"Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD": Zwangsoperationen klar unzulässig

Schluss mit genitalen Zwangsoperationen!Wie an anderer Stelle kritisiert, missbraucht die aktuelle AWMF-Leitlinie "Störungen der Geschlechtsentwicklung" die "Ethische[n] Grundsätze und Empfehlungen" der "Arbeitsgruppe Ethik" des "Netzwerk DSD" als Feigenblatt für Zwangsoperateure, bzw. als "Beleg" für die Behauptung, dass die zu zwangsoperierenden Zwitterkinder angeblich keine Rechte an ihrem eigenen Körper hätten – im Gegenteil stehe "rechtlich [...] letztlich den Eltern" die alleinige "Entscheidung zu".

Dies ist nicht nur juristischer Unsinn bzw. sträfliche Missachtung sämtlicher (übergeordneter) Grund- und Menschenrechte: Würden die Zwangsoperateure die "Ethische[n] Grundsätze und Empfehlungen" tatsächlich ernst nehmen und beachten, würden sie problemlos erkennen, dass genitale Zwangsoperationen an Zwitterkindern im Gegenteil nicht nur klar unzulässig sind, sondern darüber hinaus juristisch strafbare Körperverletzungen darstellen.

Zu diesem Schluss kommt nach umfassender Würdigung der "Ethische[n] Grundsätze und Empfehlungen" im folgenden Gastbeitrag ein erfahrener Kinderarzt – einer der Wenigen und Seltenen, der nicht nur erstens ein Gewissen sein eigen nennt, sondern zweitens auch lernte, auf es zu hören. Dafür im Namen dieses Blogs ein herzliches Danke!!!
 

Vor kurzem wurden Ethische Grundsätze und Empfehlungen einer Expertengruppe veröffentlicht, und zwar von der Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität  zum Thema "Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“, publiziert in der Monatsschrift für Kinderheilkunde 2008 (156: 241-245) [>>> PDF-Download] .  

●  Darin  heißt es z.B.:

„Maßnahmen, für die keine zufrieden stellende wissenschaftliche Evidenz vorliegt, sind besonders begründungs- und rechtfertigungspflichtig und bedürfen einer zwingenden medizinischen Indikation.“ (Hervorhebung d. Verf.)

Zu fragen ist 1.

--> Kann die Notwendigkeit für geschlechtsangleichende Operationen mit zufrieden stellender Evidenz belegt werden?

Antwort:    

- Es liegen keine Studien mit zufrieden stellender Evidenz vor.
(Die unterste Klasse, Evidenzklasse 5, also „Expertenmeinungen ohne explizite Bewertung der Evidenz“, will man doch wohl nicht gelten lassen?)

- Sogar in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF-Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin von 2007 wird zugegeben,

dass kontrollierte Studien zu genitalen Korrekturoperationen nicht vorliegen und Untersuchungen zum Outcome unbefriedigend sind“. (Hervorhebung d. Verf.)

Zu fragen ist 2.

--> Liegt bei den zur Diskussion stehenden Eingriffen eine medizinische Indikation vor?   

Wenn man Verschlüsse oder Behinderungen im harnableitenden System sowie das Salzverlustsyndrom ausnimmt,

lautet die Antwort:   

- Es liegt weder eine vitale, noch eine medizinische Indikation vor.

Genau genommen sind es kosmetische Operationen oder Operationen aus soziokultureller Indikation;

- Sogar die AWMF-Leitlinien sagen:

„Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung sind nicht per se aus rein kosmetischen Gründen korrekturbedürftig und stellen bei einem Neugeborenen keinen chirurgischen Notfall dar, jedoch in der Regel einen psychosozialen Notfall.“

●  Ethische Grundsätze: 

„Maßnahmen, die irreversible Folgen für die Geschlechtsidentität oder negative Auswirkungen auf Sexualität oder Fortpflanzungsfähigkeit haben können, sind besonders begründungs- und rechtfertigungspflichtig und bedürfen einer zwingenden medizinischen Indikation
(Hervorhebung d. Verf.)

--> Genaue Angaben dazu, d.h. eine große Zahl von Beschwerden über die  Folgen, sind in den Ergebnissen des Netzwerkes Intersexualität zu finden.

