"Genitalverstümmelungen in Deutschland in der Kinder- und Jugendgynäkologie" – AGGPG (1996)
[ Dokumentation der Seite auf der Homepage der Arbeitsgruppe gegen
Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG):
http://home.t-online.de/home/aggpg/is_tdf.htm ]
Zeitschriftenartikel
Genitalverstümmelungen in Deutschland
in der Kinder- und Jugendgynäkologie
Zwei AutorInnen der AG gegen Gewalt
in der Pädiatrie und Gynäkologie
In Deutschland leben mindestens - vage geschätzt - 24000 weißhäutige Menschen
ohne bzw. mit verstümmeltem Lustorgan (Klitoris / Penis), an welchen i.d.R. im
Alter von 1-2 Jahren durch Kindergynäkologen Operationen vorgenommen
wurden.
Die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher, da o.g. Zahl lediglich als
intersexuell Eingestufte betreffen, hinzu kommen genitale Eingriffe bei etwa 5%
(Pelzer/Distler 1994) der weiblichen Bevölkerung mit der Diagnose genitale
Fehl- und Mißbildung. Von weiteren Praktiken, wie auch von dieser, existieren
zumeist weder in der Öffentlichkeit noch in der ÄrztInnenschaft Kenntnisse.
Geschichte der Genitalverstümmelung
Genitalverstümmelungen in westlichen Ländern durch Chirurgen haben Tradition.
So entfernte im 17. Jahrhundert der Chirurg Dionis auf Veranlassung der
Ehemänner Frauen die Klitoris, um „pflichtbewußte“ Frauen aus ihnen zu machen,
1864 empfahl ein berühmter Chirurg, die Klitoris zu schützen und zu diesem
Zweck die Schamlippen zusammenzunähen, 1900 empfahl D. Pouillet, die
empfindlichen Teile mit Silbernitrat zu verätzen, damit sie nicht weiter „Hand
an sich legten“, desweiteren wurden Frauen durch Amputation oder Ausbrennen der
Klitoris von der Masturbation „geheilt“ (geschichtlicher Hintergrund aus
Schüler / Bode, 1992 und Walker, 1993).
Bereits 1937 wird in diesem Zusammenhang von der Behandlung „genitaler
Abnormalitäten“ (Young, 1937) geschrieben.
Kindergynäkologie
Als Begründer der Kindergynäkologie gelten der ungarische Kinderarzt Dobszay
und der Frauenarzt Schauffler 1939. Der erste Praktiker auf diesem Gebiet war
der tschechische Gynäkologe Peter, in Prag entstand in den vierziger Jahren die
erste gynäkologische Abteilung, 1953 wurde der weltweit erste Lehrstuhl für
Kindergynäkologie eingerichtet. 1963 legte Dewhurst im Buch „Gynecological
Disorders of Infants and Children“ seine Erfahrung mit
„Mißbildungsbehandlungen“ bei Mädchen dar, 1967 begann Alfons Huber in
Österreich kindergynäkolgische Sprechstunden abzuhalten, Deutschland zog 1970
mit einer kindergynäkologischen Ambulanz in Mainz nach.
Es kann angenommen werden, daß seit der Eroberung des Frauenkörpers durch die
Medizin Genitalverstümmelungen mit wechselnden Argumenten durchgeführt
werden.
Medizinische Betrachtung
Heute greifen Kinder- und Jugendgynäkologen auf Morphologien zurück, für die
sie freilich selbst die Normen setzen. Hiernach darf zum Beispiel eine Klitoris
in keinem jugend- und kindergynäkologischen Alter größer als 1 cm sein. Neben
einer vergrößerten Klitoris können auch Vagina bzw. Gonaden (Eierstöcke, Hoden)
nur „unzureichend“ ausgebildet sein oder es werden sonstige Normabweichungen
vorgefunden.
Eine intersexuelle Genitalentwicklung - d.h. einem Auftreten entweder von
physischen Charakteristiken beider offiziell anerkannter Geschlechtsmerkmale in
einem Menschen oder ein Vorkommen uneindeutiger bzw. dem „offiziellen“
Geschlecht entgegengesetzter Chromosomenvariationen - existiert bei etwa 4%
(Fausto-Sterling 1993) der Gesamtbevölkerung.
