produzentin auf, bis ich irgendwann mein Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft tatsächlich beendete und als Quereinsteigerin in der Werbung landete. Was sonst: Immer war ich außer mir, mehr draußen als drinnen. Und wie auch anders, denn ich war ja bei mir nicht zu Haus, nicht eins mit mir.
Meine Glücksmomente waren kurzlebig. Zufriedenheit war ein Fremdwort,
Mittelmaß ein Reizwort für mich. Zur Ruhe kam ich nie.
Eine Zeitlang, zwischen 18 und 20, schlief ich mit möglichst vielen, möglichst
verschiedenen Männern. Spaß machte das selten, aber es wertete mich auf. Dabei
war ich emotional völlig überfordert. Ich war so hungrig und konnte nie satt
werden. Ich war unersättlich nach Anerkennung und Zuneigung, die ich mir zu
erarbeiten, zu verdienen versuchte, so wie ich es eben konnte, wie ich es eben
gelernt hatte.
Einer meiner Maßstäbe war es, besser zu sein als die Männer. Mein eigenes Maß
kannte ich gar nicht. Das Fatale war, daß ich bei all meinen grandiosen
Aktivitäten gar nicht mich selbst verwirklichte, sondern immer als dienstbarer
Geist unterwegs war. Ich bat indirekt um Entschuldigung dafür, so zu sein, wie
ich war, und bemühte mich um Ausgleich. Ich war im Dauereinsatz für den
Ausgleich meines Mangels. Ich strengte mich an, das lästige Fragezeichen durch
eine Vielzahl von Ausrufezeichen zu ersetzen.
Eigentlich wollte ich einfach nur geliebt werden. Trotz meiner Besonderheit, oder wegen ihr, oder einfach so wie ich war. Das war mir aber nicht bewußt, ich kannte die wahre Triebfeder meines umtriebigen Verhaltens nicht. Ich dachte, das Leben wäre eben so oder müßte so sein.
Folgerichtig entwickelte ich ein sehr ungutes Beziehungsmuster. Die Männer,
die ich mir aussuchte, waren allesamt recht egozentrisch, zumeist Künstler oder
im weitesten Sinne Kreative, die um sich selber kreisten. Damit war ich
insofern auf der sicheren Seite, als ich nicht befürchten mußte, aufgrund
meiner fehlenden Fruchtbarkeit Schwierigkeiten zu bekommen oder gar verlassen
zu werden. Denn kein Mann, der auf diese Weise um sich selber kreist, bindet
sich einen Familienklotz ans Bein. Alle Energie soll ihm zufließen, abgeben
will er keine, in seiner Freiheit eingeschränkt werden schon gar nicht.
Eine weitere Bedingung war, daß diese Männer seelisch halbe Portionen sein
mußten, die irgendein massives Problem mit sich herumtrugen. So konnte ich die
Energien, die ich für die Lösung meiner eigenen, verdrängten Probleme nicht
nutzte, in die Persönlichkeiten meiner Partner investieren und versuchen, sie
gesundzulieben. Indem ich mich für die Sache meiner Männer aufrieb, wurde ich
in gewisser Weise auch unentbehrlich für sie.
Symbiotische Beziehungen mit wechselseitigen Abhängigkeiten waren die Folge,
die mir die grundfeste Sicherheit gaben, bestimmt nicht verlassen zu werden.
Denn das war eine meiner schlimmsten Ängste: Allein konnte ich nicht sein, weil
ich mir selbst nicht genug war, und verlassen zu werden, war für mich der
Inbegriff von Abwertung. Dafür nahm ich Beziehungen in Kauf, in denen es mir
nicht gut ging, in denen ich nicht wahrgenommen wurde und nicht satt werden
konnte.
In diesen Beziehungen fehlte es deutlich am Wesentlichen. Ohne mir dessen
bewußt zu sein, ging ich aufgrund meines lädierten Selbstwertgefühls offenbar
davon aus, nichts Besseres verdient zu haben. Ich lebte nach wie vor an meiner
Besonderheit vorbei …
Oft war ich wahlweise aggressiv oder leidenschaftlich, oft zornig, oft
verzweifelt, oft mutlos. Nach außen hin wirkte ich wahlweise arrogant oder
bewundernswert, in meinen Beziehungen oft lästig bedürftig, dabei immer
auffällig, immer anstrengend.
Erst als ich dank therapeutischer Hilfe zu mir selbst fand, hörte dieses
Karussell auf sich zu drehen.
Es dauerte Jahre, aber irgendwann hörte die Kreisfahrt auf. Ich hörte auf, an
mir selbst vorbeizuleben, mich um mich selbst zu drehen. Ich lernte, in mich zu
gehen. Dort drinnen, ganz unten im Keller fand ich ein kleines Mädchen. Sie
hatte sich zwar ein bißchen schmutzig gemacht, da unten, aber sie war ganz
reizend – bewundernswert geduldig und rührend ängstlich. Sie wollte ein bißchen
auf den Arm.
Dies kleine Mädchen war ich, es war mein inneres Kind, das nicht mit mir
mitgewachsen war. Ich nahm mich selber bei der Hand und brachte mich zur Welt.
Eine Zeitlang stellte ich mir das kleine Mädchen als reale Person vor, sprach
laut mit ihr, fragte sie nach ihren Bedürfnissen und nach ihrer Meinung zu
allen möglichen Dingen, ich nahm sie wirklich ernst …
Irgendwann hörten die Selbstgespräche auf. Das kleine Mädchen und ich wurden
eins. Dann kam die Sache mit dem Erwachsenwerden. Daran arbeite ich noch.
Aber ich bin schon recht weit gekommen. Ich habe erfahren, der Schlüssel zu
allem ist die Selbstliebe: Ich bin, wie ich bin, o.k. Nicht trotzdem, sondern
weil ich so bin, wie ich bin, bin ich liebenswert und wertvoll.
Je mehr ich bei mir bin und bleibe, desto besser geht es mir, desto besser
komme ich zurecht. Ich bin der einzig gültige Maßstab meiner Zufriedenheit. Und
allein verantwortlich für meine innere Freiheit. Ich habe gelernt, daß diese
Freiheit kein Geschenk ist, sondern eine Aufgabe.
Heute führe ich ein gutes kleines Leben als Selbständige und habe keinen Horror mehr vor dem Mittelmaß. Ich bin ich. Das reicht. Eigentlich. Ich mag mich. Meistens. Ich gebe und empfange Liebe. Das ist wunderbar. Ich bin auf unbeschreibliche Weise weiblich. Es geht mir gut.
Ich bin niemandem böse für das, was schiefgelaufen ist. Alle haben ihr Bestes gegeben, nur hat das eben nicht ganz gereicht. Mehr war nicht drin in dieser Gesellschaft zu dieser Zeit. Ich bin froh und voller Dankbarkeit, daß ich auf diesem seltsam schönen Weg mir selbst begegnet bin. Und daß ich meine Beziehungen habe retten können. Zu meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Lieben und zu mir selbst.
Nur manchmal beschleicht mich von ganz fern eine namenlose Trauer. Dann ist mir zum Heulen, und ich weiß nicht, warum. Oder doch? Dann frage ich mich, wie die Liebe zum Bleiben zu bewegen und der innere Friede dauerhaft einzurichten sei: Nicht mehr darüber nachdenken? Mich mit allem Selbstbewußtsein außerhalb der gültigen Norm definieren? Mit dem gleichen Selbstbewußtsein versuchen, den Normbegriff Frau zu erweitern? Es ist und bleibt schwierig, ist und bleibt eine Aufgabe …
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Published on Monday, June 8 2009 by seelenlos