Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Interpellation Nationalrat 11.3265 vom 18.3.11 / Antwort Bundesrat 6.6.11

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11.3265 - Interpellation
"Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD/Intersexualität) in der Schweiz"

Eingereicht von Margret Kiener Nellen (SP)
Mitunterzeichnet von Eichenberger-Walther Corina (FDP), Gilli Yvonne (Grüne), Glanzmann-Hunkeler Ida (CVP), Glauser-Zufferey Alice (SVP), Streiff-Feller Marianne (CVP), Weber-Gobet Marie-Thérèse (CSP)
Eingereicht am 18.03.2011

Jedes Jahr werden in der Schweiz ca. 40 Kinder geboren, die keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können. Genaue statistische Angaben fehlen. Für die meisten dieser Kinder beginnt bereits kurz nach der Geburt ein schmerzhafter Prozess mit meist mehrmaligen Operationen und Dauerhormoneinnahme zur Schaffung einer eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit. Es gibt keine Richtlinien, sondern die beteiligten ÄrztInnen entscheiden - mit Zustimmung der meist überrumpelten und verängstigten Eltern - nach bestem Wissen und Gewissen. Viele zwangsoperierte Kinder leiden lebenslänglich darunter.

1. Teilt der Bundesrat die Auffassung, dass die heutige Praxis der raschen Operation intersexueller Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter auch ohne zwingende medizinische Indikation zu grossen Problemen führt und Handlungsbedarf besteht?

2. Teilt der Bundesrat die Ansicht, dass ein Verbot von geschlechtsanpassenden Operationen bis zur Urteilsfähigkeit des Kindes in all jenen Fällen indiziert wäre, bei denen keine wirklich medizinische Notwendigkeit im somatischen Sinn besteht, da sonst die höchstpersönlichen Rechte des Kindes verletzt werden?

3. Wie und durch wen wären nach Ansicht des Bundesrates entsprechende Regelungen vorzunehmen? Welche Rolle können dabei die Nationale Ethikkommission und die Akademie der medizinischen Wissenschaften spielen? Wie kann sichergestellt werden, dass dabei nicht nur die Ärzteschaft zu Wort kommt, sondern auch die Betroffenen einbezogen werden?

4. Unterstützt der Bundesrat die Idee einer obligatorischen Beratung der Eltern durch aussenstehende und unabhängige Fachstellen, die nicht nur aus Personen aus dem Medizinalbereich zusammengesetzt sind, oder die Notwendigkeit der Zustimmung einer Ethikkommission vor einem Operationsentscheid?

5. Wie viele Kinder werden jährlich bei der IV wegen Intersexualität (resp. unter den entsprechenden Hauptsyndromen wie AGS, AIS, Swyer-Syndrom u.a.) angemeldet und wie viele Operationen werden jährlich an Kindern über Leistungen der IV gemacht-Ziffern 113, 350, 352, 355, 357, 358, 359, 453, 462, 465, 466, 486, 488?

6. Hat der Bundesrat Kenntnis von entsprechenden Zahlen im Bereich des KVG?

7. Ist der Bundesrat bereit, die Zivilstandsverordnung in dem Sinn zu ändern, dass im Falle von intersexuellen Kindern der Eintrag des Geschlechts nötigenfalls bis zum Erreichen der Volljährigkeit offen gelassen werden kann?
 

Stellungnahme des Budesrates vom 06.06.2011

1./2. Gemäss heutiger Praxis erfolgen operative Geschlechtsumwandlungen und -anpassungen nur dann, wenn eine zwingende medizinische Indikation vorliegt. Als zwingend gelten in diesen Fällen somatische (z. B. erhöhtes Krebsrisiko) und psychische Indikationen (z. B. Probleme bei der Einschulung eines Kindes). Eine Operation im Säuglings- und Kleinkindalter kann auch bei Vorliegen einer zwingenden medizinischen Indikation nur nach einer umfassenden interdisziplinären Abklärung und mit dem schriftlichen Einverständnis der Eltern erfolgen.

Ein Kind, das keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden kann, wird im Alltag mit grossen Problemen konfrontiert sein - unabhängig davon, ob eine geschlechtsanpassende Operation erfolgt oder nicht. Der Bundesrat ist deshalb überzeugt, dass ein Verbot von geschlechtsanpassenden Operationen in all jenen Fällen, bei denen keine medizinische Notwendigkeit im somatischen Sinne vorliegt, die bestehenden Probleme für die betroffenen Kinder nicht löst. Er teilt in diesem Punkt die Ansicht der Interpellantin nicht.