Das „Krankheitsbild“
AdrenoGenitalesSyndrom
Wir wollen stellvertretend das „Krankheitsbild“ AGS herausgreifen:
Es werden während der Schwangerschaft nach Bildung der inneren
Geschlechtsorgane statt des normalerweise von den Nebennierenrinden
produzierten Cortisol nur Androgene gebildet, weil ein bestimmtes Enzym
fehlt.
Dies hat in der Folge ab dem 4./5. Schwangerschaftsmonat Auswirkungen auf die
Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane, welches für Karyotyp 46,XX eine
Virilisierung impliziert, welche ggf. operativ behoben wird. Das äußere
Erscheinungsbild kann für ungeübte Augen dem eines Knaben mehr oder weniger
entfernt ähneln.
Bei AGS gibt es zwei unterschiedliche Enzymdefekte mit den folgenden
Auswirkungen:
1. AGS mit Salzverlust: Sowohl Glucorticoide, als auch Mineralcorticoide werden nicht gebildet. Es ist dabei zuviel Kalium und zu wenig Natrium im Blut und es kommt oft zu lebensgefährlichen Stoffwechselkrisen, wenn die Cortisonsubstitution ausbleibt. Alle Mädchen haben bereits bei der Geburt eine vergrößerte Klitoris und zusammengewachsene Venuslippen (Prader 4 und 5).
2. Unkompliziertes AGS (ohne Salzverlust): Leichtere Form mit weniger sog.
"Virilisierung". Nur das Glucorticoid wird nicht gebildet und muß substituiert
werden.
Genetisch männliche AGS-Geborene mit ebenfalls erhöhter Androgenwirkungen
gelten als gut entwickelt und nicht operationsbedürftig. Es werden Cortison und
bei Salzverlust Mineralkortikoide substituiert, und sie tragen ein erhöhtes
Risiko, an Hodenkrebs zu erkranken.
Die Geschlechtszugehörigkeit steht medizinisch zu keinem Zeitpunkt in Frage, da
man sich nur an der chromosomalen Struktur orientiert.
Die „Behandlung“ von AGS bei dem weiblichen Geschlecht
Zugewiesenen:
Die Diagnose erfolgt in der Regel gleich nach der Geburt,
- da ein intersexuelles Genital ausgebildet ist, das Kind also optisch nicht
sofort von einem Jungen zu unterscheiden ist, der Mutter aber aufgrund von
einer Fruchtwasseruntersuchung mitgeteilt wurde, daß das Baby weiblichen
Geschlechts sei,
oder - das Neugeborene erbricht ständig, so daß AGS mit Salzverlust vorliegen
könnte
In diesen Fällen wird eine Röntgenuntersuchung zur Feststellung der inneren Genitalorgane vorgenommen.
Nach Diagnosestellung wird (lebenslang) mit Cortison behandelt, um die Androgenwirkung herabzusetzen, Minderwuchs zu verhindern oder den manchmal in diesem Zusammenhang auftretenden Salzverlust auszugleichen. Obwohl eine Cortisonsubstitution keine Nebenwirkungen haben sollte, ist die Einstellung oft nicht optimal, und es muß mit den bekannten Nebenwirkungen (Cushing-Syndrom, Depressionen, Osteosporose) gerechnet werden.
Ab einer Virilisierung nach 'Prader 2' wird die Klitoris reduziert, je nach Ausprägung auch die Harnröhre verlegt sowie eine Neovagina konstruiert (meist aus Darmgewebe).
Das Setzen einer Neovagina wird meist damit begründet, daß ein Abfluß für Menstruationsblut geschaffen werden muß, da durch die Cortisongaben die Östrogensynthese nicht mehr gedrosselt ist.
Ärztliche Versicherungen an Eltern, das Kind werde sich zu einem 'normalen' Mädchen entwickeln, basieren eher auf heterosexistischem Wunschdenken als auf empirischen Belegen, denn mindestens 60% aller AGS-Frauen sind lesbisch, weitere 20% bisexuell. Schwangerschaften sind äußerst problematisch. Bei Salzverlust wird frau schwer schwanger, kann die Schwangerschaft dann aber - vermutlich wegen der peniblen Medikamentierung - besser halten.
