Berichterstattung über das "Schwule Ehepaar aus Malawi": Beispiel für Vereinnahmungskaskaden?

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Solidarität mit Zwittern statt VereinnahmungGeorg Klauda hat in seinem bahnbrechenden Vortrag "Fürsorgliche Belagerung" vom 31.10.2002 von "Kolonialisierungskaskaden" gesprochen, deren Opfer die Zwitter würden:

Durch die Queer- und Transgender-Modelle entstehen darüber hinaus Kolonialisierungskaskaden: Lesben und Schwule kolonialisieren Transsexuelle, und diese wiederum kolonialisieren Hermaphroditen. So haben etwa in der Berliner Partyszene die Tunten den Begriff Transgender für sich okkupiert und verneinen damit die Differenz, die zwischen ihnen besteht und Leuten, die die leidvolle Erfahrung machen müssen, dass ihre Einbildungskraft ihnen die Zugehörigkeit zu einem anderen Körper aufgibt als den, den sie besitzen. Gleichzeitig beginnen Transsexuelle für Hermaphroditen zu sprechen, sich unter Umständen sogar selbst als intersexuell zu bezeichnen. Aber damit verleugnen sie die Tatsache, dass genau die Operationen, die ihnen den Geschlechtsübergang erleichtern sollen, unter Umständen an der Verstümmelung von Hermaphroditen entwickelt wurden. Und vergessen Lesben und Schwule, wenn sie die Konstruiertheit von Geschlecht hervorheben, nicht allzu leicht, dass diese Formulierung für Hermaphroditen einen bitteren Beigeschmack hat? Denn an ihnen wurde versucht, ein Geschlecht zu konstruieren, und das mit katastrophalem Ausgang.

Auch der (Ex-)Zwitter-Aktivist Vincent Guillot sagte an einer Diskussionsveranstaltung in Zürich vom 4.4.10 sinngemäss:

"Die Befreiung der Schwulen und Lesben wurde auf Kosten der Transsexuellen erkauft, und die Befreiung der Transsexuellen wird mit der Psychiatrisierung der Intersexuellen erkauft werden [bei DSM-V werden ja Zwitter klar verstärkt psychiatrisiert – die Psychiater bauen schon mal vor], und die Befreiung der Zwitter wird höchstwahrscheinlich auf Kosten einer weiteren Gruppe erfolgen [was Vincent durch ein "ganzheitliches Befreiungsmodell" verhindern will, ohne das jedoch konkretisieren zu können, ebensowenig, wie er damit die Zwangsoperationen und sonstigen medizinisch nicht notwendigen Zwangsbehandlungen an Zwittern innert nützlicher Frist abschaffen will]." (Vgl. dazu auch den Nachtrag im Kommentar hier.)

Jedoch ging schon die Entstehung der 1. Schwulenbewegung letztlich auf Kosten der Zwitter, bzw. trug bei zu den späteren menschenrechtswidrigen, medizynischen und psychiatrischen Zwangspraktiken, unter denen Zwitter heute noch leiden (vgl. z.B. Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld), was das Ganze noch einmal komplizierter macht.

Zumindest die aktuelle Medienberichterstattung über den "Fall" von Tiwonge "Aunty Tiwo" Chimbalanga und Steven Monjeza, die in Malawi wegen "Sodomie" zu 14 Monaten Zwangsarbeit verurteilt wurden, weil sie eine Heiratszeremonie durchgeführt hatten, kann jedoch durchaus im Bezugsrahmen der Vereinnahmungskaskade betrachtet werden, wie sie oben von Georg Klauda und Vincent Guillot umrissen wurde:

LGB(T)-Aktivistinnen weltweit hatten diesen "Fall" aufgegriffen und berichteten über das skandalöse Urteil gegen das "schwule Ehepaar". Dank grossem internationalem Druck (auch Madonna hatte eine Unterschriftensammlung veranstaltet, der US-Präsident Barack Obama sprach sich gegen das Urteil aus) wurden die beiden zum Glück schliesslich begnadigt. Soweit, so positiv, und dafür allen Beteiligten ein herzliches Danke.

