"Es wird weiter an den Genitalien von Kleinkindern geschnitten" - Eva Matt (Klartext in Ethikrat-Sachverständigen-Stellungnahmen 1)

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1)

Am Donnerstag, den 23.02.2012 von 10:30-12:00h wird die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu "Intersexualität" zu Handen der Bundesregierung vorgestellt werden im DBB-Forum, Friedrichstraße 169, 10117 Berlin. Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org wird ab 09:30h vor Ort präsent sein und daran erinnern, dass nun endlich konkrete Taten angesagt sind zur schnellstmöglichen Beendigung der täglichen Genitalverstümmelungen, und ebenso für eine umfassende Aufarbeitung dieser medizinischen Verbrechen ohne Scheuklappen und "blinde Flecke" (etwa, sobald es um Verbindungen zu NS-Medizynverbrechen geht).

Dieser Blog bringt bis zur Präsentation der Ethikrat-Stellungnahme in loser Folge einige Highlights aus den schriftlichen Stellungnahmen von Sachverständigen, die der Ethikrat – wenn auch erst auf wiederholten Druck von Betroffenen – auf seiner Homepage zum Teil
>>> öffentlich zugänglich machte, und von denen einige sehr deutlichen Kartext enthalten über die kosmetischen Genitaloperationen an Kindern mit "verdächtigen Geschlechtsteilen" a.k.a. Genitalverstümmelung in Kinderkliniken. Dieser Blog wird die Stellungnahme des Ethikrates u.a. daran messen, wie weit sie diesen klaren Statements Rechnung trägt.

Den Anfang machen nachfolgend einige relevante Ausschnitte aus der >>> Stellungnahme der österreichischen Juristin Eva Matt (PDF), die Leser_innen dieses Blogs keine Unbekannte ist. Schon 2009 hatten wir über eine >>> Publikation von Eva Matt in der "Online-Zeitung der Universität Wien" berichtet. Bereits dieser Aufsatz aus dem Jahre 2006 nahm kein Blatt vor den Mund, sprach von "Traumatisierende[n] Eingriffe[n]" und hielt demgegenüber die "die Rechte intersexueller Menschen auf körperliche Integrität und Selbstbestimmung" und ihr "Recht auf eine offene Zukunft" hoch.

Seither hat Eva Matt ihre  Dissertation "Intersexualität aus rechtlicher Perspektive" an der Rechtswissenschaftlichen Universität Wien abgeschlossen, leider ist diese nach wie vor unpubliziert. Jedoch nimmt Eva Matt auch in ihrer Stellungnahme für den Deutschen Ethikrat darauf Bezug.

Von diesem Blog für Eva Matt ein ganz herzliches Dankeschön für ihre mutigen Worte zu Gunsten der Menschenrechte der betroffenen Kinder, von denen sich manch andere "WissenschaftlerInnen", die stattdessen auf dem Buckel der Verstümmelten Mal für Mal lediglich ihr ganz eigenes Partikularinteressen-Süppchen kochen, ruhig mal eine fette Scheibe abschneiden könnten:

Obwohl es keinen einheitlichen Behandlungsstandard gibt und seit über zehn Jahren Langzeitstudien zur Patient/innenzufriedenheit gefordert werden, wird – auf Basis einer unsicheren Datenlage und trotz den Stimmen Betroffener, die von negativen Behandlungsergebnissen zeugen – weiter an den Genitalien von Kleinkindern geschnitten. [S. 1]

Die Befugnis von Eltern, medizinischen Behandlungen an Stelle ihrer Kinder zuzustimmen, hat Grenzen. Diese bestehen dort, wo die elterliche Entscheidung das Wohl des Kindes unberücksichtigt lässt bzw. diesem entgegensteht, oder das Kind durch die Entscheidung der Eltern in seinen Grundrechten auf körperliche Integrität und Selbstbestimmung verletzt würde. Auch der potentielle Wille des zukünftigen erwachsenen Menschen muss so weit wie möglich berücksichtigt werden. [S. 3]

Die Autonomie von Kindern kann mE nicht durch die elterliche Entscheidung substituiert werden, wenn sich die eigenen Ängste, Wünsche und Interessen der Eltern mit ihren Fürsorgepflichten vermischen. Schließlich geht es um geschlechtszuweisende Eingriffe, die oftmals eine Kastration oder Sterilisation bzw die Einschränkung sexueller Funktions- und Empfindungsfähigkeit betreffen. Den Eltern in einer derart persönlichen Angelegenheit ein Mitbestimmungsrecht bzw die Äußerung eines Wunsches zuzugestehen, erscheint mir angesichts der durch die Operation intendierten schweren und irreversiblen Eingriffe geradezu absurd. Zählen kann hier nur, was im Interesse der zukünftigen erwachsenen Person liegt. Und dies ist mE wohl die möglichst weitgehende Dispositionsmöglichkeit über den eigenen Körper. [S. 4]

Dass nicht jeder Eingriff, der im Zuge einer Geschlechts(neu)zuweisung durchgeführt wird, den medizinrechtlichen Begriff der Heilbehandlung erfüllt, wurde gezeigt. Einige der Eingriffe werden wohl – nach den Kriterien des Medizinrechts – im Bereich der kosmetischen Behandlungen anzusiedeln sein (zB die Korrektur einer vergrößerten Klitoris, die Verkleinerung von Labien im Kindesalter) und unterliegen damit nicht der Vertretungsweisen Zustimmung der Eltern. [S. 6]

In Fällen, in denen eine geplante Behandlung den Schweregrad einer medizinischen Behandlung iS § 146c Abs 1 ABGB (genitalverstümmelnde Behandlung) erreicht, sollte das elterliche Zustimmungsrecht prozessual an eine gerichtliche Zustimmungsregelung geknüpft werden.
Darüber hinaus sollte eine inhaltliche Begrenzung der geplanten Maßnahme erfolgen (Klassifizierung der einzelnen Eingriffe in hormonelle/operative – dringende/nicht dringende – invasiv/irreversibel bzw invasiv/reversibel).
Davon ausgehend besteht auch die Möglichkeit, ein „Recht auf offene Zukunft“, also das Verbot bestimmter geschlechtszuweisender Eingriffe zu normieren (Matt, 2006: 144). [S. 8]

Nach meinem Dafürhalten sollte „das Recht" in Bezug auf die (medizinische) Behandlung von intersexuellen Menschen eine aktive Rolle einnehmen und damit Motor für Veränderung sein. [S. 9]

Ich persönlich stehe der Schaffung einer dritten Kategorie sehr kritisch gegenüber. Ich glaube nicht, dass durch die Schaffung einer dritten Geschlechtskategorie der Abschaffung der Kategorie Geschlecht im (Personenstands)recht die Frage der operativen Normierung intersexueller Menschen wegfallen. Auch glaube ich nicht, dass dadurch Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts (der Geschlechtsidentität) nicht mehr vorkommen würden. [S. 11]

Sicherlich wäre es aus Sicht der „Betroffenen“ im Sinne einer Wiedergutmachung der erlittenen Beeinträchtigung angebracht, Entschädigungszahlungen bereit zu stellen. [S. 12]

>>> Ganze Stellungnahme von Eva Matt (PDF)

>>> Chronologie Deutscher Ethikrat 2008-2013

>>> "Intersexualität und Recht" in Österreich - Eva Matt 
>>> Ethikratdiskurs: "Wie so oft wird um den heissen Brei herumgeredet" 
>>> Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter