Leugnen, wegschauen, schweigen – Hamburger Senat reiht sich ein unter die MittäterInnen

Am 14.1.09 war in Hamburg nach drei Kleinen Anfragen die historische Grosse Zwitter-Anfrage eingereicht worden. Inzwischen liegen die Antworten des Senats vor.

Leider zeigte sich der Senat der Herausforderung alles andere als gewachsen. Statt sich schützend vor die Opfer der Zwangsoperationen zu stellen, stellt sich der Senat einmal mehr vor die TäterInnen. Statt Format zu beweisen und sich um inhaltliche Antworten zu bemühen, folgte er dem sattsam bekannten Beispiel der Bundesregierung (eins / zwei / drei / vier) und macht sich ebenfalls zum Komplizen der Zwangsoperateure.

Falls der Hamburger Senat jedoch hoffte, mit seiner Nicht-Antwort auf die historische Grosse Zwitter-Anfrage wäre das leidige Thema endlich wieder unter dem Tisch, hat er die Rechnung allerdings wohl ohne die Hamburgische Bürgerschaft gemacht – deren Ausschuss für Gesundheit und Verbraucherschutz hatte noch im alten Jahr beschlossen, am Mi 29. April 2009 eine Expertenanhörung zum Thema durchzuführen!

Drucksache 19/1993
Schriftliche Große Anfrage "Zwischengeschlechtliche Menschen"
der Abgeordneten Kersten Artus, Dora Heyenn, Christiane Schneider, Norbert Hackbusch, Elisabeth Baum, Dr. Joachim Bischoff, Wolfgang Joithe-von Krosigk, Mehmet Yildiz (DIE LINKE) vom 14.01.09
und Antwort des Hamburger Senats vom 13.02.09
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Ironischerweise erfolgte die Antwort des Senats mit demselben Datum vom 13.2.09, mit dem in Genf das CEDAW-Committee in einem laut dem Rechtsanwalt Oliver Tolmein "brisanten Papier", nämlich seinen "Abschliessenden Bemerkungen und Empfehlungen", die Bundesregierung nunmehr auch schriftlich offiziell aufforderte, "effektive Anstrengungen zu unternehmen", "die Menschenrechte" der Zwitter "zu schützen", sowie deren Durchsetzung auch in den Ländern und Kommunen zu fördern ...

Bei seinen Ausreden machte es sich der Senat denkbar einfach – wohl im Glauben, wegen "diesen paar wildgewordenen zwangsoperierten Zwittern" werde eh niemand genauer hinschauen.

Je nach Bedarf ist z.B. entweder alles dermassen unbekannt, dass eine konkrete Antwort dem Senat unmöglich erscheint – oder aber dieselbe Sache ist derart erschöpfend bekannt, dass sie gar erst nicht überprüft zu werden braucht:

So ist dem Senat betreffend der Zahl der in Hamburg durchgeführten genitalen Zwangsoperationen, Zwangskastrationen und Hormon-Zwangsbehandlungen "eine Antwort auf diese Fragen nicht möglich" mit der scharfsinnigen Begründung, "Eine einheitliche und randscharfe Definition des Begriffes „intersexuell“, „disorder of sex development“ oder „zwischengeschlechtlich“ gibt es nicht" – unter Verweis auf niemand anderen als die Bundesregierung (Einleitung sowie Antworten 1-3). Aus demselben Grund gäbe es  "kein einheitliches „medizinisches Interventionskonzept"" (Antwort 16) und aus demselben Grund würden auch "Die erfragten Daten [...] statistisch nicht erfasst." (Antworten 4-5)

Andrerseits weiss der Senat dann sehr genau: "Unter den Sammelbegriff „Intersexualität“ fallen mehr als hundert Dysfunktionen" (Einleitung). Und behauptet treuherzig, betreffend "Intersexualität" und ihre "Behandlung" sei die internationale Wissenslage derart klar und standardisiert, dass "experimentelle Studien" zu den Auswirkungen der Zwangseingriffe nicht nur nicht durchgeführt wurden, sondern auch gar nicht notwendig seien: "Wenn in der internationalen Literatur hinreichend aussagekräftige Studien zu einer Thematik vorliegen, werden diese Erkenntnisse nicht erneut lokal überprüft." (Antwort 7)

Ebenso willkürlich je nach Bedarf hält es der Senat mit dem Datenschutz: Einerseits dürfen Medizyner Patientendaten scheinbar nach Lust und Laune publizieren und weitergeben, sofern "die Daten der betroffenen Person nicht mehr zugeordnet werden können" (Antwort 14). Andrerseits kann der Senat nicht einmal Zahlenangaben zu Zwangsbehandelten machen "aus Gründen der Schweigepflicht und des Datenschutzes" (Antwort 19).

Vielsagend auch die nachfolgend vollständig wiedergegebene, erschöpfende Antwort des Senats, ob die Freie und Hansestadt Hamburg bereit sei, Zwangsoperierten Zwittern Opferschutzanwälte zur Seite zu stellen, um die erlittenen Rechtsverletzungen aufzuklären und soweit noch möglich einzudämmen: "Damit hat sich der Senat nicht befasst." (Antwort 15)

Der grösste Skandal der Nicht-Antworten des Senats ist jedoch die wahrhaft ungeheuerliche Behauptung, Eltern dürften nicht nur ihre Kinder nach eigenem Gutdünken willkürlich verstümmeln lassen und ihnen nach Lust und Laune gesunde Organe amputieren lassen – nein, die Zwangsoperierten hätten danach nicht einmal ein Recht auf Information über die an ihnen begangenen Verbrechen:

"Im Übrigen ist bei nicht einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen die Einwilligung der Personensorgeberechtigten maßgeblich. Die Information dieser Kinder beziehungsweise Jugendlichen durch die Ärzte und Psychologen kann daher nur im Einvernehmen mit den Personensorgeberechtigten erfolgen, denen die Entscheidung über die Zustimmung zu einer vorgeschlagenen Behandlungsweise obliegt. Soweit die Kinder beziehungsweise Jugendlichen einwilligungsfähig sind beziehungsweise geworden sind, können sie ihren Anspruch auf Information gegenüber den behandelnden Ärzten selbst geltend machen." (Antwort 16)

Dazu passend: Auf die Frage, was der Senat zu unternehmen gedenkt, dass Akten nicht mehr (wie meist) vernichtet würden, bevor die dereinst "einwilligungsfähig gewordenen" Zwangsoperierten sie überhaupt sehen, geht der Senat einmal mehr gar nicht erst ein ... (Antwort 17)

Kommentar:

Offensichtlich hat jedes Haustier mehr Rechte als ein Hamburger Zwitterkind!

Auf welcher Seite der Hamburger Senat steht, auf jener der Medizyner-Verbrecher oder jener der Zwangsoperierten, dürfte damit restlos geklärt sein.

Bleibt die Frage, auf welcher Seite die Hamburgische Bürgerschaft steht ...

Siehe auch:
- Weltweit größte Zwitter-Studie straft Bundesregierung Lügen!
- Rechtsanwalt Oliver Tolmein: "Deutschland gerügt: Menschenrechte von Zwittern nicht geschützt"
- Rechtsprofessorin Konstanze Plett: “Intersexualität aus rechtlicher Perspektive”