Operationen
Es erfolgen häufig mindestens zwei Operationen unter Vollnarkose.
Die erste dient einer Aufhebung der diagnostizierten Intersexualität. Dabei
wird der nach außen hin sichtbare Bereich der Klitoris reduziert, bis 1982
bedeutete dies die Amputation derselben. Obwohl von einer
Klitorisschaftresektion bei gleichzeitigem Erhalt der Glans und dem
dazugehörigen Nervenbündel erstmals 1961 berichtet wurde (Altwein, 1989),
wurden noch 20 Jahre später Amputationen vorgenommen.
Seit etwa 1980 werden diverse andere Operationstechniken angewandt: So wird die
Klitoris z.B. mit der sog. „Zieharmonikatechnik“ „verkürzt“. Dies bedeutet die
Entfernung der Schwellkörper und Falten der übrigen Haut, so daß der optische
Eindruck entsteht, eine Klitoris sei noch vorhanden. Oder die Klitoris wird
„gerafft“ und nach innen, das heißt unter die Venuslippen verlegt. Oder es wird
versucht, die Glans zu erhalten, oder „nur“ die Klitorisvorhaut entfernt oder
oder...
Diese Operation wird im Alter zwischen 6 und 36 Monaten durchgeführt, also so
früh wie möglich, da die Ärzte der Meinung sind, daß das Mädchen dann nichts
davon mitbekommt. Als Grund für die Klitoris'reduktion' wird deren Größe
angegeben; deren 'penisähnliche Erscheinung', für die 'sich das Mädchen später
schämen werde.'
Unter männlichen Kollegen ist unumstritten, daß eine störungsfreie
geschlechtsspezifische Erziehung nur möglich ist, wenn eine eindeutige
Geschlechtsidentifikation frühestmöglich gegeben ist (nach Hecker, 1982). Mag
man als Kritikerin dieses Argument akzeptieren oder nicht, so steht doch fest,
daß Klitorisreduktionen allein kosmetische Bedürfnisse befriedigen sollen,
ansonsten jedoch eher dysfunktional sind, da die Empfindungsfähigkeit drastisch
reduziert wird.
Wesentliche Anforderungen an ein „gutes kosmetisches Ergebnis“ ist, daß die
Klitoris klein ist und normgerechte Proportionen des Harnleiter- und
Vaginalausganges gewährleistet sind.
In der zweiten Operation wird die Kohabitationsunfähigkeit aufgehoben und eine „Neovagina“ gesetzt, indem der durch Venuslippen verdeckte Vaginaleingang offengelegt und mit einer Vaginaleingangs“plastik“ „verstärkt“ wird. Die Venuslippen werden hierfür zuvor durchtrennt. Das verwendete Material bei dieser „Plastik“ ist häufig ein Stück Haut aus dem Darmgewebe. Diese Operation erfolgt z.T. auch heute noch im Alter zwischen 2 - 5 Jahren. Mittlerweile favourisieren Chrirgen zunehmend das 'Setzen' einer sogenannten Neovagina zum Zeitpunkt des erwarteten Wunsches nach Geschlechtsverkehr ab etwa 11 (!) Jahren. Bei einer Vaginalopertion in der Pubertät wird entweder nach Abheilung sofort zum Geschlechtsverkehr geraten oder ein Penisersatz (Scheidenprothese) verschrieben, der über Nacht zu tragen ist.
Bougierungen
Unter „bougieren“ wird die künstliche Erweiterung einer Körperöffnung, oftmals
um das Verschließen einer Öffnung z.B. durch Narben zu verhindern.
Sofern eine Vaginalöffnung in Kindesalter erstellt wurde, folgen jahrelange
sogenannte Bougierungen, d.h. Dehnung der Vagina, etwa alle 3-12 Monate in
ambulanter Behandlung bis etwa zum 15. Lebensjahr, meist unter örtlicher
Betäubung, manchmal angeblich auch ohne. Bougiert wird mit 'Hegarstiften', d.h.
mit Metallstäben (benannt nach dessen Erfinder) und einem vorgegebenen
Durchmesser in mm bis etwa 'Hegar 24'.
