"Menschenrechte auch für Zwitter!" - vorwärts 20.2.09
By seelenlos on Sunday, March 22 2009, 20:11 - Die Medien - Permalink
Die Zwitter Medien Offensive™ geht weiter!
Nach den Protesten vor der UNO in Genf wurden wir vom "Vorwärts", der Zeitung der schweizer "Partei der Arbei (PdA)", um einen Hintergrundartikel angefragt. Eine Bitte, der wir gern entsprachen.
Da das Rad nicht jedesmal neu erfunden werden muss, hielten wir uns hauptsächlich an den Grundsatztext auf der Solipage dieses Blogs, seinerseits grösstenteils eine Kompilation von Flugblättern, Pressemitteilungen usw., die schon öfters auszugsweise auch in anderen Texten, politischen Vorstössen usw. Verwendung fand. Am 20. Februar wurde der Artikel dann, leicht bearbeitet und ergänzt um die Blogmeldung zur schriftlichen CEDAW-Rüge, als ganzseitiger Beitrag veröffentlicht. Danke!!
Zum Betrachten hier oder in das Foto klicken (jpg 480kb) und je nach Browser zusätzlich reinklicken zum aufklappen.
Nachfolgend die unbearbeitete Version des Artikels als Text:
Menschenrechte auch für Zwitter!
Etwa jedes 2000. Neugeborene kommt mit "uneindeutigen" Genitalien auf die Welt. In der Schweiz leben somit schätzungsweise 3'500 sogenannte Zwischengeschlechtliche, Zwitter, Hermaphroditen oder "Intersexuelle". Die neue medizinische Bezeichnung DSD (Disorders of Sex Development = Störungen der Geschlechtsentwicklung) wird von den meisten Zwischengeschlechtlichen vehement abgelehnt, da sie sich dagegen wehren, als "gestört" bezeichnet und "behandelt" zu werden.
Zwitter sind nicht per se krank oder behandlungsbedürftig. Trotzdem werden zwischengeschlechtlich geborene Kinder bis heute in der Regel vor dem 2. Lebensjahr ohne ihre Einwilligung zwangskastriert, an ihren "uneindeutigen" Genitalien zwangsoperiert und Zwangshormontherapien unterzogen, um ihr "uneindeutiges" Geschlecht zu "vereinheitlichen". Danach werden sie systematisch angelogen, um ihnen ihr wahres Geschlecht zu verheimlichen.
Obwohl es sich um sehr massive Menschenrechtsverletzungen handelt, schauen PolitikerInnen und Menschenrechtsorganisationen weg und die Mediziner operieren unkontrolliert weiter. Unter den Opfern formiert sich zunehmend Widerstand.
Medizinische Verbrechen an Zwittern
Offizielle Statistiken gibt es ebenso wenig wie Nachuntersuchungen, obwohl die systematischen Zwangsoperationen seit den 1950er Jahren als medizinischer "Standard" gelten.
Nach dem Motto „It‘s easier to make a hole than to build a pole“ (es ist einfacher, ein Loch zu graben, als einen Mast zu bauen) werden die meisten Zwitter ‚zu Mädchen gemacht‘. Dabei wird eine zu grosse Klitoris resp. ein zu kleiner Penis operativ verkleinert oder gar amputiert. Die Mediziner nehmen dabei in Kauf, dass das sexuelle Empfinden vermindert oder gänzlich zerstört wird.
Zudem werden die Betroffenen unter Vorspiegelung eines angeblich pauschalen „Krebsrisikos von 30%“ flächendeckend „prophylaktisch“ kastriert, d.h. es werden ihnen die gesunden, Hormone produzierenden inneren Geschlechtsorgane entfernt, was eine lebenslange Substitution mit körperfremden Hormonen zur Folge hat, die zu gravierenden gesundheitlichen Problemen führen kann. Bis heute werden zwangskastrierte Zwitter regelmässig gezwungen, adäquate Ersatzhormone aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Obwohl betroffene Menschen diese unmenschliche Praxis seit mehr als einem Jahrzehnt anprangern und deren verheerende Folgen auch durch wissenschaftliche Studien mehrfach belegt sind, halten Mediziner und PolitikerInnen weiterhin an den menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen fest (auch wenn sie es mittlerweile öffentlich abstreiten).
Die Tabuisierung und Unsichtbarmachung der zwangsoperierten Zwitter in der Öffentlichkeit trägt ebenfalls ihren Teil dazu bei. Umso wichtiger, dass Zwitter endlich sichtbar – und auch angehört werden!
Das Schweigen der MittäterInnen
In Anbetracht der Schwere der an den Zwittern begangenen Menschenrechtsverletzungen, ihrer langen Dauer und der damit verbundenen hohen Anzahl der Opfer handelt es sich bei den Zwangsoperationen an Zwischengeschlechtlichen wahrscheinlich um die gravierendste Menschenrechtsverletzung in den "westlichen Demokratien" seit dem 2. Weltkrieg.
