Offener Brief an das Kinderspital Zürich von Zwischengeschlecht.org
(Bild © Dominik Huber)
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Schweizerische Selbsthilfegruppe
Zwischengeschlecht.org
c/o Postfach 2122
8031 Zürich
info_at_zwischengeschlecht.org
Kinderspital Zürich
z.Hd. der Abteilungen
Endokrinologie
Kinderchirurgie/Urologie
Steinwiesstrasse 75
8032 Zürich
Zürich, 6. Juli 2008
Offener Brief der Schweizerischen Selbsthilfegruppe
Zwischengeschlecht.org
Sehr geehrte Damen und Herren
Als sogenannt 'intersexuelle' Menschen und diesem Zusammenhang auch Betroffene
von nicht eingewilligten medizinischen Massnahmen sind wir sehr besorgt über
öffentliche Äusserungen von leitenden Ärzten des Kindesspitals Zürich, worin
diese ebensolche Zwangsmassnahmen öffentlich propagieren.
So zum Beispiel Prof. Dr. Eugen Schoenle, leitender Arzt und Abteilungsleiter
Endokrino-logie/Diabetologie, in "Der Landbote" vom 6. Februar 2008, der
behauptet, dass bei "An-drogenresistenz" die Hodenanlagen wegen hohem
Krebsrisiko "in den meisten Fällen" entfernt werden müssen. (1)
Oder Dr. med. Peter Sacher, leitender Arzt Pränatale Beratung und Viscerale
Chirurgie, der auf seiner Homepage "kinderchirurgie.ch" behauptet, bei CAIS
seien Gonadektomien (Entfernung der Keimdrüsen) lediglich eine "Frage des
Zeitpunktes". (2)
Als Betroffene sowohl von nicht eingewilligten Gonadektomien wie auch von nicht
einge-willigten "Genitalkorrekturen" sind wir über solche Aussagen entsetzt und
halten fest:
Flächendeckende prophylaktische Gonadektomien sind laut medizinischen Studien
in den meisten Fällen medizinisch nicht notwendig, haben aber für die
Betroffenen lebenslange, sehr schwerwiegende Folgen, insbesondere bei
anschliessender contrachromosomaler Hormonersatztherapie. So beträgt
beispielsweise bei CAIS das Krebsrisiko lediglich 0.8 %, bei PAIS 15 %. (3)
Sogar Wünsch und Wessel halten in einer aktuellen Publikation fest: "Indikation
und Zeitpunkt der Gonadenentfernung müssen dem individuellen Tumorrisiko
angepasst werden. Der Schutz der Fertilität ist ein zentrales Anliegen."
(4)
Geschlechtszuweisende chirurgische Genitalkorrekturen ohne medizinische
Indikation, wie sie offensichtlich auch im Kinderspital immer noch regelmässig
an Kleinkindern durchgeführt werden, sind auch in der medizinischen Lehre alles
andere als unumstritten. Nach wie vor gibt es keine gesicherten Erkenntnisse,
dass sie auf lange Sicht wirksam und sicher sind. Hingegen gibt es viele
Indizien, welche ihre Wirksamkeit in Frage stellen.
Weder ist gesichert, dass Genitalkorrekturen langfristig zu besseren
psychosozialen Re-sultaten führen, als wenn sie unterlassen werden. Noch kann
garantiert werden, dass ein Kind sich entsprechend der ihm zugewiesene
Geschlechtsidentität entwickelt. Im Gegenteil:
"Die Behandlungsunzufriedenheit von Intersexuellen ist [...] eklatant hoch.
[...] Ein Drittel [der Patienten] bewertet geschlechtsangleichende Operationen
als zufriedenstellend bzw. sehr zufriedenstellend, ein weiteres Drittel ist
unzufrieden bzw. sehr unzufrieden und das letzte Drittel ist z.T. zufrieden,
z.T. unzufrieden." (5)
„Auch aus der Literatur ist bekannt, dass sich ein überdurchschnittlich hoher
Prozentsatz von Menschen mit DSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter
entschließt, das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln.“ (6)
Auch aus ethischen und juristischen Gründen sind prophylaktische Gonadektomien
und geschlechtszuweisende chirurgische Genitalkorrekturen an Kindern ohne deren
infor-mierte Zustimmung strikt abzulehnen.
