Rohfassung vom 24.11.08 der Kleinen Anfragen 16/12769 und 16/12770
Von DIE LINKE überarbeitete Fassung vom 24.11.08 der Zuarbeit von Daniela Truffer vom 25.9.08. Wurde dann weiterverwurstet zu den Kleinen Anfragen 16/12769 und 16/12770.
Zur
Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland
In der Bundesrepublik Deutschland wird eine nicht unerhebliche Anzahl an
Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren. Die Betroffenen
Menschen selbst bezeichnen sich als Zwischengeschlechtliche, Hermaphroditen,
Zwitter oder Intersexuelle. Der medizinische Fachausdruck lautet: DSD-Patienten
(DSD = Disorders of Sexual Development, deutsch: Störungen der
Geschlechtsentwicklung). In medizinischen Fachkreisen herrscht die Meinung vor,
dass diese Störung durch medizinische Eingriffe bereits im frühen Stadium der
kindlichen Entwicklung korrigiert werden müsste. Deshalb kommt es häufig schon
im Kindesalter zu Operationen an den Genitalien, mit dem Ziel sie einem
Geschlecht zuzuordnen. Selbsthilfeorganisationen behaupten, dass es bis in die
1980er Jahre medizinische Praxis gewesen sei, einen zu kleinen Penis
beziehungsweise eine zu große Klitoris zu amputieren. Dabei gilt es aus den
heutigen Erkenntnissen als fraglich, ob dem eine medizinische Indikation
zugrunde liegt und, ob diese medizinischen Eingriffe im Sinne der Betroffenen
waren und sind. So kommt die "Hamburger Studie" zu dem Ergebnis: "Die
Behandlungsunzufriedenheit von Intersexuellen ist [...] eklatant hoch. [...]
Ein Drittel [der Patienten] bewertet geschlechtsangleichende Operationen als
zufriedenstellend bzw. sehr zufriedenstellend, ein weiteres Drittel ist
unzufrieden bzw. sehr unzufrieden und das letzte Drittel ist z.T. zufrieden,
z.T. unzufrieden." (Christian Schäfer: "Intersexualität: Menschen zwischen den
Geschlechtern". http://www.springer.com/medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0)
Die Folgen dieser medizinischen Eingriffe können eine lebenslange Substitution
mit körperfremden Hormonen zur Folge haben. Bei der weiblichen Zuweisung des
Geschlechts wurden häufig Östrogene verabreicht, obwohl etwa betroffene
Menschen mit Androgenresistenz von sich aus Testosterone produzieren würden,
die dann vom Körper in Östrogene umgewandelt werden. Die Folgen der
Hormonersatztherapien können unter anderem Depressionen, Adipositas,
Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen, Osteoporose, Einschränkung der kognitiven
Fähigkeiten und Libidoverlust zur Folge haben. Viele Betroffene haben das
Problem, dass sie bei einem Wechsel der Hormonersatztherapie, die Kosten
eigenständig tragen müssen, weil die GKV die Kosten nicht übernimmt.
Die Kritik der betroffenen Menschen und ihrer Selbsthilfeorganisationen hat in
den vergangenen Jahren zu einem Rückgang der frühzeitigen medizinischen
Eingriffe geführt.
Viele betroffene Menschen beklagen, dass sie (und oft auch ihre Eltern) über
die Besonderheit der an ihnen vorgenommenen Eingriffe und deren lebenslangen
Folgewirkungen nicht ausreichend aufgeklärt wurden, dabei hätten diese
Eingriffe massive psychische und physische Schäden zur Folge unter denen sie
ein Leben lang leiden würden.
Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich ein überdurchschnittlich hoher
Prozentsatz von Menschen mit DSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter
entschließt, das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln." (M.
Jürgensen; O. Hiort; U. Thyen: "Kinder und Jugendliche mit Störungen der
Geschlechtsentwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und
Herausforderungen bei der Versorgung". Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume
156, Number 3, March 2008, S. 226-233.
http://www.netzwerk-is.uk-sh.de/is/fileadmin/documents/publikationen/Kinder_und_Jugendliche_mit_Stoerungen_der_Geschlechtsentwicklung.pdf).
Auch von Gerichten wird mittlerweile anerkannt, dass diese medizinischen
Eingriffe das Selbstbestimmungsrecht verletzen können. Am 3. September 2008
gewann die Intersexuelle Christiane Völling den Prozess gegen ihren ehemaligen
Operateur auch in 2. Instanz. Das Kölner Oberlandesgericht bestätigte, wie
schon das Landgericht, dass das "Selbstbestimmungsrecht der Klägerin in ganz
erheblichem Maße verletzt" worden sei (Az. 5 U 51/08).
Am 21. Juli 2008 präsentierte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e.V.
in einem offiziellen Hearing dem UN-Ausschuss CEDAW einen eigenen
Schattenbericht, dem die Forderungsliste ebenfalls beigelegt war (http://intersex.schattenbericht.org).