Im Zentrum stehen aus Sicht des Bundesrates das Wohl des Kindes, die Wahrung dessen höchstpersönlicher Rechte und der Umgang mit der für alle Beteiligten schwierigen Situation. Zu berücksichtigen sind dabei medizinische, in erster Linie aber ethische Fragestellungen. Diesbezüglich sieht auch der Bundesrat einen Handlungsbedarf.

3./4. Wie vorstehend erläutert, ist der Einbezug der Eltern bereits heute sichergestellt. Allerdings wirft die Thematik grundlegende ethische Fragen auf, wie beispielsweise die Frage, in welcher Form die Beratung der Eltern stattfinden soll. Der Bundesrat wird daher die Nationale Ethikkommission (NEK) beauftragen, sich dieser Thematik anzunehmen. Ob und in welcher Form ein zusätzlicher Beizug der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) stattfinden soll, kann Gegenstand der Empfehlungen der NEK sein.

5. In den Jahren 2006 bis 2010 wurden im Durchschnitt 30 Kindern pro Jahr medizinische Massnahmen wegen Intersexualität durch die IV vergütet (Geburtsgebrechen - Ziffer 359, Hermaphroditismus verus und Pseudohermaphroditismus).

Eine Information über die Anzahl der Operationen ist nicht möglich, da die Art der medizinischen Leistung, welche die IV vergütet, aus der Statistik nicht ersichtlich ist. Diesbezüglich ist jedoch festzuhalten, dass es sich bei den genannten Geburtsgebrechen bzw. aufgeführten Ziffern ausser bei Ziffer 359 nicht um einen echten Transsexualismus [sic!] handelt und Operationen in diesen Fällen - im Gegensatz zum echten Transsexualismus [sic!] - nur nach fachärztlicher Indikation bei schwerer somatischer Problematik (z. B. Korrekturoperationen bei Missbildungen der Harnblase/Ziffern 350, 352), nicht aber rein psychischer Problematik angezeigt sind.

6. Laut Hochrechnungen aufgrund von Häufigkeitsangaben in der Fachliteratur leben in der Schweiz zwischen 100 und 200 Menschen mit echtem Transsexualismus, bei denen eine Operation allenfalls in Betracht gezogen wird oder die eine Operation bereits hinter sich haben. Die Indikation zur Operation im frühen Kindesalter wird nur gestellt, wenn tatsächlich ein echter Transsexualismus vorliegt.

7. Grundsätzlich wird jedes Kind bei Geburt mit den vollständigen Personalien im Zivilstandsregister erfasst, das heisst vor allem mit dem Familiennamen und dem/den Vornamen, dem Geschlecht und der Abstammung (Art. 39 Zivilgesetzbuch und Art. 8 Zivilstandsverordnung). Als öffentliches Register erbringt das Zivilstandsregister für die durch es bezeugten Tatsachen vollen Beweis (Art. 9 ZGB) und muss die Realität widerspiegeln. Das Schweizer Recht basiert wie die europäischen Gesetzgebungen auf einem binären System. Somit erhält jede Person aufgrund der ärztlichen Feststellung ein Geschlecht zugewiesen - männlich oder weiblich. Das Geschlecht nicht mehr zu erfassen kommt für den Bundesrat nicht infrage, da dieses eine natürliche Eigenschaft des Menschen darstellt (vgl. Art. 53 ZGB). Für ihn auch nicht denkbar ist die Einführung einer dritten Geschlechtskategorie, deren Anerkennung im Ausland nicht unproblematisch sein könnte. Bei einer Geschlechtsänderung oder Berichtigung von ursprünglich fehlerhaften Personendaten wird das Zivilstandsregister im Übrigen von Amtes wegen aufgrund eines gerichtlichen Urteils angepasst oder berichtigt (siehe Art. 40 Abs. 1 Bst. j und k Zivilstandsverordnung).

Dokumentiert durch Zwischengeschlecht.org / 18. März 2011    >>> Quelle
 

>>> Stellungnahme Zwischengeschlecht.org zur Zweit-Interpellation 11.3265


>>> CH: Invalidenversicherung (IV) bezahlt Genitalverstümmelungen

>>> Genitalverstümmelungen im Kinderspital: Fakten und Zahlen
>>> 150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen

Published on Friday, March 18 2011 by nella