"Wie so oft wird um den heissen Brei herumgeredet" - Daniela "Nella" Truffer zum Ethikrat-"Diskurs"

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Nella fletscht die Zähne und sagt den "ExpertInnen" wie's ist –
am Ende des "Diskurses" leider so aktuell wie zu Beginn ...
(zum abspielen reinklicken)

>>> Statement Forum 1: "Medizinische Behandlung – Indikation – Einwilligung"
>>> Statement Forum 2: "Lebensqualität Betroffener und Perspektiven"
>>> Ein bisschen Zensur auf dem Ethikrat-Online-Diskurs "Intersexualität" (I) 

Transkript Videobeitrag:

Wie so oft wird um den heissen Brei herumgeredet oder - etwas, was für uns absolut selbstverständlich ist, das niemand das Recht hat, für Menschen mit - also für Zwitter, die so geboren werden, solche Entscheidungen zu treffen. Das wird dann immer mit irgendwelchen Sachen versucht abzuwiegeln, also, zum Beispiel geht es oft dann auch darum, dass die Eltern haben doch auch noch ein Recht, und für das Kindswohl muss man dieses und jenes. Aber im Prinzip der betroffene Mensch steht nie wirklich so im Zentrum.

Seit 1950 [1] propagieren und praktizieren Endokrinologen, Kinderchirurgen und weitere Mediziner kosmetische Genitaloperationen und andere medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Kleinkindern mit atypischen Genitalien – weil sie die Erfahrung machten, dass es dann einfacher ist, die Eltern zu beeinflussen [2] und die Kinder sowieso, die können ja gar nicht mitreden. 1955 lieferte dann ein Sexologe, nämlich John Money, nachträglich eine angeblich wissenschaftliche Begründung nach [3]. Die angebliche Wirksamkeit dieser Eingriffe konnte bis heute nie mit zufriedenstellender Evidenz belegt werden. [4]

Seit bald 20 Jahren klagen Überlebende die verheerenden Folgen dieser Praktiken öffentlich an [5], darunter Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit, schmerzende Narben im Genitalbereich, gesundheitliche Schäden infolge der Kastrationen, Traumatisierung durch aufgezwungene Behandlungen, und fordern ihre Beendigung. Seit 13 Jahren fordern auch kritische Mediziner und EthikerInnen, dass solche Eingriffe nur noch im Rahmen kontrollierter Studien durchgeführt werden sollen, solange weiterhin keine Evidenz über die Wirksamkeit dieser Behandlungen besteht [6]. Die Antwort der verantwortlichen Behandler darauf bis heute: Ablenkungsmanöver, Ausreden, Spott und Hohn [7] – sicher im Wissen, dass sie wegen der Verjährungsfrist juristisch nicht oder kaum je belangt werden können [8].

Wir Betroffene fordern ein gesetzliches Verbot von kosmetischen Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen und von kosmetischen Hormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit einer Aufhebung, Aussetzung oder Verlängerung der Verjährung, wie diese auch bei weiblicher Genitalverstümmelung und sexualisierter Gewalt gefordert wird.

Aus unserer Sicht haben Eltern kein Recht, für ihre Kinder kosmetischen Genitaloperationen und kosmetischen Hormonbehandlungen zuzustimmen. Solche Eingriffe verletzen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung der Kinder und berühren ihre höchstpersönlichen Rechte.

Bisher werden Eltern zu 90% [9] ausschließlich von Endokrinologen und Kinderchirurgen betreut in Anführungs- und Schlusszeichen, und das Problem ist, dass zum Beispiel Psychologen und [Sozial]pädagogen da nur am Rande vorkommen. Wir fordern, dass stattdessen wie gesagt spezialisierte Psychologen und Spezial- und Sozialpädagogen Ansprech- und Kontaktpersonen für die Eltern sein sollen. Mediziner sollen nur dann auftreten, in Erscheinung treten, wenn es wirklich um medizinisch notwendige Behandlungen geht. Für den berühmten "psychosozialen Notfall" sind nicht die Mediziner zuständig, sondern wie gesagt Psychologen oder Sozialarbeiter.

Seit dem letzten Forum, also seit dem Forum Bioethik zu Intersexualität des Deutschen Ethikrats vom letzten Jahr wurden allein in deutschen Kinderkliniken mindestens oder weit über 300 weitere Kinder genitalverstümmelt. Zahllose Betroffene setzen seit langem große Hoffnung in den Ethikrat. Möge die heutige Anhörung dazu führen, dass endlich entscheidende Schritte unternommen werden für ein Leben in Unversehrtheit und Würde auch für Menschen mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen.

Quellen:

[1] Lawson Wilkins: The Diagnosis and Treatment of Endocrine Disorders in Childhood and Adolescence. Springfield/Illinois, 1950, S. 274.
Zwischengeschlecht.info: "Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie."