Bei den Vaginalbougierungen, die eine der AutorInnen erlebte, begann mann im
Alter von ca. 4 Jahren mit „Hegar 10“ und beendete diese im Alter von ca. 14
Jahren mit „Hegar 24“, da zu diesem Zeitpunkt den Ärzten die Vaginalöffnung
groß genug erschien, so daß kein weiteres Kohabitionshindernis bestehe. Eine
Nachoperation erfolgte jedoch im Alter von 16 Jahren. Die Bougierungen wurden
in 1/2 bis 1-jährigen Abständen unter Vollnakose durchgeführt. Es wird
berichtet, daß Ärzte die Mütter dazu anhalten, zu Hause ihre Kinder selbst zu
bougieren.
Weitere Behandlung
Es finden zahlreiche gynäkologische Untersuchungen zu diesem
Feminisierungsprozeß statt, denn der Hormonhaushalt und das
Körperlängenwachstum sollen kontrolliert werden, die Größe der Vagina wird
durch Fingerpenetrationen kontrolliert. Unwahrscheinlich ist jedoch, daß diese
in Abständen von einigen Wochen wächst.
Insgesamt finden bis zur Volljährigkeit oder dem Abbruch der Behandlung mit
Eintritt der Pubertät, was häufiger vorkommt, oftmals etwa 500 gynäkologische
und endokrinologische Untersuchungen statt.
Erstellung von Bildmaterial
Ferner wird Bildmaterial angefertigt: Nahaufnahmen der Genitalien gehören hier
ebenso zum Standard wir Ganzkörperablichtungen. Aufnahmen werden ohne
Genehmigung in medizinischer Fachliteratur wiedergegeben.
Neben Röntgenaufnahmen zur Größenfeststellung der Organe werden vor allem nach
den Operationen Genitalnahaufnahmen zur optischen Dokumentation des Wachstums
sowie zur bildlichen Dokumentation des Operationsverlaufes (genitale Optik vor
und nach der Operation) angefertigt. Auch noch im pubertierenden Alter werden
Ganzkörperaufnahmen, nackt, vor einer Rasterwand in Vorder- und Seitenprofil
erstellt.
Da ebenso Zeichnungen der Aussagekraft genügen würden, stellt sich die Frage
nach der Motivation, Bildmaterial anfertigen zu lassen. Es sind Bilder, die im
nicht-klinischem Kontext von pornographischem Material nicht oder kaum zu
unterscheiden sind.
Die Qualität der Operationen
Es wird behauptet, daß bei einer Reduktion die nervale und funktionale
Integrität der Klitoris gewährleistet bleibt.
Dies ist zum einen technisch nicht machbar, denn bei der
Schwellkörperentfernung, der Absenkung der Klitoris, dem Vernähen der inneren
Schamlippen, sofern vorhanden, und gegebenenfalls Verlegung der Harnröhre, wenn
diese sehr nahe an der Klitorisunterseite mündet, kommt es zu schwerwiegenden
Nervenverletzungen. Über die verbliebenen Klitorisreste wird die Haut meist so
eng gespannt, daß eine Erektion im Erwachsenenalter schmerzhaft ist. Zudem
treten Schmerzen durch nicht-dehnbare Vernarbungen auf.
Zum anderen stellt sich die Frage, wie diese Integrität erfaßt werden soll. Man
ist auf die Aussagen der Operierten angewiesen, und es ist schwierig, hierzu
korrekte Angaben zu erhalten. Wenn keine oder nur eingeschränkte Empfindungen
vorhanden sind, wird dies wohl kaum gegenüber derjenigen Person oder
Institution angeführt werden, die eben diese Empfindungseinschränkung
hervorgerufen hat.
Bleiben nur noch Spannungsmessungen an den Nerven mittels Stromimpulsen
(beschrieben in Altwein, 1989) oder Masturbation am verstümmelten Organ durch
den Arzt (nur vermutet, nicht dokumentiert).
Wir wissen, daß klitorale Operationen, gleich welcher Art, zu massiven Empfindungseinschränungen bis hin zur Empfindungsunfähigkeit führen.
