Tagung RECHTE VON KINDERN IN MEDIZIN UND FORSCHUNG (Teil 1)
By seelenlos on Friday, October 10 2008, 21:53 - Die Mediziner - Permalink
Ich hatte mich kurzfristig entschlossen, an dieser 2-tägigen Veranstaltung teilzunehmen (Pressemitteilung zur Veranstaltung / Ankündigung auf der Göttinger Uni-Homepage), veranstaltet von der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen und der Arbeitsgruppe "Intersexualität und Ethik" im "Netzwerk DSD/Intersexualität". Zwischen beiden Gruppierungen gibt es personelle Überschneidungen: Prof. Dr. Claudia Wiesemann steht beiden Organisationen vor, Susanne Ude-Koeller ist ebenfalls beiderorts dabei. Die Netzwerk-Arbeitsgruppe erarbeitete auch die "Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD", publiziert in der Monatsschrift Kinderheilkunde 3/2008 (umsonst zugängliche Zusammenfassung).
Das Programm gliederte sich in 2 Teile, die ich auch für diese Berichterstattung übernehme. Am 1. Tag ging es um verschiedene Aspekte, die nicht direkt mit "Intersexualität" zu tun haben, jedoch vielfach ähnliche Fragen aufwerfen und interessante Zusammenhänge aufzeigten. Am 2. Tag ging es dann spezifisch um "Intersex"-Themen.
Auch wenn ich im Verlauf der Veranstaltung mehr als einmal leer schlucken musste, war sie insgesamt doch interessant und ich habe eine Menge neu erfahren. Die Tagung wurde durchgehend auf englisch gehalten, auf meine Kappe gehende falsche Übersetzungen von Fachbegriffen bitte ich mitzuteilen. Nachfolgend meine Zusammenfassung des 1. Tages:
1. Referat
Marie Fox / Michael Thomson
Universität Keele, England
"Bestes Interesse" und anwaltschaftliche Vertretung von Kindern:
Eine Beschneidungsfallstudie
Aus der Zusammenfassung: Kritisiert wurde ein allzu lasche Handhabung des
Kinderschutzes in England und eine allzugrosse Bereitschaft der behandelnden
Mediziner, welche Beschneidungen alleine nach dem Gutdünken der Eltern
vornehmen, ohne jede Rücksicht auf Schutz der Kinder vor ungewollten
Eingriffen, was nach Ansicht der Referenten "abwegig" ist, zumal in England
theoretisch straffere Kinderschutzvorschriften existieren als etwa in den USA.
Die Referenten schlagen deshalb vor, statt nur nach "besten Interessen"
zusätzlich auch nach "Bedürfnissen" gegenüber "(möglichen) Schäden" zu fragen,
um das Recht auf körperliche Unversehrtheit der betroffenen Kinder besser
verteidigen zu können.
In der Diskussion erregte eine Stellungnahme des Kinderchirurgen Maximilian Stehr besonderes Aufsehen, der radikal gegen nicht medizinisch indizierte Beschneidungen an Knaben ist. Er veröffentlichte kürzlich dazu auch einen ebenfalls Aufsehen erregenden Artikel im Deutschen Ärzteblatt, weil er die Meinung vertritt, dass solche medizinisch nicht notwendigen Beschneidungen in jedem Fall einen Straftatbestand darstellen. In der Kinderchirurgie in München, wo er als Oberarzt praktiziert, werden solche Beschneidungen deshalb nicht mehr durchgeführt.
Da ich erst am Donnerstag Morgen anreisen konnte, verpasste ich die ersten 2 Vorträge und Diskussionen. Beim anschliessenden Beisammensein in der Kneipe wurde mir dann von einer Drittperson zunächst fälschlicherweise berichtet, in München würden auch keine genitalen Zwangsoperationen an Zwittern mehr durchgeführt. Dem ist aber leider nicht so, wie ich von Herr Stehr am nächsten Tag durch Nachfragen erfuhr -- wäre auch zu schön gewesen: Im Gegenteil werden auch Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität in München z.B. Kinder mit AGS nach wie vor meist im Alter von 4-7 Monaten zwangsoperiert. Das ist wohl der Unterschied zwischen "normalen" und "uneindeutigen" Genitalen: Während bei "normalen" Penissen sich langsam durchsetzt, dass auch die Vorhaut nicht einfach nach Gutdünken der Eltern und Ärzte beschnippelt werden darf, gilt bei "intersexuellen" Genitalen das Selbstbestimmungsrecht weiterhin nix ... So bleibt es weiterhin bei einem einzigen Arzt, von dem ich weiss, dass er aus Gewissensgründen an Zwitterkindern keine genitalen Zwangsoperationen mehr durchführt ...