Negativ ist hingegen, wie LGB(T)-Organisationen und -Medien die beiden unhinterfragt und unbeirrbar als "schwules Ehepaar" beschrieben und annektierten, selbst als schon lange klar war, dass dies wohl so nicht zutreffen kann, und nachdem die Organsisationen und Medien mehrfach auf diesen Lapsus aufmerksam gemacht wurden (worauf auch solidarische kritische Kommentare auf diesem Blog hinwiesen). Weil erstens versteht sich Aunty Tiwo offensichtlich als Frau und ebenso wie Steven NICHT als "schwuler Mann". Weiter gibt es verschiedene Berichte, wonach Aunty Tiwo wahrscheinlich Intersexuell ist (sie habe Monatsblutungen und ihr Penis schaue "nicht normal" aus – vgl. die erwähnten Kommentare sowie einen bei BadHairDays übersetzten Artikel aus der NY-Times). Trotz mehrfachen Hinweisen darauf zeigten sich praktisch alle LGB-Organsisationen und -Medien weitgehend unbeirrbar, und wo sie diese Hinweise überhaupt konkret zur Kenntnis nahmen, neigten sie in der Regel zu paternalistischen Verschlimmbesserungen und Zurechtweisungen, so scheints u.a. Queer.de, MERSI-Amnesty und Queeramnesty, Volker Beck/Grüne.

Zu Recht wurden diese (und andere) LGB-Organisationen und -Medien deshalb vor allem von Trans*-Aktivist_innen kritisiert, die sich solche Unterschlagungen/Vereinnahmungen durch LGB auch sonst gewohnt sind.

Leider machten die allermeisten dieser Kritiken entsprechend der Logik der Vereinnahmungskaskade (oder einfach schlicht aus Unwissenheit?) den gleichen Fehler "gegen unten", indem sie Aunty Tiwo kurzerhand im Namen von "T" als "Transgender" reklamierten, und die Hinweise auf Intersexualität zwar z.T. kurz erwähnten, schlussendlich dann aber schlicht beiseite liessen (und so nebenbei z.T. auch zu vergessen schienen, dass das "T" eigentlich und ursprünglich (zumindest auch) für Transsexuelle steht), vgl. z.B. pamshouseblend.com, huffingtonpost.com, guardian.co.uk, news.pinkpaper.com (vgl. dort auch kritische Kommentare).

(NB: Ob Aunty Tiwo nun wirklich intersexuell ist oder Transgender oder was sonst, weiss ich ehrlich gesagt auch nicht, weil ich schlicht keine verlässlichen Infos darüber habe, doch ich denke, dass sie und Steven NICHT "homosexuell" sind, dürfte anhand des wenigen Bekannten klar genug sein, dass die betreffenden LGB-Organisationen und Medien hätten zumindest seriös darauf eingehen müssen. Meine Kritk in diesem Post richtet sich ausschliesslich an die LGB(T)-Berichterstattung über diesen "Fall" bzw. dessen öffentliche Handhabung. Obwohl, worauf schon BadHairDays hinwies, die Vereinnahmung in diesem Fall ausnahmsweise für die direkt betroffenen etwas Gutes bewirkte, nämlich, dass Aunty Tiwo und Steven begnadigt wurden.)

Siehe auch:
- Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung
- Kritische Kommentare zum "Fall" auf diesem Blog

Comments

1. On Tuesday, June 15 2010, 02:17 by Fg68at

Das zentrale Thema war, dass sie für unnatürliche Akte angeklagt waren und verurteilt wurden. Das war die einzige gesicherte Information. Allerdings kam in den anfänglichen Berichten öfters etwas über eine mögliche Transidentität als bei den letzten. Von möglicher Intersexualität las ich hier zum ersten Mal. Weiß jetzt gar nicht wie Pre-OP-Trans im Iran behandelt werden.

