Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Interpellation Ständerat 16.3148 vom 17.03.2016 / Antwort Bundesrat 18.05.2016

FrançaisEnglishVerein Zwischengeschlecht.orgSpendenMitglied werdenAktivitäten

Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!»


       Schweiz: Invalidenversicherung (IV)
       bezahlt Genitalverstümmelungen   


16.3148 - Überparteiliche Interpellation Ständerat
"Intersexuelle Menschen. Das Zwischenspiel dauert schon zu lange"

Liliane Maury Pasquier (SP)
Mitunterzeichnet von Didier Berberat (SP), Pascale Bruderer Wyss (SP), Andrea Caroni (FDP), Robert Cramer (GP), Claude Hêche (SP), Claude Janiak (SP), Daniel Jositsch (SP), Anne Seydoux-Christe (CVP)
Eingereicht am 17.03.2016
  

Ich bitte den Bundesrat, anzugeben:

1. ob er sich zu den Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) von 2012 geäussert hat oder plant, dies demnächst zu tun. Es handelt sich dabei um die Empfehlungen zu den unnötigen und oftmals irreversiblen chirurgischen Eingriffen bei intersexuellen Menschen;

2. welche Schlussfolgerungen er aus den Empfehlungen des Uno-Ausschusses für die Rechte des Kindes und des Uno-Ausschusses gegen Folter von 2015 ziehen will.

Begründung

In seinen abschliessenden Bemerkungen vom 30. Januar 2015 zum zweiten bis vierten periodischen Bericht der Schweiz äussert sich der Uno-Ausschuss für die Rechte des Kindes "tief besorgt über ... chirurgische Eingriffe und sonstige, aus medizinischer Sicht unnötige Behandlungen, welche bei intersexuellen Kindern ohne deren 'informierte Zustimmung' durchgeführt werden. Solche Eingriffe und Behandlungen sind häufig irreversibel und können zu schweren körperlichen und psychischen Leiden führen. Überdies äussert sich der Ausschuss besorgt über das Fehlen von Rechtsschutz- und Entschädigungsmechanismen." In der Folge empfiehlt er der Schweiz eindringlich, "sicherzustellen, dass keine unnötigen medizinischen Behandlungen oder chirurgischen Eingriffe im Säuglingsalter oder in der Kindheit vorgenommen werden" und dass Beratungs- und Unterstützungsangebote für die betroffenen Familien bereitgestellt werden. Diese Empfehlungen decken sich mit denjenigen der NEK von 2012 als Antwort auf die Interpellationen 11.3265 und 11.3286.

In seinen abschliessenden Bemerkungen vom 13. August 2015 zum siebten periodischen Bericht der Schweiz spricht der Uno-Ausschuss gegen Folter ähnliche Empfehlungen aus und empfiehlt der Schweiz zudem, die Fälle zu untersuchen, in denen chirurgische Eingriffe ohne die Einwilligung der intersexuellen Menschen vorgenommen worden sind, und gesetzgeberische Massnahmen zu erlassen, um den Opfern Wiedergutmachung zu leisten.

Ein weiterer gewichtiger Grund, den verschiedenen Empfehlungen nachzukommen, ist der Beschluss des Bundesrates, die Erklärung von Valletta zu genehmigen. Diese Erklärung vervollständigt die Empfehlung vom 31. März 2010 des Ministerkomitees des Europarates zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechteridentität. So wird der Schutz ausdrücklich auf intersexuelle Menschen ausgeweitet.
  

Stellungnahme des Bundesrates vom 18.05.2016

1. Es gibt Menschen, bei denen die Entwicklung des chromosomalen, gonadalen oder anatomischen Geschlechts atypisch verläuft. Trotz dieses natürlichen Phänomens ist unsere Gesellschaft teilweise noch immer von der Vorstellung geprägt, dass sich jeder Mensch eindeutig zum weiblichen oder zum männlichen Geschlecht zuordnen lassen müsste. Dies wird den Bedürfnissen der betroffenen Menschen nicht gerecht.

Menschen mit Geschlechtsvarianten geniessen wie alle Menschen den Respekt, den Schutz sowie das Verständnis für ihre Anliegen durch die Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass sie einen Anspruch auf Achtung der körperlichen und psychischen Integrität sowie das Recht auf Selbstbestimmung haben.

