Bruchstücke

in der primarschule, ich weiss es noch genau, weil es auf dem grossen pausenplatz war, und dieser gehörte zur primarschule, stand ich, ich kann mich noch gut erinnern, verliebt in martin und dachte: das geht nicht, das ist nicht möglich für mich. sonst weiss ich nicht mehr viel über das, was ich als kind dachte.

meine mutter meinte immer wieder, die ärzte hätten an mir herumgepfuscht, es wäre nicht nötig gewesen, meine eierstöcke rauszunehmen, die hätten an mir herumexperimentiert. als ich wieder einmal bei unserem hausarzt war, ich war etwa vierzehn, habe ich mein sprüchlein aufgesagt, das meine mutter mir aufgetragen hat, von wegen, dass es nicht nötig gewesen wäre, meine eierstöcke zu entfernen. unser hausarzt reagierte gereizt, stand auf, verwarf die hände und rief aus: das waren doch gar keine eierstöcke, das waren hoden. ich blieb sitzen, erschlagen, verletzt, beschämt, aus verschiedenen gründen: dass ich dummerchen da aufsage, was meine mutter mir aufgetragen, unfähig, selbständig zu handeln und zu fragen, ich unwissende und naive; die reaktion des arztes, wie eine ohrfeige, einerseits wie er es sagte, ach, diese dummen arbeiterleute begreifen doch auch gar nichts, andererseits was er sagte: hoden. und statt mir dann endlich zu erklären, warum denn hoden, liess er mich allein im sprechzimmer zurück.

so dumm und so klein und nichtig bin ich aber nicht, ich dachte, oha, jetzt oder nie, wenn er schon nichts sagt, muss ich wohl selber zu meinen infos kommen, und warf einen raschen blick in meine krankenakte: zuoberst stand 'pseudohermaphroditismus masculinus'. was? pseudo heisst pseudo, also nicht wirklich etwas, hermaphroditismus kommt von hermaphrodit, das ist doch so ein komisches fabelwesen, halb mann, halb frau, und masculinus ... als tochter einer italienischen mutter und daselbst sehr sprachgewandte person war auch das ziemlich klar. war ich geschockt? schon, aber so wie immer, eher gelähmt, aber nichts anmerken lassen, so tun, als wäre alles in ordnung. war wieder mal eine seelische ohrfeige mehr, war wieder mal ein konsterniertes, reaktionsloses sitzenbleiben und abwarten, im kopf lief’s aber rund. aber eigentlich war es klar, war ich nicht wirklich überrascht. das elend war, dass ich auf diesem wege rausfand, was mir vorenthalten wurde. ich hatte nun einen vorsprung, von dem weder mein arzt noch meine eltern wussten. aber ich war allein damit. dann kam der arzt zurück, ich weiss nicht mehr, was wir besprochen haben, aber sicher nichts mehr über hoden. er hat so getan, als wäre das vorhin gar nicht geschehen.

irgendwann mit sechzehn oder so habe ich begonnen, mich selbst zu befriedigen, ich schloss mich dafür im badezimmer ein. ich schämte mich nicht und hatte keine schuldgefühle, ich kann mich noch gut erinnern, dass ich irgendwie ein triumphgefühl hatte, ha, was für gefühle ich da entfesseln kann, was für starke gefühle ich da habe. als hätte ich angenommen, dass das nicht möglich sei oder so. das konnten sie mir nicht wegnehmen! und es war ganz allein meines und die anderen wussten nicht, dass es da war. die hatten ja mit allen mitteln versucht, mir meine sexualität auszutreiben, aber sie war trotzdem da! das war mein triumphgefühl. es sah etwas anders aus da unten, das habe ich wohl schon früh gemerkt, meine klitoris war grösser als normal, nach der operation blieb so ein schrumpeliges ding zurück, wahrscheinlich die vorhaut meines mikropenisses, und meine scheide so ein vernarbtes gewebe. obwohl es nicht so schön aussah und wohl auch nicht normal war oder sogar ziemlich abartig, weil ja die ärzte immer wieder hinschauten und darüber redeten und mich so behutsam, als wäre ich ganz eine arme sau, behandelten, und meine mutter so komisch schaute und auswich mit von einem nervösen lächeln begleiteten erklärungen, trotzdem kann ich solche gefühle haben, wenn ich meinen fantasien freien lauf lassen. wie diese aussahen, weiss ich nicht mehr, aber im fernsehen gab es manchmal so sexszenen.

als ich nach der vaginaloperation zu hause tag und nacht diese plastikprothese tragen musste, es schmerzte und manchmal blutete es, stakste ich vor meinem vater, meiner mutter und meinen schwestern in der wohnung herum und schämte mich so sehr. es wussten ja alle, warum ich so komisch herumlaufe, aber es wurde nicht darüber geredet. diese zur schau gestellte geschlechtlichkeit oder konstruierte geschlechtlichkeit. in dieser zeit hatte ich immer so eine art turnschuhe an aus mausgrauem stoff, ich freute mich so sehr über diese schuhe, hatte sie gekauft, obwohl sie etwas schräg aussahen, vielleicht etwas vom ersten, was ich selbständig, ohne von meiner mutter sekundiert zu werden, kaufte. es war die zeit der engen hosen und depeche mode. ich konzentrierte mich auf diese schuhe, lief oder eben stakste mit ihnen herum, trug sie immer, nannte sie mausschuhe. meine mutter neckte mich und lachte, die mit ihren mausschuhen, und ich schaute die schuhe immer an, wenn ich herumlief. diese schuhe waren irgendwie wie freiheit für mich, ich klammerte mich an dieses bild. trotz dieser erniedrigenden situation, dieser wunde zwischen den beinen und dann noch so ein plastikstöpsel habe ich coole schuhe an. schade, dass ich sie nicht mehr habe, sie waren am schluss regelrecht zerschlissen und wurden wohl weggeworfen.

ich kann mich noch genau an den abschiedsbesuch bei meinem arzt erinnern. wir standen am fenster und schauten ins grüne hinaus. mein arzt stand links von mir. er sah mich von der seite an und sagte dann mit seiner ruhigen und sanften art: weißt du, nella, du hast eben xy-chromosomen, aber es ist besser, wenn du es deinem freund nicht sagst, der würde das nicht verstehen. ich schaute weiter aus dem fenster, er auch, ich konnte nicht mehr denken. xy? ich sagte nichts dazu, er auch nicht viel mehr, es gab keine erklärungen oder erläuterungen. ich glaube, ich habe dann gefragt, ob es noch andere wie mich gibt oder so. dann haben wir uns bald einmal voneinander verabschiedet, ich ging allein mit diesem xy im kopf in mein leben zurück. weiss nicht mehr, wie lange ich es mit mir herumtrug, bevor ich es meinem freund sagte. er hat's verstanden.