"Intersexualität: Das verwaltete Geschlecht" - Berner Zeitung, 17.8.09

"Wurde am Inselspital zum Mädchen gemacht: Daniela Truffer, 44, protestierten gestern vor dem Insel-Eingang gegen Zwangsoperationen." (Bild: Nadia Schweizer / Berner Zeitung)

Die Zwitter Medien Offensive™ ging weiter!

Den ganzseitigen Artikel in der BZ von Andrea Sommer anlässlich der Aktion am Inselspital Bern schätzen mehrere Beteiligte als den insgesamt gelungensten ein. Nachdem wir bereits das Aufsehen erregende Interview mit Chtistine Aebi, Chefärztin der Kinderklinik in Biel unter dem Titel «Betroffene sollen wählen» dokumentierten, folgen nun die übrigen Texte.

Auf der Titelseite hatte es einen Anriss:

Inselspital: Intersexuelle protestieren

Jedes 2000.Kind kommt intersexuell zur Welt: Es hat weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale. Gestern haben vor dem Inselspital Betroffene dagegen protestiert, dass solche Kinder per Operation zu Mädchen oder zu Jungen gemacht werden. Daniela Trauffer, die Organisatorin des Protests, wurde einst in der Insel zum Mädchen operiert - sie leidet noch heute an den Folgen. azu

Auf Seite 19. der Hauptartikel (plus 2 Kästen und das erwähnte Interview):

Intersexualität: Das verwaltete Geschlecht

Gratuliere, es ist sein Zwitter!Gestern demonstrierte die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org vor dem Inselspital gegen Zwangsoperationen an Intersexuellen. Auch die Organisatorin Daniela Truffer wurde einst in der Insel zum Mädchen gemacht.

Bub oder Mädchen? In seltenen Fällen haben weder Eltern noch Ärzte darauf eine Antwort, weil das Neugeborene weder eindeutig männlich noch weiblich ist. Was die Medizin "Disorders of Sex Development" nennt, heisst politisch korrekt Intersexualität. Umgangssprachlich spricht man von Zwittern oder Hermaphroditen.

Weil Eindeutigkeit her müsse, richte sich die Medizin auch heute noch nach den Grundsätzen des US-Sexualforschers John Money, sagt die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org. Money stellte in den 50er-Jahren den Grundsatz auf, Ärzte und Eltern sollten einem intersexuellen Kind ein Erziehungsgeschlecht zuweisen und operativ Tatsachen schaffen. Dies, möglichst ohne dem Kind davon zu erzählen. "Unter den psychischen und physischen Folgen leiden die Betroffenen lebenslang", sagt Daniela Truffer, Gründungsmitglied der Menschenrechtsgruppe.

Als Säugling kastriert

Gegen solche "Zwangsoperationen" protestierte die Menschenrechtsgruppe gestern nachmittag vor dem Inselspital. Und dafür, dass die Politik das dritte Geschlecht in amtlichen Dokumenten anerkennt. Auch Daniela Truffer ist betroffen. Sie kam 1965 zur Welt - mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Geschlecht. Nach der Geburt wurde sie drei Monate lang im Inselspital untersucht. Erst Jahrzehnte später, nach langen Kämpfen um die Herausgabe ihrer Krankenakte, erfuhr Truffer, was damals mit ihr geschah. "In meinem Bauch fanden die Ärzte gesunde Hoden. Zudem stellten sie fest, dass ich über einen männlichen Chromosomensatz verfügte." Truffer hatte auch einen kleinen Penis. Oder, worauf sich die Ärzte einigten, eine vergrösserte Klitoris. Sie beschlossen, aus dem Kind ein Mädchen zu machen. "Trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers wurde ich im Alter von zweieinhalb Monaten kastriert", sagt Truffer.

Das Schweigen der Ärzte

Erst verschwiegen die Ärzte den Eltern die Operation. Aus Truffers Krankenakte: "Entgegen dem früheren Entschluss, den Eltern nichts über die genitale Situation zu sagen, kamen wir nach reiflicher Überlegung überein, den wahren Sachverhalt trotzdem mit den Eltern zu besprechen, (…)." Zudem wiesen sie die Eltern an, wie sie ihr Kind zu erziehen hätten. "Das Kind ist ein Mädchen (…), die ganze Erziehung hat sich danach zu richten. Mit niemandem ausser den Eltern und dem Arzt (…) soll über die Geschlechtsfrage weiter diskutiert werden." Die verantwortlichen Ärzte sind inzwischen verstorben.

