Bruchstücke
By nella on Tuesday, October 2 2007, 12:10 - Ich - Permalink
in der primarschule, ich weiss es noch genau, weil es auf dem grossen
pausenplatz war, und dieser gehörte zur primarschule, stand ich, ich kann mich
noch gut erinnern, verliebt in martin und dachte: das geht nicht, das ist nicht
möglich für mich. sonst weiss ich nicht mehr viel über das, was ich als kind
dachte.
meine mutter meinte immer wieder, die ärzte hätten an mir herumgepfuscht, es
wäre nicht nötig gewesen, meine eierstöcke rauszunehmen, die hätten an mir
herumexperimentiert. als ich wieder einmal bei unserem hausarzt war, ich war
etwa vierzehn, habe ich mein sprüchlein aufgesagt, das meine mutter mir
aufgetragen hat, von wegen, dass es nicht nötig gewesen wäre, meine eierstöcke
zu entfernen. unser hausarzt reagierte gereizt, stand auf, verwarf die hände
und rief aus: das waren doch gar keine eierstöcke, das waren hoden. ich blieb
sitzen, erschlagen, verletzt, beschämt, aus verschiedenen gründen: dass ich
dummerchen da aufsage, was meine mutter mir aufgetragen, unfähig, selbständig
zu handeln und zu fragen, ich unwissende und naive; die reaktion des arztes,
wie eine ohrfeige, einerseits wie er es sagte, ach, diese dummen arbeiterleute
begreifen doch auch gar nichts, andererseits was er sagte: hoden. und statt mir
dann endlich zu erklären, warum denn hoden, liess er mich allein im
sprechzimmer zurück.
so dumm und so klein und nichtig bin ich aber nicht, ich dachte, oha, jetzt
oder nie, wenn er schon nichts sagt, muss ich wohl selber zu meinen infos
kommen, und warf einen raschen blick in meine krankenakte: zuoberst stand
'pseudohermaphroditismus masculinus'. was? pseudo heisst pseudo, also nicht
wirklich etwas, hermaphroditismus kommt von hermaphrodit, das ist doch so ein
komisches fabelwesen, halb mann, halb frau, und masculinus ... als tochter
einer italienischen mutter und daselbst sehr sprachgewandte person war auch das
ziemlich klar. war ich geschockt? schon, aber so wie immer, eher gelähmt, aber
nichts anmerken lassen, so tun, als wäre alles in ordnung. war wieder mal eine
seelische ohrfeige mehr, war wieder mal ein konsterniertes, reaktionsloses
sitzenbleiben und abwarten, im kopf lief’s aber rund. aber eigentlich war es
klar, war ich nicht wirklich überrascht. das elend war, dass ich auf diesem
wege rausfand, was mir vorenthalten wurde. ich hatte nun einen vorsprung, von
dem weder mein arzt noch meine eltern wussten. aber ich war allein damit. dann
kam der arzt zurück, ich weiss nicht mehr, was wir besprochen haben, aber
sicher nichts mehr über hoden. er hat so getan, als wäre das vorhin gar nicht
geschehen.
irgendwann mit sechzehn oder so habe ich begonnen, mich selbst zu befriedigen,
ich schloss mich dafür im badezimmer ein. ich schämte mich nicht und hatte
keine schuldgefühle, ich kann mich noch gut erinnern, dass ich irgendwie ein
triumphgefühl hatte, ha, was für gefühle ich da entfesseln kann, was für starke
gefühle ich da habe. als hätte ich angenommen, dass das nicht möglich sei oder
so. das konnten sie mir nicht wegnehmen! und es war ganz allein meines und die
anderen wussten nicht, dass es da war. die hatten ja mit allen mitteln
versucht, mir meine sexualität auszutreiben, aber sie war trotzdem da! das war
mein triumphgefühl. es sah etwas anders aus da unten, das habe ich wohl schon
früh gemerkt, meine klitoris war grösser als normal, nach der operation blieb
so ein schrumpeliges ding zurück, wahrscheinlich die vorhaut meines
mikropenisses, und meine scheide so ein vernarbtes gewebe. obwohl es nicht so
schön aussah und wohl auch nicht normal war oder sogar ziemlich abartig, weil
ja die ärzte immer wieder hinschauten und darüber redeten und mich so behutsam,
als wäre ich ganz eine arme sau, behandelten, und meine mutter so komisch
schaute und auswich mit von einem nervösen lächeln begleiteten erklärungen,
trotzdem kann ich solche gefühle haben, wenn ich meinen fantasien freien lauf
lassen. wie diese aussahen, weiss ich nicht mehr, aber im fernsehen gab es
manchmal so sexszenen.
als ich nach der vaginaloperation zu hause tag und nacht diese plastikprothese
tragen musste, es schmerzte und manchmal blutete es, stakste ich vor meinem
vater, meiner mutter und meinen schwestern in der wohnung herum und schämte
mich so sehr. es wussten ja alle, warum ich so komisch herumlaufe, aber es
wurde nicht darüber geredet. diese zur schau gestellte geschlechtlichkeit oder
konstruierte geschlechtlichkeit. in dieser zeit hatte ich immer so eine art
turnschuhe an aus mausgrauem stoff, ich freute mich so sehr über diese schuhe,
hatte sie gekauft, obwohl sie etwas schräg aussahen, vielleicht etwas vom
ersten, was ich selbständig, ohne von meiner mutter sekundiert zu werden,
kaufte. es war die zeit der engen hosen und depeche mode. ich konzentrierte
mich auf diese schuhe, lief oder eben stakste mit ihnen herum, trug sie immer,
nannte sie mausschuhe. meine mutter neckte mich und lachte, die mit ihren
mausschuhen, und ich schaute die schuhe immer an, wenn ich herumlief. diese
schuhe waren irgendwie wie freiheit für mich, ich klammerte mich an dieses
bild. trotz dieser erniedrigenden situation, dieser wunde zwischen den beinen
und dann noch so ein plastikstöpsel habe ich coole schuhe an. schade, dass ich
sie nicht mehr habe, sie waren am schluss regelrecht zerschlissen und wurden
wohl weggeworfen.
ich kann mich noch genau an den abschiedsbesuch bei meinem arzt erinnern. wir
standen am fenster und schauten ins grüne hinaus. mein arzt stand links von
mir. er sah mich von der seite an und sagte dann mit seiner ruhigen und sanften
art: weißt du, nella, du hast eben xy-chromosomen, aber es ist besser, wenn du
es deinem freund nicht sagst, der würde das nicht verstehen. ich schaute weiter
aus dem fenster, er auch, ich konnte nicht mehr denken. xy? ich sagte nichts
dazu, er auch nicht viel mehr, es gab keine erklärungen oder erläuterungen. ich
glaube, ich habe dann gefragt, ob es noch andere wie mich gibt oder so. dann
haben wir uns bald einmal voneinander verabschiedet, ich ging allein mit diesem
xy im kopf in mein leben zurück. weiss nicht mehr, wie lange ich es mit mir
herumtrug, bevor ich es meinem freund sagte. er hat's verstanden.