Welchen Umgang unsere Gesellschaft mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (früher "Intersexualität" bzw. medizinisch "disorder of sex development" (DSD) genannt) bisher gepflegt hat und teilweise weiterhin pflegt, ist in den vergangenen Jahren zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden. Im Auftrag des Bundesrates setzte sich die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) mit ethischen Fragen zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung auseinander und publizierte daraufhin in ihrer Stellungnahme Nr. 20/2012 14 Empfehlungen. Diese umfassen eine breite Palette an gesellschaftspolitischen Aspekten hinsichtlich der Anerkennung der Anliegen Betroffener. Teils sind diese Empfehlungen konkret formuliert und richten sich gezielt an einzelne Akteure, darunter auch den Bund. Teils benötigen sie einen Wandel im Bewusstsein unserer Gesellschaft, weshalb es der Bundesrat für angezeigt hielt, diese Entwicklungsprozesse über einen gewissen Zeitraum zu verfolgen, bevor er sich zu den Empfehlungen der NEK-CNE äussert.

Der Bundesrat wird im Laufe des ersten Halbjahres 2016 zur Kenntnis nehmen, inwieweit die Empfehlungen der NEK-CNE, die den Bund betreffen, bereits umgesetzt sind, und über das weitere Vorgehen entscheiden. Anschliessend wird er das Parlament in geeigneter Form informieren.

2. Der von der Schweiz im Juni 2012 eingereichte und im Januar 2015 präsentierte zweite bis vierte Staatenbericht zur Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes und der im Mai 2014 eingereichte siebente Periodische Bericht der Schweiz zuhanden des Uno-Kommitees gegen Folter (CAT), welcher im August 2015 präsentiert wurde, nahmen keinen Bezug auf Fragen bezüglich Varianten der Geschlechtsentwicklung. Im Falle des siebenten Staatenberichtes an den CAT-Ausschuss ist ergänzend festzuhalten, dass dieser Bericht im vereinfachten Verfahren (Simplified Reporting Procedure) erstellt worden ist. Das heisst, dass die Schweiz den Bericht auf der Grundlage einer konkreten Fragenliste des Ausschusses vom 16. Januar 2013 (CAT/C/CHE/Q/7) vorbereitet hat: Der Bericht folgt der Struktur dieser Liste und konzentriert sich inhaltlich auf die vollständige Beantwortung der vom Ausschuss gestellten Fragen. Die hier relevierte Problematik wurde vom Ausschuss in seiner Fragenliste nicht angesprochen. Hingegen haben Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen die Möglichkeit, die Staatenberichte zu kommentieren. Diese Kommentare werden in den sogenannten Schattenberichten zusammengefasst. Die Schweizer Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org (eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte von Menschen mit Geschlechtsvarianten einsetzt) hat diese Möglichkeit bei beiden Staatenberichten wahrgenommen. Aufgrund dieser Kommentare wurden in den "Observations finales" der Komitees Empfehlungen mit Bezug auf die Rechte von Menschen mit Geschlechtsvarianten an die Schweiz formuliert (einzusehen unter: humanrights.ch/Fokus Schweiz/Menschenrechte im Landesinnern/Die neusten Empfehlungen des Uno-Ausschusses gegen Folter an die Schweiz).

In diesem Kontext ist zudem auf die Absichtserklärung von Valletta vom 14. Mai 2014 hinzuweisen, die der Bundesrat am 29. April 2015 genehmigt hat. Diese Absichtserklärung, die von einer Gruppe von Mitgliedstaaten des Europarates ausgearbeitet und von 18 dieser Länder angenommen wurde, nimmt ausdrücklich Bezug auf die Rechte von Menschen mit Geschlechtsvarianten und ergänzt die Empfehlungen des Ministerausschusses des Europarates vom 31. März 2010 über Massnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität. Die Absichtserklärung von Valletta betont namentlich, dass medizinische Eingriffe bei betroffenen Menschen nicht ohne ihr Einverständnis durchgeführt werden dürfen.

Im Rahmen des nächsten, für 2020 anstehenden Staatenberichtes über die Umsetzung der Rechte des Kindes wird die Schweiz bezüglich dieser Empfehlungen und deren Umsetzung Rechenschaft ablegen. Zudem wird der Bundesrat in seiner für das erste Halbjahr 2016 angekündigten Stellungnahme zu den Empfehlungen der NEK-CNE (siehe Antwort auf Frage 1) auch über Massnahmen und deren Umsetzungsstand hinsichtlich der Empfehlungen der Ausschüsse der Vereinten Nationen berichten, soweit diese in den Kompetenzbereich des Bundes fallen.

Dokumentiert durch Zwischengeschlecht.org    >>> Quelle

>>> Stellungnahme Zwischengeschlecht.org zur Interpellation 11.3286

>>> CH: Invalidenversicherung (IV) bezahlt Genitalverstümmelungen

>>> Genitalverstümmelungen im Kinderspital: Fakten und Zahlen
>>> 150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen

Published on Tuesday, November 29 2016 by nella