Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen: Yogyakarta untaugliches Instrument

PRESSEMITTEILUNG für Intersexuelle Menschen e.V. vom 23.06.2008

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Stellungnahme von Intersexuelle Menschen e.V. zur aktuellen Bundestagsdebatte

Der Verein Intersexuelle Menschen e.V. freut sich über den Antrag 16/9603 der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 19.6.2008 unter dem Titel "Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen weltweit sicherstellen – Yogyakarta-Prinzipien unterstützen".

Besonders möchten wir uns dafür bedanken, dass die Grünen explizit auf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen an intersexuellen Menschen (Hermaphroditen, Zwitter) hinweisen und Klartext reden über die "medizinisch nicht notwendigen Eingriffen an gesunden Körpern" und die "dadurch auftretenden Traumata".

Andererseits ist die Art und Weise, wie Intersexuelle in die Forderungen eingebracht werden, aus der Sicht von uns betroffenen Menschen sehr problematisch und erfüllt uns mit tiefer Sorge: Einmal mehr werden wir fälschlicherweise als eine weitere Form einer speziellen "sexuellen Identität" bzw. "Geschlechtsidentität" oder "sexueller Orientierung" betrachtet und unter diesem Vorzeichen bei den "Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern" (LGBT) kommentarlos hinten angefügt.

Dies, obwohl die gesellschaftliche Situation intersexueller Menschen und die daraus resultierenden Probleme der Zwangseingriffe im Kindesalter ohne medizinische Indikation (genitale Zwangsoperationen, präventive Kastrationen, hormonelle Zwangsbehandlungen, Schweigegebote usw.) grundlegend verschieden sind von der Situation und den Problemen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern.

Bei den Verbrechen gegen die Menschenwürde, wie sie an Intersexuellen aufgrund ihrer körperlichen Besonderheit regelmässig begangen werden, handelt es sich um eigentlich strafrechtlich relevante Tatbestände, die von den Behörden jedoch seit Jahrzehnten und heute noch stillschweigend geduldet werden.

Intersexuelle sind Opfer medizinischer Gewalt aufgrund ihrer uneindeutigen Geschlechtsmerkmale.

Sie sind nicht Opfer von "Vorurteilen oder diskriminierenden Haltungen oder Verhaltensweisen" aufgrund der "sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität", wie sie in den Yogyakarta-Prinzipien für LGBT konstatiert werden.

Auch in den Yogyakarta-Prinzipien, auf die sich die Grünen berufen, werden Intersexuelle faktisch einmal mehr marginalisiert bzw. sind lediglich 'mit gemeint':

Das zentrale Anliegen intersexueller Menschen, die Beendigung der menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen aufgrund uneindeutiger Geschlechtsmerkmale, wird in den Yogyakarta-Prinzipien kein einziges Mal explizit erwähnt.

Im Yogyakarta-Prinzip 18 "Das Recht auf Schutz vor medizinischer Misshandlung" werden Intersexuelle ebenfalls nicht erwähnt, sondern es geht einmal mehr lediglich um "sexuelle Orientierung" und "geschlechtliche Identität". Die aufgrund ihrer körperlichen Besonderheit an Zwittern begangenen menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen werden in den gesamten Yogyakarta-Prinzipien kein einziges Mal benannt, sondern lediglich im Prinzip 18 zwei Mal stillschweigend 'mit gemeint': unter "medizinischen Praktiken [...] aufgrund von kulturell oder anderweitig begründeten Klischees" bzw. "medizinische Verfahren bei dem Versuch, [...] eine bestimmte geschlechtliche Identität aufzuzwingen".

Der Begriff "intersexuell" kommt in den gesamten Yogyakarta-Prinzipien lediglich in der Präambel ein einziges Mal vor – bezeichnenderweise kommentarlos als Schlusslicht hinter lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell und transgender.

Auch im 18 Punkte-Programm des Antrages 16/9603 der Grünen "Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen weltweit sicherstellen – Yogyakarta-Prinzipien unterstützen" werden die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen an Zwittern kein einziges Mal benannt, noch wird ihre Abschaffung explizit gefordert.

Bei aller eingangs erwähnten (Vor-)Freude: Wir betroffene Menschen sind masslos enttäuscht.

Intersexuelle Menschen e.V. hält fest, dass die Yogyakarta-Prinzipien intersexuelle Menschen und ihre spezifischen Probleme faktisch einmal mehr ausblenden und aus diesem Grund ein untaugliches Mittel sind zur Beendigung der an intersexuellen Menschen auch in Deutschland täglich begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie können sogar unseren berechtigten Anliegen mehr Schaden als Nutzen zufügen, indem sie vorspiegeln, es werde etwas unternommen, während letztlich das Gegenteil der Fall ist.

Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, "Verteidiger der Menschenrechte [...] von Intersexuellen [...] zu unterstützen" und "NROs im Rahmen der Programme zur Demokratieförderung mit einzubeziehen". Bezeichnenderweise wurden von den Grünen jedoch weder Intersexuelle Menschen e.V. noch eine der Selbsthilfegruppen betroffener Menschen je um eine Stellungnahme angefragt.

Intersexuelle Menschen e.V. würde sich sehr freuen, wenn die Grünen oder andere politische Parteien bei einem evtl. künftigen Antrag zur Sicherstellung der Menschenrechte auch von Intersexuellen für substanzielle Nachbesserung sorgen – und dabei auch die Organisationen von Intersexuellen mit einbeziehen würden.


Mit freundliche Grüssen

Daniela Truffer
1. Vorsitzende Intersexuelle Menschen e.V.

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Published on Monday, June 23 2008 by nella