Offener Brief von Lucie Veith an das Netzwerk Intersexualität

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Thyen,

Ein offener Brief an den Vorstand des Netzwerkes- IS, den Vorstand und die Netzwerkmitglieder, die Selbsthilfegruppen und Vereine und Interessierte.

Seit mehr als 3 Jahre bin ich Mitglied des Netzwerkes –IS, ein förderndes Mitglied. Als intergeschlechtlicher Mensch habe ich mich dem Netzwerk angeschlossen, weil ich in den Zielen des Vereines die Interessen der intergeschlechtlichen Menschen zu finden glaubte, die mir und meine intergeschlechtlichen Freunde das Leben erleichtern und verbessern könnten.

Das Netzwerk-IS – Jahresversammlung fand im Endokrinologikum Ruhr in Bochum statt. Die Tagungspräsidentin hatte alles Organisatorische zur besten Zufriedenheit geregelt.

Die Versammlung begann um 10.00 Uhr und die Teilnehmer wurden von der Tagungspräsidentin und den Netzwerksprechern begrüßt. Nach Feststellung der Formalien, Genehmigung des Protokolls und der Tagesordnung wurde der 2. Vorsitzende in seinem Amt bestätigt. Der neue Tagungspräsident 2008 wurde gewählt. Das nächste Treffen wird in Kiel stattfinden.

Im Rechenschaftsbericht wurden die Fördergelder und die Verwendung erläutert. Weitere Fördergelder werden bei der EU eingeworben. Auch hier geht es einzig und allein um Molekularforschung.

Der Mensch, die Beratung, Behandlung, Versorgung und Selbstversorgung kommen nicht vor. Der Bericht, welche Projekte gefördert wurden, u.a. ein Tandemmassenspektrometer, das in sehr kurzer Zeit Analysen erstellt, die vorher viel Zeit und Geld verschlungen hätten, verwunderte mich sehr. Kein Geld für Versorgung, kein Geld für weitere Beratung, statt dessen ein ernsthafter Aufruf für eine € 5.000-Spende um die Technik zur Übersetzung der kanadischen Seite „Sick-Kids“ zu finanzieren. Das rief sogar Entrüstung und Befremden bei Vollmitgliedern hervor, die nicht unbedingt der „aufklärenden Ärzteschaft“ angehören. Das sich eine Geschäftsführerin mit solch blamablem Auftritt selbst diskreditiert, ist für mich unfassbar.

Als Gast wurde dann Frau Mirjam Mann vom der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) begrüßt. Frau Mann stellte ihre Organisation vor und informierte über die Aktivitäten und berichtete über das Glück, Frau Köhler, die Ehefrau des Bundespräsidenten als Pate gewonnen zu haben.

Als Mitglied des Vereins „Intersexuelle Menschen e.V.“ war mir bekannt, dass ein Antrag auf Aufnahme bei der Achse vorliegt (Die Antragstellung hatte lange Diskussionen bei den Betroffenen ausgelöst weg. des Begriffes „Erkrankungen“. Schweren Herzens und mit der Hoffnung auf eine Verbesserung der Versorgung und die Hoffnung auf eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz wurde dann diese Kröte geschluckt.)

Und so stellte ich in der Versammlung nach kurzer Vorstellung die Frage, ob sie, Frau Mann, vielleicht eine gute Nachricht für den Verein IS e.V. im Gepäck hätte und wir nun Mitglieder der Achse geworden sind. Leider kannte sie weder den Antrag des Vereins „Intersexuelle Menschen e.V.“ noch die SHG XY-Frauen. Es seinen zu viele Anträge die dort eingehen und da wären noch andere Bearbeiter, die sie offenbar nicht informiert hatten.

Was mir bitter aufstieß, war die Tatsache, dass das Netzwerk – IS, speziell die Geschäftsführung es nicht für nötig hielt, die eingeladenen Vertreter einer Patientenorganisation über die ihr angeschlossenen Vereine und Selbsthilfeorganisationen der Fachgesellschaften zu informieren. Auch kam weder vom Vorstand, noch aus der Versammlung Unterstützung, um die Aufnahme zu fördern oder zu begünstigen.

Das Projekt „Klinische Evaluationsstudie“ geht in die Auswertung. Bis zum 1.12.07 müssen die Interviews zur Klinische Evaluationsstudie( Medizinische und chirurgische Behandlungsergebnisse, psychosexuelle Entwicklung und gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Störungen der Geschlechtsentwicklung) abgewickelt sein. Danach wird ausgewertet. Die Ergebnisse werden online veröffentlicht. Wissenschaftler und Doktoranten können sich bewerben, Auswertungen vorzunehmen. Sie werden Zugang zu den Daten bekommen. Uns, den Patientenselbsthilfegruppen und unseren wissenschaftlichen Arbeitsgruppen wird der Zugang verwährt! Es besteht kein Mitspracherecht für die Betroffenen.

Mit Verlaub, das verstehe wer will, ich nicht: Jeder Wissenschaftler kann ein Projekt anmelden und erhält Zugriff zu unseren Daten!? Bislang haben wir nur einem Datentransfer/-abgleich mit dem der Studie des Instituts für Sexualforschung in Hamburg zugestimmt.

Als Teilnehmer der Studien protestiere ich gegen eine offene Verwendung und die ungenehmigte Weitergabe und untersage Ihnen ausdrücklich, die Daten an Personen oder Institutionen weiter zu geben, die sich außerhalb ihres Institutes befinden. Wie bitte, wollen sie die Datensicherung und den Datenschutz sicherstellen? Wo bleiben die Daten? Wie lange bleiben sie bestehen? Wohin wandern die Daten nach Ablauf der Studie? Wer prüft das?