Wie mir Herr Stehr weiter berichtete, habe er auf den Ärteblatt-Artikel
einige "böse Leserbriefe" erhalten, "vor allem von niedergelassenen Ärzten",
die eine bewährte Einnahmequelle verlieren würden, wenn sich Stehrs Ansicht
allgemein durchsetzt ...
2. Referat
Sabine Müller
Universität Aachen
Cochlea Implantate bei gehörlosen Babies -- "Bestes Interesse"
versus die Interessen der Gehörlosen Nation
Aus der Zusammenfassung und einem Gespräch mit der Referentin: Bei gehörlosen
Kindern ist es mittlerweile möglich, ihnen mittels eines Implantats im den
Gehörgängen und einem "Gehörapparat", der mittels Magnet aussen am Schädel
befestigt wird, einem Gehörsinn zu ermöglichen. Obwohl die Technik noch nicht
ausgereift ist und im Verlgeich zum natürlichen Gehörsinn umständlich
rudimentär bleibt, ist es gehörlos geborenen Kindern so trotzdem möglich,
Geräusche zu hören und auch sprechen zu lernen. Dazu muss der Eingriff
aleerdings in den ersten 2 Lebensjahren durchgeführt werden, weil sonst die
Gehörareale des Gehirns nicht entwickelt werden und irreversibel verkümmern.
Demgegenüber könnte der Eingriff später rückgängig gemacht werden, was aber
keine betroffenen Menschen anstreben würden. Trotzdem werden die Eingriffe von
Verbänden von gehörlos Geborenen kritisiert, weil damit ihre Kultur inkl.
Gebärdensprache akut vom Aussterben bedroht ist. Trotzdem argumentiert die
Referentin für das Recht der betroffenen Kinder auf Gehör.
3. Referat
Pekka Louhiala
Universität Helsinki, Finnland
Über das Recht auf Grösse -- können Östrogenbehandlungen für
grossgewachsene Mädchen überhaupt gerechtfertigt werden?
Der Referent untersuchte die weltweite wissenschaftliche Literatur zum Thema:
Seit 50 Jahren werden hochgewachsene Mädchen mit Östro (oder eine
Östro-Testo-Kombination) behandelt, um ihr Wachstum vorzeitig "einzufrieren",
weil sie sonst unter ihrer Grösse unter "psychosozialen Problemen" leiden
würden (Minderwertigkeitsgefühle, Probleme einen Partner zu finden, wobei die
Mädchen ihrer Übergrösse die Schuld dafür geben). Möglich sind 6 cm weniger
Wachstum, wenn die Behandlung im "Knochenalter" von 10 Jahren beginnt, bei 13
Jahren sind noch 2 cm weniger möglich, während bei 14 Jahren keine Wirkung mehr
eintritt. Nebenwirkungen sind eine vorgezogenen Pubertät und verminderte
Fruchtbarkeit. Auch hier gibt es dazu weltweit keine verlässlichen Statistiken,
wie oft das Verfahren angewendet wurde, jedoch ist die Tendenz abnehmend, weil
das "Problem" offensichtlich seine soziale Relevanz verliere. Bezeichnend, dass
in allen Studien nie ethische Überlegungen oder Überprüfungen mit
Vergleichsgruppen angestellt wurden, sprich der Nutzen vs. Schaden der
Behandlung war nie erwiesen, abgestellt wurde immer auf die Wünsche der Eltern,
bzw. vornehmlich der Mütter (die Töchter hätten meist keine Meinung geäussert
und die Väter wurden gar nicht befragt). Eine australische Studie legte zudem
nahe, dass behandelte wie unbehandelte grosse Mädchen/Frauen gleich
überdurchschnittlich an Depressionen und anderen Problemen litten. In allen
Studien durchgehend nicht reflektiert wurde, dass die Untersuchungen und
Behandlungen an sich den Mädchen erst recht die Botschaft vermittelt: Du bist
nicht in Ordnung. Interessant auch, dass in vielen Studien die Übergrösse
schnell mal als "Krankheit" bezeichnet wird. Der Referent stand der Methode
skeptisch gegenüber, würde aber (hypothetisch) wohl doch seinen Einwilligung
geben, wenn z.B. seine Frau und seine Tochter darauf bestehen würden.