Trotzdem schauen die Regierungen und Menschenrechtsorganisationen weg und negieren diese systematischen Menschenrechtsverletzungen an Zwittern – sofern sie überhaupt mit unbequemen Fragen behelligt werden. In der Schweiz gab es bisher weder parlamentarische Anfragen noch sonst irgendwelche politischen Vorstösse dazu. Angefragte PolitikerInnen signalisieren Desinteresse.
Auch in Deutschland ist die Situation vergleichbar. Trotzdem gab es dank hartnäckiger Lobbyarbeit von Selbsthilfegruppen in den letzten zwölf Jahren verschiedentlich kleine Anfragen im Bundestag, gefolgt von parteiübergreifend stereotypen Nicht-Antworten. Auch auf die jüngste Anfrage des UN-Ausschusses CEDAW aus Genf hiess einmal mehr lediglich: "Wir haben keine relevanten Erkenntnisse dazu."
Stattdessen propagiert die Bundesregierung Zwangseingriffe an Zwittern regelmässig aktiv mit tatsachenwidrigen Behauptungen. Zum Beispiel, es sei ihr "nicht bekannt", „dass eine Vielzahl von Intersexuellen im Erwachsenenalter die an ihnen vorgenommenen Eingriffe kritisiert". Die Zwangsoperationen seien ausnahmslos "medizinisch indiziert", sie dienten deshalb dem "Kindeswohl" und würden gar von den Betroffenen ausdrücklich befürwortet – allerdings vermochte die Bundesregierung dafür keine Belege anzuführen.
Für viele ohne ihre Einwilligung zwangsoperierte Zwitter kommen solche tatsachenwidrigen Behauptungen und das kategorische Ignorieren ihrer Leiden einer Mittäterschaft gleich. Auch die Parteien und ihre Abgeordneten, die Antidiskriminierungsstelle, Deutscher Ethikrat, Amnesty International, Terre des Femmes, die UNO, usw. – alle schweigen sie bisher zu den menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen an Zwittern und sehen keinen Handlungsbedarf.
Medizinische Studien belegen die massiven Menschenrechtsverletzungen an Zwittern
Aktuelle, umfangreiche Forschungsergebnisse des deutschen "Netzwerk Intersexualität/DSD", ironischerweise finanziert mit Bundesgeldern, die "Hamburger Studie" 2007 und die "Lübecker Studie" 2008 (mit 439 Proband_innen, zum Teil auch aus der Schweiz, die weltweit bisher grösste), beweisen einmal mehr:
- Die meisten Opfer der menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ihr Leben lang leiden.
- Nicht zwangsoperierte Zwitter haben im Vergleich eine deutlich höhere Lebensqualität.
- Trotzdem werden nach wie vor über 80% aller Zwitter meist mehrfach zwangsoperiert.
In der Schweiz gibt es bisher keine vergleichbaren Studien. Es ist jedoch von ähnlich katastrophalen Resultaten auszugehen.
Das Problem der Instrumentalisierung durch LGBTQ
Zwischengeschlechtlich geborene Menschen müssen sich nicht nur mit der Problematik auseinandersetzen, dass ein Zweigeschlechtssystem ihre geschlechtlich "uneindeutigen" Körper nicht gelten lässt und mittels Skalpell der Norm anpasst. Sie werden zusätzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass homosexuelle und transsexuelle Bewegungen sowie feministische Frauenbewegungen ihre geschlechtlich "uneindeutigen" Körper wiederholt als Mittel zum Zweck für eigene Interessen verwenden. Androgynismus wird als Ideal verherrlicht, die Anliegen der realen, zwangsoperierten Zwischengeschlechtlichen hingegen geflissentlich ignoriert.In der öffentlichen Wahrnehmung sind zwischengeschlechtlich geborene Menschen längst im (Trans-)Gender-Diskurs untergegangen. Regelmässig stellen Gruppen öffentlich Forderungen im Namen der Zwitter auf, stellen aber dabei ihre eigenen Anliegen ins Zentrum und die berechtigten Forderungen der Zwangsoperierten hinten an (oder lassen sie gleich ganz aus).
Die Instrumentalisierung und Vereinnahmung von „Intersexualität“ durch andere (Rand-)Gruppen reicht von den Anfängen der Homosexuellenbewegung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu Gender Studies und Queer Theory. Während z.B. Genitalbeschneidungen von Mädchen und Frauen in Afrika geächtet und bekämpft werden, sind in der Regel die genitalen Zwangsoperationen an Zwischengeschlechtlichen vor der eigenen Tür nach wie vor kein Thema.