Dieser Schattenbericht belegt, dass eine große Anzahl von Betroffenen die
derzeitige medizinische Praxis als problematisch ansieht.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Kinder werden nach den Informationen der Bundesregierung jährlich
in Deutschland geboren, die als intersexuell klassifiziert werden können
(Angaben bitte in absoluten Zahlen und Prozent)?
Wenn der Bundesregierung keine exakten Zahlen zugänglich sind: Gibt es
Überlegungen diese Zahlen Statistisch zu erfassen, so wie dies in der Antwort
XX der Drucksache XX zugesagt wurde?
2. Wie viele Säuglinge und Kinder im vorpubertären Alter werden pro Jahr nach
der Diagnose DSD geschlechtszuweisenden medizinische behandelt
(Hormonbehandlungen, Genitaloperationen, etc.) unterworfen (Wir bitten um eine
aufgliedern)?
Wenn der Bundesregierung keine exakten Zahlen zugänglich sind: Gibt es
Überlegungen diese Zahlen statistisch zu erheben?
3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Kritik von einigen Betroffenen, an den
an Ihnen vorgenommen medizinischen Eingriffen?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
4. Welche Studien sind der Bundesregierung zur Behandlungszufriedenheit und
-unzufridenheit von Intersexuellen in Deutschland bekannt?
Wie beurteilt sie diese?
Insbesondere: Wie beurteilt die Bundesrepublik die Studien ( bspw o.g.
„Hamburger Studie“) die die Kritik einiger Betroffener stützt?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
5. Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl von im Kindesalter am
Genitale operierten Intersexuellen an einer Verminderung oder vollständigen
Zerstörung der sexuellen Empfindungsfähigkeit leiden?
Wenn ja, wie bewertet sie das?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, welche Auswirkungen von Genitaloperationen auf das sexuelle
Empfinden sind der Bundesregierung bekannt?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
6 . Wenn der Bundesregierung keine Auswirkungen bekannt sind, was gedenkt sie
zu unternehmen, um die Auswirkungen von Genitaloperationen auf das sexuelle
Empfinden abzuklären? In welchem Zeitrahmen?
7. Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl von kastrierten
Intersexuellen an Folgeschäden der einzig auf das zugewiesene Geschlecht
ausgerichteten Hormonersatztherapie leiden?
Wenn ja, welche Folgen sind der Bundesregierung bekannt?
Wie beurteilt sie diese und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um die
Verträglichkeit der gängigen, einzig auf das zugewiesene Geschlecht
ausgerichteten Hormonersatztherapien abzuklären? In welchem Zeitrahmen?
8. Ist die Bundesregierung bereit, gemäß den Forderungen betroffener Menschen
Forschungsvorhaben mit dem Ziel einer individuell abgestimmten und
verträglicheren Hormonersatztherapie zu unterstützen?
9 . Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl der ohne ihre
Einwilligung kastrierten und genitaloperierten Intersexuellen dadurch
zusätzlich traumatisiert sind, dass ihnen ihr eigentliches Geschlecht
verheimlicht wurde, und dass sie diese Traumatisierung als besonders gravierend
empfinden?
Wenn ja, wie bewertet sie das?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, welche Äusserungen von Intersexuellen zu Traumatisierungen durch
Verheimlichung ihres eigentlichen Geschlechts sind der Bundesregierung
bekannt?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn der Bundesregierung keine bekannt sind, was gedenkt sie zu unternehmen, um
die Auswirkungen der Verheimlichung abzuklären?
10. Geht die Bundesregierung einig mit der Ansicht betroffener Menschen, dass
die Existenz und medizinische Behandlung Intersexueller einen sensiblen und
tabuisierten Bereich darstellt, indem in der Vergangenheit zum Teil gravierende
Fehler begangen wurden, welche das von der Bundesregierung postulierte Gebot
des Kindeswohls prinzipiell in Frage stellen?
Wenn ja, wie bewertet sie das?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, was ist die Einschätzung der Bundesregierung?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
11. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Intersexuelle
begleitend zu medizinischer Behandlung auch psychologische bzw.
psychotherapeutische Betreuung?
Wenn ja, in welcher Anzahl?
12. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Intersexuelle
begleitend zu medizinischer Behandlung und eventueller psychologischer bzw.
psychotherapeutischer Betreuung auch Peer Support?
Wenn ja, in welcher Anzahl?
13. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Eltern Intersexueller
psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung?
14. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Eltern Intersexueller
begleitend zu eventueller psychologischer bzw. psychotherapeutischer Betreuung
auch Peer Support?
Wenn ja, in welcher Anzahl?
15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung betroffener Menschen nach
Peer Support für Intersexuelle und ihre Eltern?
16 .Gibt es Überlegungen der Bundesregierung Peer Support für Intersexuelle und
ihre Eltern zu unterstützen?
17. Welche Unterstützung erfahren Intersexuelle und ihre Infrastruktur derzeit
aus Bundesmitteln?
18. Hält die Bundesregierung Maßnahmen erforderlich, um den Aufbau einer
bundesweiten Infrastruktur für erwachsene intersexuelle Menschen zu
unterstützen?