Häufig finden vaginale Nachoperationen statt, da nach den Bougierungen unter Umständen nicht einmal ein Tampon eingeführt werden kann (nach Aussage einer Verstümmelten). Mit Ankündigungen wie „Hier werden so große Scheiden gebaut, so große gibt’s normalerweise gar nicht!“ oder „Wir machen Ihnen eine Scheide so groß Sie wollen!“ (O-Ton W. Ch. Hecker) wird geworben und gerne nachoperiert.
Notwendigkeit der Operationen
Dringend geboten sind ärztliche Interventionen ausschließlich bei akuter
Lebensgefahr wie durch den Salzverlust bei manchen Formen von AGS oder durch
gonadale Tumore bei manchen Formen von Gonadendysgenesie (Fehlen
funktionstüchtiger Keimzellen). Die Mehrzahl der Eingriffe hat eher
'kosmetischen' Charakter, um eine auffällige Morphologie unauffällig zu
machen.
In solchen Fällen spricht man oft von intersexuellen Genitalien und legitimiert
mit dieser pathologisierenden Kategorie chirurgische Eingriffe. Diese
Begriffsprägung kritisieren wir jedoch, da auch Personen mit 'echter
Intersexualität', also Varianten der gonadalen Ausdifferenzierung, unauffällige
äußere Aspekte haben können (Bei Turner und Noonan etwa eindeutig weiblich),
während 'Pseudo-Intersexen' oft äußerlich auffälliger sind (PAIS, manche
AGS-Formen).
Die Behandlungen können ohne Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durchgeführt werden, da die operativen Komponenten in Fachbüchern oft fehlen und die Operationen von leitenden Ärzten in klinischen Fachbereichen durchgeführt werden. Es fehlt an adäquater inhaltlicher Aufklärung der Betroffenen durch die Ärzte, die jeweilige 'Störung' wird meist extrem pathologisiert. Auf Nachfragen reagiert die Ärzteschaft meist sehr abwehrend. Gleichzeitig fehlen Angebote zur psychologischen Unterstützung. Zudem existieren - bisher - kaum Kontakte zwischen erwachsenen Betroffenen, vermutlich weil aus Scham und Angst nicht über das Erlebte gesprochen wird.
„Intersexualität“: Norm und Variation
In der geltenden Gesellschaftsform ist das männliche Geschlecht die positiv
definierte Kategorie, während das weibliche Geschlecht die per
Ausschlußverfahren negativ definierte Restkategorie darstellt. Intersexualität
hingegen stellt den „Kathastrophenfall“ dar. Sie ist eine weitere NEGATIVE,
d.h. per Ausschlußverfahren definierte RESTKATEGORIE für alles, was außerhalb
der Normsetzung in einer Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit übrigbleibt. Da
„Geschlecht“ ein soziales Konstrukt ist, ist auch die Einstufung 'intersexuell'
von sozialen Faktoren abhängig (stellvertretend Kessler/McKenna 1978). Die
Pathologisierung von Varianten geschlechtlicher Ausdifferenzierung ist also
keine „naturgesetzliche Notwendigkeit“, wenn dies auch viele Vertreter eines
biologistischen Ansatzes anders sehen.
Dringend geboten sind ärztliche Interventionen ausschließlich bei akuter
Lebensgefahr wie durch den Salzverlust bei manchen Formen von AGS oder durch
gonadale Tumore bei manchen Formen von Gonadendysgenese . Die Mehrzahl der
Eingriffe hat jedoch eher „kosmetischen“ Charakter, insofern eine auffällige
Morphologie unauffällig gemacht werden soll. Früher ging man davon aus, daß ein
zeugungsunfähiger Mann es im Leben immer noch leichter hat als eine
gebärunfähige Frau. Infolgedessen wurden Vaginas zugenäht und zum Beispiel
Menschen mit AGS als Männer definiert und behandelt. Heute hält man
„Korrekturen“ in weibliche Richtungen generell für besser „gelungen“. Es wird
davon ausgegangen wird, daß eine Frau mit reduzierter Genitalfunktion es im
Leben leichter hat als ein Mann, der keinen „normalen“ Sex leben kann. Also
werden 75-80% der Intersexuellen als Mädchen definiert. Bei dieser
Betrachtungsweise gilt nur die Vagina als Pendant zum Penis, weil diese als
'relevantes' Körperteil für heterosexuellen Penetrationssex angesehen wird.
