Mail an Mechthild Rawert: Kosmetische Genitalkorrekturen in der Charité / „Blitzlichter“ aus der letzten Sitzungswoche
Im
Anschluss an die
Bundestags-Anhörung des Familieausschusses publizierte die Abgeordnete
Mechthild Rawert (SPD, Berlin) einen
Bericht auf ihrer Homepage, wonach sie insbesondere der Situation in
den Spitälern nachgehen wolle.
Im Namen von Zwischengeschlecht.org schrieb Nella deshalb Mechthild
Rawert persönlich an. Mechthild Rawerts Sekreatariat hatte seinerzeit den
Eingang des Mails telefonisch bestätigt, Nella mehrfach vertröstet und eine
Rückmeldung angekündigt. Diese erfolgte bis heute nicht.
Stattdessen vernahmen wir unterdessen von einer weiteren Überlebenden
von kosmetischen Genitaloperationen im Kindesalter, die ebenfalls bis heute
vergeblich auf eine Rückmeldung wartet.
Gleichzeitig profiliert sich Mechthild Rawert öffentlich
in vereinnahmender Weise als "Intersex-Politikerin" (vgl. auch ebd. Fussn.
[9] und [10]).
Aus diesen Gründen dokumentiert dieser Blog nachfolgend das
entsprechende Mail von Nella.
Niemand soll später einmal mit gutem Gewissen sagen können, Mechthild Rawert habe es ja "gar nicht gewusst".
Subject: Kosmetische Genitalkorrekturen in der Charité / „Blitzlichter“ aus der letzten Sitzungswoche
From: "Daniela Truffer Zwischengeschlecht.org" <nella_at_zwischengeschlecht.info>
Date: Wed, July 11, 2012 21:49
To: Mechthild.Rawert_at_Bundestag.de
Cc: "Zwischengeschlecht.org" <info_at_zwischengeschlecht.org>
Liebe Mechthild Rawert
Mit großer Freude haben wir auf Ihrer Homepage im Zusammenhang mit der Intersex-Anhörung im Familienausschuss gelesen, dass Sie sich informieren wollen, wie in Krankenhäusern der bisherige Umgang mit intersexuellen Kindern, wie aber auch die Beratung für die Eltern erfolgt.
Im Namen unserer Menschenrechtsgruppe, die seit fünf Jahren gegen kosmetische Genitaloperationen in Kinderkliniken kämpft und sich insbesondere für Aufklärung über die heutigen Zustände und für eine historische Aufarbeitung des begangenen Unrechts einsetzt, möchte ich mich dafür ganz herzlich bei Ihnen bedanken!
Gerne lassen wir Ihnen in diesem Zusammenhang nachfolgend einige Informationen insbesondere zur Situation in Berlin und zur langjährigen Kritik durch Betroffene und solidarische Nicht-Betroffene zukommen. Aus Platzgründen ist diese Auflistung notgedrungen unvollständig und örtlich beschränkt.
Für weitere Informationen oder bei Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
In der Hoffnung, dass Sie bei Ihren Erkundigungen der Wahrheit näher kommen werden als seinerzeit der Berliner Senat (siehe unten), und dass nun endlich konkret etwas in Bewegung kommt,
mit freundlichen Grüßen
Daniela Truffer / Zwischengeschlecht.org
• Hintergrund: Art, Umfang und Entwicklung kosmetischer "Genitalkorrekturen" an Kindern
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/03/23/Genitalverstuemmelung-typische-Diagnosen-und-Eingriffe
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/01/25/Wer-sind-die-T%C3%A4ter
• Dokumentation aktuelle Angebote und Praxis in der Charité / Offener Brief 13.11.2011
http://zwischengeschlecht.org/public/Offener_Brief_Charite_2011.pdf
- Auf S. 1 Überblick zu "Behandlungs-"Angebot auf charite.de
URLs laut Fußnote 1 auf S. 7:
Flyer der Abteilung für Kinderurologie und plastisch rekonstruktive Urologie, S. 2 ("Leistungsspektrum"):
http://urologie.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc08/urologie/Texte/Flyer/Kinderurologie_2011.pdf
Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie, Themenschwerpunkte Klinische Endokrinologie
http://www.charite.de/p_endo/ >>> Menuepunkt "Themenschwerpunkte"
- S. 1-2 belegte Zitate beteiligter ÄrztInnen der Charité (Vollständige Originalquellen verfügbar)
Kurzer Überblick über das "Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie" und das 2011 neu geschaffene "überregionale Zentrum" "Abteilung für Kinderurologie und plastisch rekonstruktive Urologie", relevante Punkte aus dem "Leistungsspektrum":
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2011/11/08/Genitalverstuemmelung-Charite-ueberregionales-Zentrum
• Charité 2012: Nach Chirurgenwechsel unverändert medizinisch nicht notwendige "Genitalkorrekturen"
Im mittlerweile etablierten "überregionalen Zentrum" für "Rekonstruktive Kinderurologie" folgt als aktueller Starchirurg auf Prof. Dr. Westenfelder (Zitate siehe oben Offener Brief 13.11.2011) neu Prof. Dr. Ricardo González:
http://urologie.charite.de/klinik/abteilung_fuer_kinderurologie_und_plastisch_rekonstruktive_urologie_cvk/
Prof. González propagiert und praktiziert ebenso ungehemmt kosmetische Genitaloperationen an Kindern ohne Evidenz, vgl.:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/09/22/Ricardo-Gonzalez-%28Kispi-Zurich%29-%22vielleicht-kuenftig-bessere-Resultate%22
• 2011: "bei AGS weiterhin Klitorisreduktionen und Introitusplastiken im Kindesalter […], so z.B. an der Berliner Charité" (Ulrike Klöppel)
Auch beim Deutschen Ethikrat wurde die andauernde Praxis öffentlich thematisiert, z.B. in der schriftlichen Stellungnahme von Ulrike Klöppel (Charité). Relevante Zitate und Downloadlink:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/06/03/Ulrike-Kloeppel_Ethikrat-Sachverstaendige-5
• Charité: Verhängnisvolle Tradition kosmetischer Klitorisamputationen an Kindern von mind. 1825 bis ca. 1980 (Marion Hulverscheidt u.a.)
