Intersex: UN-Sonderberichterstatter über Folter verurteilt "genital-normalisierende Zwangsoperationen" und "Sterilisierung"

>>> Pressemitteilung zum Thema von Zwischengeschlecht.org (07.02.2013)

'Genitalverstümmelungen stoppen!' - Aktion von Zwischengeschlecht.org"Genitale Zwangsoperationen jetzt beenden!": Zwischengeschlecht.org vor der UNO, 25.1.09

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Zum heutigen 10. Welttag "Null Toleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung" nur gute Nachrichten (2): 

Schluss mit genitalen Zwangsoperationen!

Der UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, Juan Ernesto Méndez, veröffentlichte im Rahmen der 22. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates (UNHRC) einen >>> Report A/HRC/22/53 (PDF, englisch) zum Thema "missbräuchliche Praktiken im Gesundheitswesen"  – und fand darin betreffend Intersex-Genitalverstümmelungen deutliche Worte:

Kapitel "IV. Aufkommende Anerkennung verschiedener Formen von Missbrauch im Gesundheitswesen", Abschnitt "E. Marginalisierte Gruppen", Unterabschnitt 4. "Intersex-Menschen":

"Kinder, die mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen, werden oft irreversiblen Geschlechtszuweisungen, erzwungener Sterilisierung und erzwungenen genital-normierenden Operationen unterworfen, die ohne ihre informierte Zustimmung oder diejenige ihrer Eltern durchgeführt werden, "als Versuch ihr Geschlecht in Ordnung zu bringen", was sie mit dauerhafter, irreversibler Unfruchtbarkeit zurücklässt und schweres seelisches Leiden verursacht." (Abs. 77)

"Diese Maßnahmen [genital-normalisierende Operationen] sind selten medizinisch notwendig, können Narbenbildung, Verlust des sexuellen Empfindens, Schmerzen, Inkontinenz und lebenslange Depressionen verursachen und wurden zudem als unwissenschaftlich, gesundheitsgefährdend und zu Stigma beitragend kritisiert." (Abs. 76)

Kapitel "V. Schlussfolgerungen und Empfehlungen", Abschnitt "B. Empfehlungen", Unterabschnitt 3. "Intersex-Menschen":

"Der Sonderberichterstatter ruft alle Staaten auf, jegliche Gesetze abzuschaffen, die intrusive und irreversible Behandlungen erlauben, darunter genital-normalisierende Zwangsoperationen, erzwungene Sterilisierung, unethische Experimente [oder] medizinische Zurschaustellung [...], wenn diese zwangsweise oder ohne freie und informierte Zustimmung der betroffenen Menschen angeordnet werden. Er ruft sie weiter auf, Zwangssterilisationen oder Nötigung zu Sterilisierung unter allen Umständen gesetzlich zu verbieten und Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören, besonderen Schutz zukommen zu lassen." (Abs. 88)

Im Kapitel III. wird zudem allgemein dargelegt

• wie und warum im Kontext medizinischer Behandlungen von Misshandlung oder Folter auszugehen ist, wenn Erniedrigung oder Beschämung das effektive Resultat von Handlungen, Unterlassungen oder Nachlässigkeit ist, auch wenn es nicht die erklärte Absicht war (Abs. 17, 18, 20)

• dass sich die Schutzpflicht der Staaten zur Verhinderung von Folter explizit auch auf das Gesundheitswesen erstreckt und nicht nur direktes staatliches Handeln, sondern auch Unterlassung angemessenes Handelns zur Verhinderung von Verstößen durch Dritte betrifft (Abs. 23)

• dass die Staaten verpflichtet sind, jegliche Verstöße zu verhindern, und sie andernfalls zu untersuchen und zu bestrafen (Abs. 24)

• dass bei uneingewilligten medizinischen Zwangsbehandlungen Misshandlung oder Folter vorliegen kann, auch wenn MedizinerInnen geltend machen, diese in "guter Absicht" oder im "sogenannt besten Interesse der betroffenen Person" vorgenommen zu haben (Abs. 32)

• dass Gesundheitsanbieter verpflichtet sind, sich besonderer Bedürfnisse von Intersex-Menschen bewusst zu sein und sich diesen anzupassen (Abs. 38).
 

Input von Organisationen Betroffener

Der Bericht verweist betreffend "genital-normalisierende Zwangsoperationen, erzwungene Sterilisierung, unethische Experimente [und] medizinische Zurschaustellung" und deren Folgen auf eine angefragte Stellungnahme der US-Intersex-Lobbygruppe "Advocates for Informed Choice (AIC)", die ihrerseits in Absprache auf Beiträge von Zwischengeschlecht.org und UN-Schattenberichte von Intersexuelle Menschen e.V. zurückgriff, sowie auf die weltweit von Betroffenenorganisationen unterstützte Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE).
 