Dieses heterosexistische und patriarchale Analogiemodell hält sich mit
Hartnäckigkeit unter genitalverstümmelnden Chirurgen. Das
entwicklungsgeschlechtliche Pendant zum Penis ist jedoch die Klitoris, während
beim Fötus das Müller’sche Gangsystem, aus dem sich die Vagina entwickelt, bei
männlicher Ausdifferenzierung degeneriert, das heißt, Männer können kein
Pendant zur Vagina haben.
Ärzte achten oft nur auf eine „kohabitationsfähige“ Vagina. Auf eine annähernd
ästhetische Gestaltung der Vulva legen sie wenig Wert legen. Insgesamt gilt das
dann als „guter Kompromiß“ - für sie. Ob das die Betroffenen auch so sehen,
zumal diese nicht einmal an der „Kompromißfindung“ beteiligt wurden,
interessiert offensichtlich nicht.
Um eine „Kompromißfindung“ geht es auch seltenst einmal bei einer ärztlichen
„Aufklärung“ der Eltern, hier wird eher überredet. Meist geht es um „die
Gesellschaft“ im Allgemeinen und im besonderen um die Unannehmlichkeiten, die
den Eltern könnten, wenn beispielsweise andere beim Windelwechsel sehen
könnten, „was für ein“ Kind sie haben... Es wird dann allen Ernstes empfohlen,
daß nach einer Korrektur die Mutter ihre Freundinnen die Genitalien ihres
Kindes sehen läßt, um Diskussionen ein für allemal zu beenden. Wir fragen uns,
welche Mutter eines „normalen“ Kindes es nötig hat, auf solch drastische Weise
die „Normalität“ ihres Mädchens unter Beweis zu stellen und sind der Ansicht,
daß sie erst durch solch übertrieben-demonstratives Verhalten von den Eltern in
ihrer sozialen Umgebung irreparabel diskreditiert wird.
Psychosexuelle Auswirkungen
Es ist schwer, die psychologischen Auswirkungen der Behandlung zu benennen, da
dies maßgeblich davon abhängt, welche Bereiche die Betroffenen bereits selbst
reflektieren konnten. Entsprechende Auswertungen von kritischen Fachfrauen
fehlen.
Die psychischen Auswirkungen der Genitalverstümmelung können tief im
Unterbewußtsein der Betroffenen verankert sein und verschiedene
Verhaltens“störungen“ (wir nennen sie Antworten und Reaktionen)
hervorrufen.
Die Betroffenen reagieren mit Gefühlen der Unvollständigkeit, Angst,
chronischer Gereiztheit, sexuellem Desinteresse und Psychosen. Schwere
Depressionen sind sehr häufig, die Selbstmordrate ist hoch. Der
Vertrauensverlust gegenüber dem engsten Umfeld ist eine weitere Folge.
Nicht selten wird auch eine Revision der geschlechtlichen
Zuweisungsentscheidung verlangt, wobei das medizinische Establishment gerne
vorschnell die Betroffenen zu Transsexuellen erklärt, anstatt ihren Status als
falsch behandelte Iintersexuelle anzuerkennen.
Als Ursache der Traumata sind in jedem Fall medizinische Eingriffe (OP’s,
Bougierungen, sonstige Nachuntersuchungen) eindeutig auszumachen. Nicht zu
unterschätzen ist vor allem die Rolle von „Nachversorgungen“, die die primäre
traumatische Erfahrung verstärken. Alleine aus diesem Grund ist von OP’s in
frühkindlichem Alter dringendst abzuraten, da sich Nachbehandlungen dann durch
die gesamte Kindheit und das Jugendalter hindurchziehen.
Unmittelbare Auswirkungen auf Kinder werden meist ausgeblendet oder billigend
als das „kleinere Übel“ in Kauf genommen und sind kaum dokumentiert. Wir wissen
jedoch aus eigenen Recherchen, daß Reaktionen bis zum vorübergehendem totalen
Sprachverlust und gravierenden Störungen der weiteren kognitiven Entwicklung
gehen kann.