Wenn ja, was gedenkt sie zu unternehmen, um den Aufbau einer bundesweiten
Infrastruktur zu unterstützen?
Wenn nein, wie schätzt die Bundesregierung das Bedürfnis erwachsener
intersexueller Menschen nach einer solchen Infrastruktur ein?
19. Was kann und will die Bundesregierung unternehmen, um die Einrichtung
außerklinischer Kontaktzentren mit einem psychologischen Beratungsangebot für
Intersexuelle zu fördern, welche die von Fachleuten und Interessensverbänden
für wesentlich erachtete Kontaktaufnahme von Eltern und intersexuellen Kindern
mit anderen Menschen in der gleichen Situation und die psychologische Beratung
aller Beteiligten ermöglichen würde?
20. Ist die von der Bundesregierung in Drucksache 16/4786, Antwort C 5, in
Aussicht gestellte Prüfung, ob und inwieweit allgemein zugängliche und
akzeptanzfördernde Aufklärungsarbeiten über die Existenz intersexueller
Menschen geeignet und erforderlich sind, inzwischen erfolgt?
Wenn ja, zu welchen Ergebnissen ist die Bundesregierung gekommen?
21. Welche Schritte wird die Bundesregierung hin zu einer solchen Aufklärung
unternehmen? Schließen diese Schritte die Aufnahme von Intersexualität in die
Lehrpläne der Schulen und Berufsausbildungen mit ein, insbesondere in Biologie,
Sexualkunde und den sozialen Fächern, sowie in der Ausbildung sämtlicher
medizinischer und sozialer Berufe, z.B. von Ärzten, Hebammen,
Krankenschwestern, Pflegern, Psychologen, Lehrkräften, Kindergärtnern,
Sozialarbeitern usw.?
Wenn nein, in welchem Zeitrahmen wird die Bundesregierung zu entsprechenden
Ergebnissen kommen?
22. Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl von Intersexuellen die
Jahrzehnte lange Weigerung der Bundesregierung, die durch die nicht
eingewilligten Eingriffe verursachten Leiden zur Kenntnis zu nehmen, als
billigendes Inkaufnehmen und damit schädigendes staatliches Handeln
betrachtet?
Was ist die Einschätzung der Bundesregierung dazu? Welche Konsequenzen zieht
sie daraus?
23. Ist der Bundesregierung bekannt, dass einer Vielzahl von Intersexuellen
durch Traumatisierung, Hormonbehandlung und weitere Folgen der nicht
eingewilligten medizinischen Eingriffe Zeit für ihr berufliches Fortkommen
genommen wird und sie dadurch Einkommens- und Renteneinbussen erleiden?
Wenn ja, wie bewertet sie das?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, welche Auswirkungen von Traumatisierung, Hormonbehandlung und
weiteren Folgen der nicht eingewilligten medizinischen Eingriffe auf das
berufliche Fortkommen sind der Bundesregierung bekannt?
Wenn keine, was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um die Auswirkungen
abzuklären? In welchem Zeitrahmen?
24. Ist die Bundesregierung bereit, zusammen mit den verantwortlichen
ärztlichen Standesorganisationen Mittel zur Entschädigung Intersexueller, die
Opfer nicht eingewilligter medizinischer Geschlechtszuweisungen geworden sind,
zur Verfügung zu stellen?
Wenn ja, welche Schritte gedenkt die Bundesregierung dahingehend zu unternehmen
und in welchem Zeitrahmen?
Wenn nein, warum nicht?
25. Werden mit Bundesmitteln medizinische Forschungen zu Ursachen und zur
Behandlung von Intersexualität gefördert?
Wenn ja, an welche Institutionen und Einrichtungen werden diese in welcher Höhe
vergeben?
26. Werden mit Bundesmitteln nicht-medizinische Forschungen zur Evaluation der
sozialen und rechtlichen Situation intersexueller Menschen in Deutschland
gefördert?
Wenn ja, an welche Institutionen und Einrichtungen werden diese in welcher Höhe
vergeben?
27. Ist der Bundesregierung bekannt, dass eine Vielzahl von Intersexuellen die
nicht eingewilligten Eingriffe und ihre Folgen als eine Verletzung nicht nur
der Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde
empfinden, sondern auch als eine Verletzung der Kinderrechtskonvention (CRC),
des Zivilpakts (ICCPR), des Sozialpakts (CESCR) und der Konvention gegen Folter
(CAT)?
Wie bewertet sie diese Vorwürfe?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
28. Ist der Bundesregierung der Schattenbericht CEDAW 2008 des Dachverbandes
Intersexuelle Menschen e.V. bekannt?
Wenn ja, wie bewertet sie diesen?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
29. Sind der Bundesregierung die Forderungen des Dachverbandes Intersexuelle
Menschen e.V. bekannt?
Wenn ja, wie bewertet sie diese?
Welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, in welchem Zeitrahmen wird die Bundesregierung eine Abklärung
vornehmen?
Published on Monday, November 24 2008 by nella