Blick zwischen die Beine

Durch die Kastration produzierte Daniela Truffers Körper keine lebenswichtigen Hormone. Seit sie 12 Jahre alt ist, schluckt sie deshalb künstliche Hormone. Mit sieben Jahren operierten die Ärzte das Kind endgültig zum Mädchen. Glück im Unglück: Bei der Operation wurde Daniela Truffers Penisschaft, nicht aber die Eichel entfernt, sexuelle Gefühle sind möglich. Sie leidet jedoch an der inneren Zerrissenheit und an den gesundheitlichen Folgen der Hormonpräparate.

Daniela Truffers Jugend war vom Blick zwischen ihre Beine geprägt. Ständig wurde sie untersucht, "begrapscht" und nach den Operationen im Genitalbereich von Schmerzen geplagt. "Ich wusste, dass mit mir etwas nicht stimmt. Darüber gesprochen hat niemand." Die Folgen vergleicht Truffer mit jenen eines sexuellen Missbrauchs. "Sexualität, mein weibliches Geschlecht, das wurde für mich zu etwas Dunklem. Ich habe mich vor mir selber geekelt."

Heute lebt die 44-Jährige in einer Beziehung mit einem Mann, der ihre Öffentlichkeitsarbeit im Kampf um Wiedergutmachung und Anerkennung für Intersexuelle unterstützt.

Nach neun Jahren Psychotherapie kann Daniela Truffer nun auch mit sich selber leben. Das Verhältnis zu den Eltern ist wieder inniger. Auf die Frage, ob sie sich als Frau oder als Mann fühlt, findet sie nur schwer eine Antwort. "In meiner Fantasie habe ich mich immer als Vater gesehen", sagt sie, die weder Kinder zeugen noch empfangen kann. Den Raum, sich zu fragen, wer sie ist, hatte sie nie. "Ich bin zwangsoperiert", sagt Daniela Truffer. "Meine Genitalien, etwas vom Intimsten überhaupt, wurden mir genommen und verwaltet."

Andrea Sommer

http://www.zwischengeschlecht.org

Als nächstes folgte das erwähnte Interview, dieses umrahmt von 2 kleineren Kästen:

Justiz: Deutscher Arzt verurteilt

Das Landgericht Köln verurteilte am Mittwoch einen Arzt zur Schmerzensgeldzahlung von 100000 Euro. Geklagt hatte eine als Kind operierte Intersexuelle. [Korrektur: Christiane war zum Zeitpunkt der Lastration 18 Jahre alt.] "Eine geschlechtszuweisende Operation ist ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht", sagt Andrea Büchler, Rechtsprofessorin der Uni Zürich. Ob die gesetzlichen Vertreter eines Kindes die Einwilligung erteilen können, hänge davon ab, ob der Eingriff für die Gesundheit des Kindes nötig und in seinem Interesse sei. "Wenn nicht, ist mit dem Eingriff zuzuwarten, bis das Kind urteilsfähig ist."   as

Offener Brief: Kritik an Insel-Ärzten

Mit der gestrigen Aktion vor dem Inselspital protestierte die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org auch gegen Aussagen von zwei Insel-Ärzten in den Medien. Zacharias Zachariou, Direktor der Kinderchirurgie, erklärte vor Jahresfrist in der "NZZ am Sonntag", dass eine geschlechtsangleichende Operation für die Identität des Kindes wichtig sein könne. Primus Mullis, Abteilungsleiter für pädiatrische Endokrinologie, sagte letzten November im "Bund", dass in "kosmetischer Hinsicht" Operationen teilweise nötig seien.   azu


>>> Aktion & Offener Brief Inselspital Bern 16.8.2009

Siehe auch:
- Keine Zwangsoperationen mehr in Biel? - Berner Zeitung, 17.8.09