Daß sich die Betroffene bei den Untersuchungen schämt, ist selbstredend. Viel
schlimmer ist jedoch, daß sie sich vor ihren eigenen Genitalien zu ekeln lernt
und bei der permanenten Begutachtung von außen, beginnend bereits im
Kleinstkindalter, nicht in der Lage ist, ein eigenes Ich, eine
Ich-Identifikation aufzubauen und dahingehende Versuche ständig im Keim
zerstört werden.
Doch selbst wenn dem Kind durch die Operation während der Kinder- und
Jugendjahre die psychosoziale Belastung erspart bleiben würde, so sind die
Operationen irreparabel.
Da nach herrschenden Maßstäben ein Kriterium für eine „gelungene“ Korrektur
auch die heterosexuelle Orientierung „des Patienten“ ist, müßte alleine aus
diesem Grunde in der Mehrzahl der Fälle „Scheitern“ konstatiert werden, denn
eine deutliche Mehrheit von Intersex-Überlebenden ist lesbisch, bisexuell oder
schwul.
Psychosoziale Probleme können niemals chirurgisch/endokrinologisch gelöst werden. Stattdessen muß eine fundierte psychologische Betreuung der ganzen Familie stattfinden. Nur so kann sichergestellt werden, daß sich ein Kind selbst für verschiedene Alternativen entscheiden kann. Bisher werden Kinder in sehr frühem Alter bei gleichzeitigem Verschweigen ihres ursprünglichen Geschlechtes korrigiert, um eine vorzeitige Bewußtwerdung als Intersexuelle zu verhindern. Doch dies ist insofern absurd, da das Kind durch eben diese medizinischen Mißhandlungen den Eindruck bekommt, es sei zwar ein Junge (oder Mädchen), aber als solches/r abnormal.
Wir gehen davon aus
- daß alle Ereignisse aufgenommen werden, demnach auch die unter Narkose und im Kleistkindalter
- daß die Operation bzw. Bougierung, in welchem Kontext auch immer, doch den ersten sexuellen Kontakt darstellt
Zusammenfassende Bewertung
Genitalverstümmelung an Menschen ist in jedem Kontext die physische Umsetzung
des patriarchalen heterosexistischen Gedankengutes mit dem Ziel der psychischen
Unterwerfung und Vernichtung.
Sie zeugt in den hier geschilderten Fällen von einer frauenverachtenden
Einstellung und von ausgeprägtem Sadismus. Um die insgesamt ausgelebte
Brutalität der beteiligten Ärzte an den betroffenen Kindern erklären zu können,
kann ein pädophiles Anliegen vermutet werden.
Wie sonst ist es zu erklären, daß wider besseren Wissens einem Mädchen die
Klitoris abgetrennt wird, sie auf Lebzeit verstümmelt wird, daß ein kleines
Kind immer wieder und ohne neue Veranlassung mit Fingern penetriert wird, bis
es blutet, daß ein Mädchen als Kind vergewaltigt wird, um dann mit 14 Jahren
„gebrauchsfertig“ zu sein für künftige Penetrationen, daß pornographisches
Bildmaterial anzufertigt wird und dann nach all dem Dankbarkeit erwartet wird
für die „wichtige Lebensbegleitung zu einer erfüllten
Geschlechtsidentität“?
Mit welcher Selbstverständlichkeit wird davon ausgegangen, daß eine
heterosexuelle Lebensweise, ausgelebt durch die Penetration des Mannes, die
einzig wünschenswerte sei!
Faschismus
„Der moderne Genozid verfolgt ein höheres Ziel. Die Beseitigung des Gegners ist
ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten
Zielsetzung ergibt. Dieses Ziel ist die Vision einer besseren, von Grund auf
gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozid ist ein Element des ‘Social
Engeneering’, mit dem eine soziale Ordnung realisiert werden soll, die dem
Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht ... Das ist die Vision des
Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gehegt ... Dieser Gärtner haßt das
Unkraut, das Häßliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung
... Nicht als solches muß das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die
schöne Ordnung des Gartens verhindert [...] Alle Vorstellungen von einer
Gesellschaft als Garten definieren bestimmte soziale Gruppen als Unkraut:
Unkraut muß ausgesondert, gebändigt, an der Ausbreitung gehindert werden, von
der Gesellschaft ferngehalten und wenn all dies nichts nützt, vernichtet
werden.“ (Baumann (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust,
Hamburg)
Betroffene erleben Bougierungen und gynäkologische Untersuchungen als
Vergewaltigungen, die Behandlungsverläufe insgesamt als Folter.