In der Diskussion wurde u.a. darauf hingewiesen, dass kleine Männer auch
Probleme haben, eine Partnerin zu finden, ebenfalls "zu intelligente" Frauen,
und ob dann in dem Fall eine "Dummheitsbehandlung" angemessen wäre? Meinerseits
wies ich auf das allgemeinmenschliche Problem hin, einem Körpermerkmal "die
Schuld" für irgendwelche Probleme/Unzufriedenheiten zu geben, was m.E. (und
auch meiner eigenen Erfahrung nach) dazu führen kann, dass nach ev.
medizinischer "Entfernung" dann einfach das nächste Merkmal gesucht und auch
gefunden wird, was dann einen Teufelskreis in Bewegung setzen kann, was der
Referent auch als mögliche Ursache für "Schönheits-OP-Sucht" ansprach.
4. Referat
Maya Peled-Raz
Universität Haifa, Israel
"Bestes Interesse" von Kindern bei nicht-therapeutischen
Eingriffen
Die Referentin gab einen Überblick zum Begriff "Bestes Interesse" aus
juristischer Perspektive: Zunächst einmal dient der Begriff dazu, die
Befugnisse z.B. der Eltern zu beschränken. Es gibt jedoch 2 Möglichkeiten,
"Bestes Interesse" zu verstehen: Einerseits, die Interessen des Kindes zu
maximieren; andrerseits, seine Interessen zumindest nicht bedeutend zu
vermindern. Leider würde in der internationalen Rechtssprechung meist von der
2., schwächeren Bedeutung ausgegangen. Zudem wird eine Abwägung vorgenommen
zwischen Kindesinteresse, Autonomie der Familie (d.h. des Willens der Eltern),
der religiösen Praxis der Eltern, und den Interessen von "Kindern allgemein".
Weiter führe das Prinzip der Vermeidung bedeutenden Schadens dazu, dass bei
grösserem Nutzen auch gleichzeitig grösserer Schaden in Kauf genommen werden
darf. Oft würden Gerichte (etwa bei nicht-therapeutischer Forschung oder bei
Organspenden von Geschwistern) zudem schnell mal spekulativen Nutzen als
gegeben annehmen, die Interpretation von "Nutzen" generell möglichst weit
spannen und "Opfer" von individuellen Kindern als legitim betrachten ...
5. Referat
Imme Petersen / Regine Kollek
Universität Hamburg
Herausforderungen gewebsbasierter Forschung: Empirischer Überblick
über die Einstellungen von Eltern und Ihre Bedürfnisse betreffend informierte
Einwilligung und Datenschutz
Die Referentin erarbeitet zu diesem Thema eine Studie. Praktisch jedes Kind mit
Krebs nehme an medizinischen Versuchen teil. In den meisten Fällen werden
Gewebsproben gesammelt und damit geforscht. In der BRD ist dies legal, solange
ein direkter Nutzen für den Patienten oder eine Gruppe von Patienten daraus
entstehe, das Risiko nur minimal sei und die Eltern ihre Einwilligung geben.
Nationale und internationale Bestimmungen forderten mittlerweile generell nebst
der Einwilligung der Eltern (consent), die informiert, kompetent und frei
erfolgen müsse, auch die Zustimmung (assent) der Kinder. Nebst Fragen der
Zustimmung sind zudem auch folgende tangiert: Datenschutz und Vertraulichkeit,
Informationsrechte und -Pflichten.
In der Diskussion kam u.a. heraus, dass es z.B. in England Kindern zwar leicht gemacht werde, ihre Zustimmung zu geben -- im Gegensatz zum Anbringen eines Widerspruchs (dissent) ...
Ein klinischer Mediziner wies zudem darauf hin, dass es in der realen Welt
halt oft so aussehe, dass letztlich der Arzt entscheide, weil die Eltern gar
nicht fähig sind, eine informierte und kompetente Entscheidung zu treffen, da
sie weder willens noch fähig seien, sich das dazu nötige Wissen innert
nützlicher Frist anzueignen, weshalb es in der Praxis dann so laufe, dass der
Mediziner zu den Eltern eine Vertrauensbeziehung aufbaut und seine Arbeit mehr
darin sieht, sie von seiner eigenen Entscheidung zu überzeugen ...
Was im Fall von gewebsprobenbasierter Krebsforschung ev. weniger problematisch
sein mag, weil es ev. kaum zu keinen direkten Schädigungen von Kindern führt.
Bloss läufts ja in der realen Welt auch bei genitalen Zwangsoperationen nach
derselben Praxis -- und dort siehts für Zwitter bekanntlich rasch mal ungleich
düsterer aus ...