Marion Hulverscheidt (Charité): "Weibliche Genitalverstümmelung. Diskussion und Praxis der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum." Dissertation (2000) / Mabuse-Verlag, 2002.
Das Buch ist hauptsächlich historisch und auf weibliche Genitalverstümmelungen ausgerichtet, enthält jedoch auch relevante Zitate zur gegenwärtigen Praxis an "Intersexuellen":
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/08/19/Genitalverstuemmelung-in-der-westlichen-Welt-Marion-Hulverscheidt%2C-2000
- 1825 beschrieb ein von Carl Ferdinand von Graefe (1887-1840) verbürgter, anonymer Bericht über eine erfolgreiche "Heilung eines vieljährigen Blödsinnes, durch Ausrottung der Clitoris" bei einem 14-jährigen Mädchen; der zu dieser Zeit in Berlin in der Charité tätige von Graefe hatte auch die "Operation" durchgeführt. (Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung, 2002, S. 107ff.)
- 1831: Im Handbuch der Chirurgie, herausgegeben vom damaligen Direktor der Chirurgischen Kliniken der Charité, Johann Nepomuk Rust (1775-1840), wird ein "übergrosser Kitzler" bei "jungen Mädchen" als legitime Indikation zum "wegschneiden" angeführt. (Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung, 2002, S. 113)
Überblick weitere historische Fälle (u.a. Dr. Berendes 1875, Klitorisamputation bei 4-jährigem Mädchen auf Wunsch der Eltern, erwähnt in: Franz Ludwig von Neugebauer, Hermaphroditismus beim Menschen, 1908, S. 282), siehe:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/07/31/Intersex-Genitalverstuemmelungen-Genealogie
Während Klitorisamputationen bei den Diagnosen "Hysterie" und "Masturbation" in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts u.W.n. nicht mehr nachweisbar sind, nahmen Klitorisamputationen an Kindern mit Diagnose "Klitorishypertrophie" ("zu große Klitoris") ab 1950 massiv zu, vgl. u.a.:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/06/22/Orgasmusf%C3%A4higkeit-leidet-durch-Klitorisentfernung-nicht-Jurgen-Bierich-Hamburg-T%C3%BCbingen
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/06/25/Klitorektomie-Hans-Martin-Wisseler-UKE-Hamburg-1976
Nach wie vor fehlt jegliche Aufarbeitung auch darüber, wie lange kosmetische Klitorisamputationen an Kindern in der Charité (und auch in anderen Kliniken) systematisch praktiziert wurden. Es sind jedoch aus Kliniken im deutschen Sprachraum Fälle bis in die 1980er Jahre öffentlich bekannt!
• 2010: Berliner Senat leugnet kosmetische Genitaloperationen an Kindern
In seiner Antwort (Drucks. 16/144436) auf eine im Wortlaut auf Zwischengeschlecht.org zurückgehenden Anfrage leugnete der Senat rundweg jegliche "Erkenntnisse über konkrete Fälle mit derartigen Eingriffen oder Therapien" und behauptete weiter: "Auch gibt es keine Erkenntnisse darüber, ob und welche Krankenhäuser in Berlin solche Behandlungen an Kindern vorgenommen haben."
Relevante Zitate und Downloadlink der ganzen Drucks. 16/144436:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2011/10/09/Genitalverstuemmelungen-Berliner-Senat-keine-Erkenntnisse
• "Hypospadiekorrekturen" mittlerweile häufigste kosmetische "Genitalkorrekturen" an Kindern
Seit wohl mindestens 20 Jahren sind "Hypospadiekorrekturen" die mit Abstand am häufigsten praktizierten medizinisch nicht notwendigen "Genitalkorrekturen" an Kindern – trotz erschreckender Komplikationsraten mit oft gravierenden medizinischen Folgeschäden und öffentlicher Kritik Betroffener (vgl. oben Hintergrund). Internationale wie deutschsprachige Zwitterorganisationen wehren sich seit 15 Jahren dagegen, wie Mediziner, aber auch verantwortliche PolitikerInnen diese kosmetischen Eingriffe unzulässigerweise aus der Diskussion ausklammern wollen:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2011/10/04/Ausklammerung-Hypospadie-unethisch
>>> "Intersex"-Genitalverstümmelungen in der Charité - Offener Brief 4.9.12
>>> Verflucht sollt ihr alle sein, denn an euren Händen klebt Kinderblut!
Published on Tuesday, September 4 2012 by seelenlos