Der gesamte Behandlungsablauf stellt schwerste Köperverletzung sowie eine
gravierende Verletzung von Frauen- und Menschenrechten dar.
Wer wir sind und was wir wollen
Wir stehen im Kontakt mit anderen Betroffenen sowie einer internationalen
Vernetzung Intersexueller. Dennoch ist die Kontaktierung weiterer gynäkologisch
Geschädigter ein sehr langwieriger Prozeß. Daher suchen wir primär weitere
Betroffene zum Erfahrungsaustausch, aktuell jedoch auch InteressentInnen, die
in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich diesen Themenkomplex weiter verfolgen
wollen.
Wir wollen neben diesem Kontaktnetz mit Lobbyistinnen u.a.
- Öffentlichkeitsarbeit durch Herausgabe von Broschüren und Vorträgen leisten, die eine öffentliche Diskussion um die Intersexualität und Genitalverstümmelung anregen sollen,
- eine unabhängige Beratungsstelle gründen, um
- eine alternative, psychologische und gynäkologische Beratungsmöglichkeit für Eltern zu bieten,
- Genitalverstümmelungen mit den dazugehörigen gynäkologischen Untersuchungen Minderjähriger und Bougierungen durch Öffentlichkeitsarbeit, Beratung und Auflärung zu stoppen und
- Prozeßhilfen bei Schadensersatzforderungen für Betroffene bereitzustellen.
zitierte Literatur
Altwein, 1989: Zeitschrift für Kinderchirurgie (Sonderdruck 1989), Hippokrates, Aufsatz von J.E. Altwein und J. Homoki
Fausto-Sterling, 1993: aus „re-membering a queer body“ von Morgan Holmes in: Undercurrents (publ. by Faculty of Environmental Studies, York University), May 1994, S. 11-13
Hecker, 1982: aus „Zeitpunkt, Operation und Ergebnisse der Korrektur des intersexuellen Genitale“, „Wissenschaftliche Information“ Milupa, 1982, S. 245
Pelzer/Distler, 1994: Praxis der Kinder- und Jugendgynäkologie, Enke-Verlag
Schüßler/Bode, 1992: Geprüfte Mädchen, Ganze Frauen - zur Normierung der Mädchen in der Kindergynäkologie, efef-Verlag
Walker, 1993: Das geheime Wissen der Frauen, 2001 und dtv
Young, 1937: Young HH: Genital Abnormalities, Hermaphroditism and Related Adrenal Disease. Williams an Wilkins. Baltimore, 1937, S. 119-123
Anmerkung zu Terre des Femmes [2001]: Dieser Verein lehnt ein politisches Aufgreifen der Thematik seit März 1996 ohne Angabe von Gründen ab - trotz seinem Engagement zu Genitalverstümmelungen in Afrika. Die Koopertionsbereitschaft weißer Anti-FGM Gegnerinnen gilt weltweit als die schlechteste überhaupt. Sie ist schlechter als jene von ÄrztInnen. Der Abdruck dieses Artikels war das bislang einzige Engagement von TDF zu diesem Komplex.
Siehe auch:
- Selbstdarstellung der AGGPG
- "Für die Kinder kämpfen wir" - Michel Reiter, 1997
- "Vernichtung intersexueller Menschen in westlichen Kulturen" - Flugblatt AGGPG (1998)
- "Medizinische Intervention als Folter" - Michel Reiter 30.6.2000
- Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher Genitalverstümmelung (Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal")
- Genitalverstümmelungen an Zwittern gleich schädlich wie weibliche Genitalverstümmelung - Terre des Femmes, 2004
- Konstanze Plett über Genitalverstümmelung, amnesty journal 03/08
- Amnesty Deutschland: Historischer Entscheid für "Menschenrechte auch für Zwitter!"
Published on Friday, July 9 2010 by seelenlos