Auch im neuesten Lehrbuch zur Intersexualität von Finke und Höhne von 2008 ["Intersexualität bei Kindern", Uni-Med Verlag Bremen]

schreibt H. F. L. Meyer-Bahlburg, der sich grundsätzlich für geschlechtsangleichende Operationen ausspricht:

„Gegen solche Operationen spricht, dass sie die Beeinträchtigung der erotischen Sensivität und der Orgasmusfähigkeit und damit der sexuellen Zufriedenheit und Lebensqualität riskieren.“ (Hervorhebung d. Verf.).

• Ethische Grundsätze: 

„Die Erziehung in einem sozialen Geschlecht ohne entsprechende operative ästhetische Korrekturen erhält dem Kind zudem
die Option auf einen evtl. notwendigen späteren Wechsel der Geschlechtsidentität“ (Hervorhebung d. Verf.)

--> "Auch aus der Literatur ist bekannt, dass sich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Menschen mit DSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter entschließt, das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln."
(M. Jürgensen; O. Hiort; U. Thyen: "Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsentwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und Herausforderungen bei der Versorgung". Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3, March 2008, S. 226-233).

--> Auch dazu schreibt H. F. L. Meyer-Bahlburg, der sich – wie gesagt – grundsätzlich für geschlechtsangleichende Operationen ausspricht:

Unglücklicherweise ist jedoch ein späterer Geschlechtswechsel, der ja bei Intersexuellen gehäuft vorkommt, erschwert, wenn die ursprüngliche Geschlechtszuweisung mit einer geschlechtsbestätigenden Operation verbunden war.“ (Hervorhebung d. Verf.)

Die Häufigkeit eines späteren Wechsels in ein andres als das ursprünglich zugewiesene Geschlecht ist keine seltene Ausnahme, sie beträgt mit größerer Variation - je nach Sorgfalt der ersten Geschlechtszuweisung - bis zu 24% der von Preves untersuchten Fälle  (Sharon. E. Preves), in den „Netzwerken Intersex“ waren es 9-12%.

In der Studie von Sharon E. Preves, in der 37 intersexuelle Menschen im Erwachsenenalter in den USA befragt wurden, fühlten sich fast alle Interviewten erniedrigt durch die vielen Untersuchungen und Zwangsbehandlungen, denen sie sich unterziehen mussten, sie kamen sich vor wie Monster oder Freaks.

●  Trägt die Chirurgie zur Vereindeutigung des Genitale zum Wohl des Kindes bei? Handelt es  sich um einen Heileingriff? Dies betrifft §1627 BGB.

--> Es handelt sich nicht um einen Heileingriff. Eine chirurgische Heilbehandlung ist in keinem Fall erforderlich - abgesehen von den genannten Ausnahmen.

• Ethische Grundsätze:

„Die Verfügung über Organe oder Strukturen, die für die körperliche Integrität oder Geschlechtsidentität wichtig sind (z.B. Keimdrüsen), sollte in der Regel dem Betroffenen selbst überlassen bleiben“. (Hervorhebung d. Verf.)

--> Die Entfernung der Keimdrüsen wurde bislang zugelassen, wenn eine strenge medizinische Indikation behauptet und im Zusammenhang mit einer erforderlichen Heilbehandlung erfolgte. - §1631BGB -. Betroffene beklagen, dass in vielen Fällen dagegen verstoßen wurde.

Da es sich bei der Vereindeutigung des Genitale nicht um eine Heilbehandlung handelt, ist eine Entfernung der Keimdrüsen ohne Zustimmung der Betroffenen selbst nicht zulässig.

Die Entfernung der Keimdrüsen wurde bislang häufig schon im Kindesalter aus präventiven Gründen, also  wegen einer eventuell möglichen (!) späteren Entartung vorgenommen. Oft ohne genaue Kalkulation eines Entartungsrisikos, d.h. des Zeitraumes in dem sich ein Tumor ausbildet.

In den AWMF-Leitlinien zu DSD heißt es:

„Die Literaturangaben zum definitiven Risiko einer Entwicklung gonadaler Tumore sind dürftig.“

Das Risiko einer Entartung soll nicht geleugnet werden, aber hier muss grundlegend neu nachgedacht werden. Wichtig sind regelmäßige präventive Untersuchungen.