Sind Sie nicht an Zusagen an die Befragten gebunden?

Warum werden die intergeschlechtlichen Menschen und ihre Familien wieder mal als wissenschaftliche Laborratten ohne Rechte behandelt?

Wie ist dies Vorgehen mit dem Ziel des Vereines:

Pkt. 2 Zweck des Netzwerk-IS ist es, das Verständnis für die Ursachen und Verläufe somatosexueller Differenzierungsstörungen zu vertiefen, die Diagnose zu optimieren, Therapien zu deren effektiver Behandlung zu entwickeln und einen Beitrag für einen respektvollen gesellschaftlichen Umgang mit den Betroffenen zu leisten.

Pkt. 3 Das Netzwerk-IS ist selbstlos; es verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke...

Überschreiten Sie nicht auch hier jede moralisch vertretbare Grenze?

Nach zwei sehr interessanten Fachvorträgen zur Klinischen Auswirkung und molekularen Grundlagenforschung und den Problemen bei der Beurteilung übernahm Frances Kreuzer den Part im Zeitfenster für die Selbsthilfegruppen. Herbei wurden lediglich Auszüge aus einem neuen Buch eines Patientenanwaltes zitiert. Eine ruhige, nicht anklagende Präsentation bundesrepublikanischen Rechtes. Dieser Vortrag führte zu tumultähnlichen Szenen des sowieso halbleeren Saals. Ein bekannter Mediziner und ordentliches Mitglied des Vereins, der nach eigenem Bekunden mehr als 25 Jahre intergeschlechtliche Genitale operiert hat, geriet außer Fassung und verließ pöbelnder weise mit Gefolge den Saal, ein sonst ruhiger Psychologe und ordentliches Mitglied des Netzwerk-IS, der für Projekte des Netzwerk-IS arbeitet fährt mit Getöse Betroffenen ins Wort und will ihnen das Wort abschneiden. Es kommt zu Wortgefechten, die nicht unterbunden werden. So der Kommentar: Ob den Betroffenen nicht klar ist, dass solche Vorträge diejenigen, die helfen wollen, demotivieren. Auch ich bin aus der Haut gefahren, jedoch aus ganz anderem Grund:

Was kann gestandene Wissenschaftler und Ärzte, die mit dem Grundgesetz, dem Bestimmungsrecht und dem Arzneimittelgesetz konfrontiert werden so außer der Fassung bringen, dass sie flüchten?

Ist das Recht nicht Grundlage der Arbeit?

Gelten die Gesetze nicht für intergeschlechtliche Menschen?

Ist nicht das Netzwerk-IS die Gelegenheit, sich ein richtiges Bild zu machen?

Will man am Ende gar keine Änderung der gängigen Praxis?

Ist die Beteiligung der Betroffenen nicht gewollter Bestandteil der vom Forschungsministerium geforderten Auflagen?

Ist es nicht legitim, dass intergeschlechtliche Menschen für ihre Rechte und deren Durchsetzung einstehen?

Ist die Tatsache, dass ein intergeschlechtlicher Mensch um seine Würde und seine Daseinsberechtigung kämpft so unakzeptabel für einen Arzt oder Wissenschaftler?

Welche Ängste löst die Anwesenheit von intergeschlechtlichen Menschen aus?

Warum unterstützen Mediziner, die helfen wollen, den intergeschlechtlichen Menschen nicht bei der Durchsetzung seiner Überlebensforderungen.

Behindert die Angst vor möglichen Konsequenzen einen Neuanfang?

Die Zeit wird knapp, die Forschungsgelder wie die Projekte laufen aus. Ich bitte Sie inständig nachzudenken und die Änderungen, die notwendig sind einzuleiten.

Ich spreche niemanden den guten Willen ab, helfen zu wollen. Doch wenn am Ende der Behandlung ein gebrochener Mensch steht, ist über das Verfahren nachzudenken.

Vergessen Sie bitte, was sie während Ihrer Ausbildung über Zwitter gelesen haben. Wir sind keine Sonderlinge, die man verstecken muss, sondern Menschen mit einer sehr verletzlichen Seele.

Ich bitte Sie alle, nein ich fordere Sie auf, den Wandel jetzt einzuleiten. Sollte uns gemeinsam der Wandel nicht gelingen wird es am Ende heißen: Das Projekt ist beendet, das Geld verbraten, ein paar Wissenschaftler haben ein neues Spielzeug, ein Beschäftigungsprogramm für Psychologen geht zu Ende, die Betroffenen haben das Nachsehen.

Bei mir hat das Verhalten der Netzwerkteilnehmer großes Unverständnis ausgelöst. Ich frage mich, wer hier der Patient ist.

Wir bedürfen der Solidarität eines jeden Einzelnen.

Ich bitte sie weiter, das Forum auf der Internetseite zu löschen. Die Tatsache, dass intergeschlechtlichen Menschen keine Antworten gegeben wird und offenbar kein Moderator in der Lage ist, das „Krisenmanagement“ zu bewältigen, ist beschämend und eines Netzwerk-IS unwürdig.

Ich werde diesen offenen Brief über cc an andere Interessierte wie Selbsthilfegruppenmitglieder und Unterstützer weitergeben und bitte auch um Zustimmung, dass ich Ihre Vereinsantwort an diesen Kreis weiterleiten darf.

Mit freundlichen Grüssen
Lucie Veith
Intergeschlechtlicher Mensch
Förderndes Mitglied im Netzwerk-IS

Siehe auch:
- Netzwerk Intersexualität und wir Intersexuellen - Mitsprache geht anders
- Offener Brief von Claudia Kreuzer an das Netzwerk Intersexualität