So kritisiert zum Beispiel Dr. med. Nikola Biller-Andorno, Professorin für
Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich, in der "Schweizerischen
Ärztezeitung" an einem konkreten Fallbeispiel, dass eine "Verschiebung der
operativen 'Korrektur'" mit "Einbeziehung des dann Jugendlichen in den
Entscheidungsprozess" von den behandelnden Ärzten lediglich als "'theoretische'
Option", jedoch nie als praktische Möglichkeit erwogen wird.
Im Gegensatz zu den behandelnden Ärzten plädiert Biller-Andorno "angesichts des
relativ geringen Schadens/Risikos im Falle des Aufschiebens einer Operation und
angesichts der noch nicht zufriedenstellenden Datenlage bezüglich der
Auswirkungen der jeweiligen Eingriffe auf die Lebensqualität der Betroffenen"
für eine Aufschiebung und dagegen, "durch eine Operation bereits irreversible
Fakten zu schaffen". (7)
Auch Prof. Dr. iur. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an der
Universität Zürich, stellt unmissverständlich klar: "Ein medizinischer Eingriff
braucht die Zustimmung der be-troffenen Person. In der Regel können die Eltern
für ihr Kind zustimmen. Geschlechtszu-weisende Operationen aber tangieren die
höchstpersönlichen Rechte und dürfen nicht ohne Zustimmung des betroffenen
Kindes vorgenommen werden – ausser es ist medizinisch notwendig." (8
)
Wir betroffene Menschen bitten Sie deshalb inständig, die offenbar auch im
Kinderspital Zürich üblichen, fragwürdigen Praktiken im Zusammenhang mit
Intersexualität zu über-prüfen, und bitten um eine diesbezügliche Stellungnahme
innert nützlicher Frist.
Ebenso bitten wir Sie inständig um Einbezug der Betroffenen und ihrer
Organisationen beim Erarbeiten künftiger Behandlungsrichtlinien sowie in der
Behandlung selbst (Anbie-ten von kontinuierlichem Peer Support sowohl für die
betroffenen Kinder wie auch für ihre Eltern).
In der Hoffnung auf einen konstruktiven Dialog zwischen verantwortlichen Ärzten
und uns Betroffenen grüssen wir Sie freundlich
Im Namen der Schweizerischen Selbsthilfegruppe
Daniela Truffer
Gründungsmitglied Zwischengeschlecht.org
Mitglied XY-Frauen
1. Vorsitzende Intersexuelle Menschen e.V.
Quellen (alle Links Stand 5.7.2008)
(1) Katharina Baumann: "Zwitter kämpfen gegen Fremdbestimmung". Der Landbote,
6.2.2008
(2) N. N.: "Management bei Androgen Insensitivity Syndrome (testikuläre
Feminisierung)". http://www.kinderchirurgie.ch/manag/test_feminisierung.html
(3) Martine Cools, Stenvert L. S. Drop, Katja P. Wolffenbuttel, J. Wolter
Oosterhuis, and Leendert H. J. Looijenga: "Germ Cell Tumors in the Intersex
Gonad: Old Paths, New Directions, Moving Frontiers". Endocrine Reviews 27(5),
2006: S. 468–484 (S. 481)
(4) L. Wünsch, L. Wessel: "Chirurgische Strategien bei Störungen der
Geschlechtsentwicklung". Monats-schrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3.
Springer Berlin / Heidelberg 2008, S. 234-240
(5) Christian Schäfer: "Intersexualität: Menschen zwischen den
Geschlechtern".
http://www.springer.com/medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0
Lisa Brinkmann; Katinka Schweizer; Hertha Richter-Appelt:
"Behandlungserfahrungen von Menschen mit Intersexualität. Ergebnisse der
Hamburger Intersex-Studie". Gynäkologische Endokrinologie 04/2007, S.
235-242
(6) M. Jürgensen; O. Hiort; U. Thyen: "Kinder und Jugendliche mit Störungen der
Geschlechtsentwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und
Herausforderungen bei der Versorgung". Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume
156, Number 3, March 2008, S. 226-233. http://www.netzwerk-is.uk-sh.de/is/fileadmin/documents/publikationen/Kinder_und_Jugendliche_mit_Stoerungen_der_Geschlechtsentwicklung.pdf
(7) Nikola Biller-Andorno: "Zum Umgang mit Intersex: Gibt es Wege jenseits der
Zuordnung des 'richtigen Geschlechts'?". Schweizerische Ärztezeitung, 47/2007,
S. 2047-2048
(8 ) Katrin Hafner: "Ein Intersexueller klagt seinen ehemaligen Arzt an".
Tages-Anzeiger, 05.02.2008. http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/wissen/medizin/838834.html
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Published on Sunday, July 6 2008 by nella