●  Ethische Grundsätze: 

„Generell muss den Eltern der Aufschub von prognostisch unsicheren Maßnahmen bis zur Entscheidungsreife des Kindes als erste Präferenz dargestellt werden.“

„ Die Verfügung über Organe und Strukturen, die für die körperliche Integrität oder Geschlechtsidentität wichtig sind (z. B. Keimdrüsen), sollten in der Regel – wenn keine gewichtigen, das Kindeswohl betreffenden Gründe entgegenstehen – dem Betroffenen selbst überlassen bleiben.“

Zusammengefasst lässt sich sagen:

Jede dieser Operationen ist eine ganz eindeutige Körperverletzung nach §223 oder §224 StGB.

Die hohe Zahl von Beschwerden über die meist mehrfachen Operationen, die oft erst im adulten Alter ganz bewusst werden, lassen es nicht zu, dass Eltern für ihre Kinder die Einwilligung geben.

Auch die Ethischen Grundsätze und Empfehlungen sind eindeutig:

Die Operationseinwilligung darf nur vom Betroffenen selbst gegeben werden, nicht stellvertretend von den Eltern. 

Bisher ist es zwar üblich ist, dass die Eltern  die Einwilligung erteilen. Sie sind auf Grund der von den Operateuren vorgebrachten „Informationen“ selbst Opfer.

Es muss aber bestritten und in Zukunft verhindert werden, dass bei kosmetischen Operationen, die zudem irreversibel sind, die Operationseinwilligung von den Eltern stellvertretend für das Kind vorgenommen werden darf. 

Sehr viele Intersexuelle sprechen dann, wenn sie erwachsen sind, von Zwangsoperationen.

Viele Betroffene fragen: wodurch unterscheiden sich die geschlechtsangleichenden Operationen von „Genitalverstümmelungen“ afrikanischer Ethnien, die wir zu Recht verurteilen? Es ist die gleiche fixe Idee, es „richtig“ zu machen. Es ist dort eine Jahrhunderte  alte Tradition, hier ein Jahrzehnte alter medizinischer Brauch, der erst seit wenigen Jahren hinterfragt wird, aber noch nicht geändert ist. Die Tabuisierung durch die medizinischen Praktiken hat noch nicht die Öffentlichkeit so erreicht, dass den geschlechtsangleichenden Operationen ein gleiches Verbot entgegengesetzt wird.

--> Die Gesellschaft des Kindes „darf erst recht nicht zum alleinigen Maßstab gemacht werden, wenn es um die Abwehr von Gefahren für das Kind geht, denn sonst hinge es von den Einstellungen und Präferenzen der Gemeinschaft ab, ob minderjährigen Mitgliedern Körperschäden zugefügt werden dürfen“. (Stehr, M., Putzke, H., Dietz, H-G. ["Zirkumzision bei nicht einwilligungsfähigen Jungen: Strafrechtliche Konsequenzen auch bei religiöser Begründung"] – 2008).

Werden diese Empfehlungen verbindlich beachtet werden? Sind sie einklagbar, ohne dass Kinder gegen ihre Eltern klagen müssen? Wird sich ein Staatanwalt der Sache annehmen? Skepsis ist angebracht.

K[onstanze] Plett ["Intersexualität aus rechtlicher Perspektive"] weist darauf hin, dass das Recht, wie wir es in allen Staaten vorfinden, die auf der westeuropäischen Tradition beruhen, so sehr auf exklusiver Zweigeschlechtlichkeit basiert, dass diese Struktur bislang schwer aufzubrechen ist.

Hier muss grundlegend – gesetzgeberisch – nachgedacht werden, da nicht nur die Ethische[n] Grundsätze und Empfehlungen einer Expertengruppe von der Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität zum Thema „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“ eindeutig gegen die zur Zeit praktizierten Vorgehensweise gerichtet sind. Auch die [UN-]Übereinkünfte über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau [CEDAW] und der Kinder [UN-Kinderrechtskonvention] stehen dem entgegen.

Published on Saturday, July 18 2009 by seelenlos