2. On Tuesday, June 15 2010, 23:31 by seelenlos

hallo franz, danke für deinen kommentar!

wie oben erwähnt führte die internationale kampagne immerhin dazu, dass die verurteilung aufgehoben wurde.

natürlich kann mensch nicht immer alles wissen, doch eine google-suche nach Tiwonge+intersex http://www.google.de/search?q=Tiwon... ergibt aktuell immerhin 8'510 treffer, und leider reagierten wie im oben verlinkten kommentar angemerkt manche organisationen und medien anscheinend noch nicht einmal, als sie direkt darauf hingewiesen wurden.

was ich allerdings nicht verstehe: wie kommst du in diesem zusammenhang auf den iran?

3. On Friday, June 18 2010, 14:07 by Anne

Was den Iran anbelangt, siehe:
http://cheraq.wordpress.com/2008/09...
(Vor allem Seite 8 "Islamic treatments of hermaphroditism and intersexuality")

4. On Sunday, June 20 2010, 03:51 by seelenlos

hi anne, danke für den hinweis. ich kann leider die seite nicht aufrufen, bzw. sie ergibt aktuell nur eine 404-fehlermeldung auf persisch, was stand denn da?

5. On Sunday, June 20 2010, 13:14 by Anne

" Ayatolla Makarem Shirazi similarly states:
There are two forms of sex change, namely, superficial and real. The superficial refers to a case where there is no trace of the genitalia of the opposite sex (i.e. no genital ambiguity) and the surgery simply constructs something similar to the genitalia of the opposite sex. This surgery is not permitted. But there is a real form of sex change surgery by which the genitalia of the opposite sex (i.e. the true sex of the person) appears. This surgery is permitted and is not subject to any religious prohibition.
The elements of these statements are present in many islamic treatments of hermaphroditism and intersexuality. The IRI's islamic scholars generally maintain that performing sex(re)assignment surgeries with the purpose of making 'khunsa' individuals unequivocally male or female are permitted, if not obligatory. In this way, as Susanne Kessler writes, they maintain and perpetuade 'the belief that gender consists of two exclusive types in the face of incontrovertible physical evidence that is not mandated by biology. In other words, gender dichotomy does not follow 'naturally' from the biological dichotomy of the two sexes. The IRI's islamic scholars first construct the gender dichotomy that divides human beings into two exclusive categories - man or woman. They then insist, despite contrary evidence, that sex is binary, which itself perpetuates the notion that in order to be 'normal', gender must be also binary and match the genital sex. Should ambiguities emerge, they recommend their removal so that credible-looking vaginas or penises, and thus 'true' men or women can be brought about. In other words, the IRI's islamic scholars, with the help of new medical sciences, contructs dimorphism where there is continuity; they do not rely on biological facts for their belief in two genders; their belief in two genders leads them to 'discover' biological 'facts'."
In the Islamic Republic of Iran, important religious figures invoked this Classical Islamic literature on "true sex" in order to approve transsexuality and sex change medical interventions.

6. On Sunday, June 20 2010, 14:29 by seelenlos

anne, danke, habe so den ganzen text finden können, er ist in diesem PDF s. 81-101 http://www.ketabfarsi.org/..., das kapitel (auch) über zwitter begint auf s. 86, das von dir gepostete zitat ist s. 88/89.

dadurch wird auch das zitat des hier am schluss zitierten ägyptischen zwangsoperateurs zumindest insofern verständlicher, weshalb er so redet https://blog.zwischengeschlecht.info/....

obwohl ich's persönlich immer noch komisch finde, einerseits zu behaupten, es gäbe einen unfehlbaren gott, der dann bei zwitterkindern jeweils trotzdem fehler mache, wehalb ihm die medizyner dann nachträglich ins handwerk pfuschen müssten, und dies noch als religiöse pflicht verkaufen wollen, aber überheblichkeit und medizynersein gehen offensichtlich leider öfters hand in hand ...

7. On Sunday, June 20 2010, 15:03 by Anne

Tja ... gott, götter, schöpfung??
Etwa 1830 schrieb Arthur Schopenhauer : " Ununterbrochen spiegelt sich die Welt in der Erkenntnis der Wahrheit EINZELNER Individuen! "