Dabei hat sich die Situation der zwischengeschlechtlichen Menschen in den letzten 100 Jahren massiv verschlechtert: konnten sie zum Beispiel in Deutschland im 19. Jahrhundert mit 18 noch selbst bestimmen, welchem Geschlecht sie angehören wollten, werden sie heute als Kleinkinder möglichst rasch kastriert, zwangsoperiert und zwangszugewiesen.
Zwitter proben den Aufstand
Im deutschsprachigen Raum formierte sich in den letzten zwei Jahren eine neue Zwitterbewegung, die nun erste politische Erfolge erntet. In Köln zeigte Christiane Völling als erste Zwischengeschlechtliche ihren ehemaligen Operateur an, der ihr ohne Einwilligung die inneren Geschlechtsorgane entfernt hatte, und gewann in einem aufsehenerregenden Prozess auch in zweiter Instanz definitiv.
Aktivist_innen nahmen diesen Prozess zum Anlass für eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, dank der 2008 viele Menschen zum ersten Mal von den Menschenrechtsverletzungen an Zwittern erfuhren. Der Dachverband der deutschsprachigen Selbsthilfegruppen, Intersexuelle Menschen e.V., gelangte zum ersten Mal mit einem eigenen Schattenbericht an das UN-Komitee CEDAW, das im Februar 2009 erstmals festhielt, auch Zwitter hätten Anspruch auf Menschenrechte und informierte Zustimmung. Gleichzeitig gab es auf kommunaler Ebene zunehmend politische Vorstösse. Auch in der Schweiz kam es im Juli 2008 zu einer öffentlichkeitswirksamen Protestaktion vor dem Kinderspital Zürich, gefolgt von einer Vielzahl von Medienberichten.
Die wichtigsten Forderungen der Zwitterbewegung lauten:
Die sofortige Beendigung der Zwangseingriffe, gerichtliche Bestrafung der Zwangsoperateure inkl. Aufhebung/Verlängerung der Verjährungsfristen!
Umgehende Schaffung verbindlicher "Standards of care", inkl. psychologischer Beratung und Peer Support, unter Einbezug der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen!
Intersexualität als nicht-pathologische biologische Besonderheit muss auf allen Ebenen in allen biologischen und sozialen Fächern unverzüglich in den Lehrplan aufgenommen werden!
Zwangsoperierte Zwitter sind unverzüglich und umfassend zu entschädigen!
Rechtliche Anerkennung der Zwitter inkl. optionalem 3. Geschlechtseintrag für Zwitter!
Von 2009 erhoffen sich die Aktivist_innen, dass sich erstmals auch politisch aktive Nichtbetroffene in ihrem Kampf gegen genitale Zwangsoperationen und für Selbstbestimmung solidarisieren werden.
Nella & Seelenlos
Regelmässige Updates auf http://zwischengeschlecht.info
Comments
Ich bin dagegen, dass zweigeschlechtliche Menschen umoperiert werden, weil ich es nicht gerechtfertigt finde, dass man die Seelen der Betroffen durch eine Zwangs-Op mit zerstört auch wenn sich die Operierenden nicht darüber im klaren sind, was sie mit so einer OP anrichten. Ich würde mich liebend gerne für Zweigeschlechtliche Menschen stark machen.
lieber christian knott, vielen dank für deine solidarischen worte!
möglichkeiten, dich für die menschenrechte der zwischengeschlechtlichen stark zu machen ("zweigeschlechtlich" finden viele nicht so gut, da es falsche assouiationen weckt à la "mann und frau zugleich", während "weder mann noch frau" mehr sinn macht), gibt es viele. einige anregungen findest du hier zuunterst: https://blog.zwischengeschlecht.info...
wir bemühen uns auch, auf weitere möglichkeiten und protestaktionen jeweils so früh wie möglich auf diesem blog aufmerksam zu machen.
herzliche grüsse seelenlos
Hallo allerseits. Ich bin auf die schreckliche Wahrheit dieser Situation gestossen, als ich Informationen zu meiner eigenen Situation suchte ( M2F TG, jetzt post-op ). Diese Praxis gehoert verboten und unter Strafe gestellt. Betroffene Menschen muessen SELBST entscheiden koennen! Wer sagt denn, dass alle Betroffenen Menschen ueberhaupt eine Umwandlung WOLLEN? England bietet wohl als einziges Land das GRC ohne dass eine Zwangs-was-auch-immer noetig waere! Zwar sind auch dort nur M und F angesagt, aber das Alphabet hat doch noch so viele Buchstaben! Man gebe jedem SEINEN Wunsch-Buchstaben und ueberlasse doch jedem Menschen selbst ob er das Skalpell will oder nicht! Und was wenn er nicht KANN aus welchen berechtigten Ursachen aus immer? Auf jedenfall wuensche ich Erfolg im Kampf um das Recht "selbst" zu sein. Sara aus Luxemburg.