Überfälliger wichtiger Schritt

Zwischengeschlecht.org dankt dem UN-Sonderberichterstatter über Folter Juan Ernesto Méndez und allen weiteren Beteiligten ganz herzlich und begrüßt den Bericht ausdrücklich als weiteren Schritt zur Beendigung der ungebrochen andauernden medizinischen Verbrechen an Zwittern und zur Durchsetzung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit.

Dies umso mehr, als der UN-Menschenrechtsrat anlässlich des Universellen periodischen Überprüfungsverfahrens (UPR) der Schweiz am 29.10.2012 das Thema mutwillig außen vor ließ, obwohl es im Schattenbericht der NGO-Koalition angesprochen war und nebst Zwischengeschlecht.org u.a. auch Advocates for Informed Choice (AIC), Intersexuelle Menschen e.V und Genres Pluriels (Belgien) sich bei Mitgliedern des UNHRC wiederholt dafür einsetzten.

Organisierte Betroffene von medizinisch nicht notwendigen genitalen Zwangsoperationen im Kindesalter kritisieren solche Eingriffe seit mindestens 1996 wieder und wieder explizit als "medizinische Folter", vgl. diverse Texte von >>> Heike Spreitzer und Michel Reiter, Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG).
 

Der Teufel steckt im Detail

Bei allem Grund zur Freude enthält der Bericht in Bezug auf Intersex z.T. auch Dinge, die aufzeigen, dass leider immer noch falsche Vorstellungen kursieren, die zur Unsichtbarmachung der spezifischen Probleme der Betroffenen beitragen und ihren jahrzehntelangen Kampf um körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung erschweren, indem sie zu unzulässigen Verwechslungen mit Anliegen von Schwulen, Lesben und Transsexuellen führen.

So werden im Bericht die Folgen der "Genitalkorrekturen" inkl. der dazugehörigen Fussnote zur Zuarbeit von Advocates for Informed Choice (AIC) nicht unter Abs. 77 "Kinder mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen" aufgeführt, sondern in Abs. 76 unter "Homophobie" und "reparative Therapien". Der Sonderberichterstatter räumte dazu am 05.03.2013 im persönlichen Gespräch in Genf ein, er habe bezüglich kosmetischen Genitaloperationen an Intersex-Menschen keine Vorkenntnisse gehabt und den Bericht unter grossem Zeitdruck abliefern müssen.

Zwischengeschlecht.org und AIC überreichten dem Sonderberichterstatter ein gemeinsames Statement, das unter 1. festhielt:

"Obwohl Kinder, die mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen (a.k.a. Intersexe / Hermaphroditen / Störungen der Geschlechtsentwicklung DSD), mit verschiedenen Probemen konfrontiert sein können, sind das Hauptproblem die medizinisch nicht notwendigen, irreversiblen kosmetischen Genitaloperationen an ihren Genitalien und Fortpflanzungsorganen. Obwohl diese chirurgischen Eingriffe den Betroffenen seit mehr als 60 Jahren systematisch aufgezwungen werden, erfolgen sie immer noch experimentell, d.h. es gibt keine Evidenz für Vorteile für die Betroffenen.
Dies ist ein eigenes und einzigartigs Problemfeld, das massive Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, die sich unterscheiden von den Problem, mit denen die LGBT-Community konfrontiert ist.
Um dieses eigene und einzigartige Problemfeld angemessen angehen zu können und um mögliche Verwechslungen zu vermeiden, sollte es künftig angemessen in einem eigenständigen Abschnitt behandelt werden (wie z.B. im kommenden WHO-Stellungnahme zu Sterislisierung)."
 

Die zusätzlich überreichte Broschüre "Intersex Genital Mutilations: History & Current Practice"   >>> Mehr Info + Download hier dokumentiert medizinisch nicht notwendige, irreversible kosmetische Genitaloperationen an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen anhand von konkreten Beispielen aus namhaften medizinischen Fachpublikationen 1763-2012, die Mal für Mal eindrücklich die außerordentliche Grausamkeit der an betroffenen Kindern begangenen, medizynischen Verbrechen belegen. Weshalb – wie auch der UN-Sonderberichterstatter über Folter im März 2013 erneut bekräftigte – fraglos zumindest grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung gegeben ist, wenn nicht sogar Folter.

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