[2] Elizabeth Reis: Bodies in Doubt: An American History of Intersex. Baltimore, 2009, S. 113.

[3] Als "Beweis" präsentierte Money ein angeblich gelungenes Zwillingsexperiment, das in Wahrheit aber tragisch endete – ein Umstand, den Money zeitlebens unterschlug. John Colapinto: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Düsseldorf, 2000.

[4] Heute noch stehen die einschlägigen AWMF-Leitlinien 006/026, 027/047, 027/022, 015/052 auf der niedrigsten Evidenzstufe S1.

[5] Vgl. Cheryl Chase: Letter, Sciences, July/August 1993, S. 3. ["Unglücklicherweise sind diese Operationen ungeheuer destruktiv für das sexuelle Empfinden und für das Gefühl der körperlichen Unversehrtheit"]

[6] Kenneth Kipnis, Milton Diamond: "Pediatric Ethics and the Surgical Assignment of Sex", The Journal of Clinical Ethics, Vol. 9 No. 4, 1998, S. 398-410.

[7] Eine beliebte Ausflucht besteht darin, gebetsmühlenartig das Fehlen von Langzeitstudien zu beklagen und gleichzeitig unkontrolliert weiter zu operieren, vgl. Howard Devore: "Endless Calls for 'More Research' as Harmful Interventions Continue", Hermaphrodites With Attitude, Fall/Winter 1996 [PDF], S. 3. Von Behandlern wird u.a. behauptet, Überlebende wären nur aufgrund von Einbildungen unglücklich (Susanne Krege, Vortrag UK Aachen 30.05.2011), erwachsene Zwangsoperierte hätten kein Recht für heutige Betroffene zu sprechen (Olaf Hiort, taz 06.11.2007), oder kritische Betroffene und Menschenrechtskommissionen werden als potentielle Gewalttäter dargestellt (Laurence Baskin, Referent am diesjährigen "3rd EuroDSD Symposium" in Lübeck, Stanford Medicine, Vol. 28 No. 1, 2011, S. 26 [PDF]).

[8] Christiane Völling, die bisher einzige Betroffene, die überhaupt einen Behandler wenigstens noch zivilrechtlich belangen konnte, wohlbemerkt in letzter Minute, war beim fraglichen Eingriff schon 18 Jahre alt, alle früheren Eingriffe waren auch bei ihr schon verjährt. Alle anderen Versuche von Betroffenen, Behandler juristisch zu belangen, scheiterten bisher stets an der Verjährung, vgl. auch Zwischengeschlecht.info: "Genitalverstümmelung: 'Unrecht der Medizinversuche anerkennen' (Oliver Tolmein 2009)".

[9] Eckhard Korsch: "Überlegungen zur praktischen Umsetzung des DSD-Consensus-Statements" [PDF], Vortrag APE 2006, Folie 16.
 

>>> Chronologie Deutscher Ethikrat 2008-2013

>>> Statement Forum 1: "Medizinische Behandlung – Indikation – Einwilligung"
>>> Statement Forum 2: "Lebensqualität Betroffener und Perspektiven"
>>> Ein bisschen Zensur auf dem Ethikrat-Online-Diskurs "Intersexualität" (I)

>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>>
Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>>
Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter 
>>>
150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
>>> Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken: Fakten und Zahlen

>>> Übersichtsseite zur Ethikrat-Anhörung 08.06.2011   

Unzensierte Version: Draufklicken (PDF, 3.3 MB)
>>> Flugblatt zur Anhörung (PDF, 3.3 MB)
         WARNUNG: 2. Seite enthält Operationsfotos!

>>> Aufforderung um Unterstützung an den Deutschen Ethikrat Dezember 2008
>>> Erneute Anfrage um Unterstützung an den Deutschen Ethikrat Mai 2009 
>>> Forum Bioethik des Deutschen Ethikrates zu "Intersexualität" 23.6.2010  
>>> Anliegen von Zwischengeschlecht.org an den Deutschen Ethikrat 

Siehe auch:
- Zwangsoperierte über sich selbst und ihr Leben
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Offener Brief an das "3rd EuroDSD Symposium", Lübeck 21.5.2011
- 9. Menschenrechtsbericht: Bundesregierung deckt medizinische Verbrechen 
- Zwitter-Genitalverstümmelungen: Ethikrat gefordert
- "Ethik als Freifahrtschein für operieren auf Teufel komm raus" - Claudia Wiesemann
- Weltweit größte Zwitter-Studie straft Bundesregierung Lügen! 
- Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2
- Zwitter-Vereinnahmung im Bundestag (I)
- Zwitter-Vereinnahmung im Bundestag: Business as usual (II)
- Genitalverstümmelung in Kinderklinik: Wer sind die Täter? Was soll mit ihnen geschehen?

Comments

1. On Thursday, November 8 2012, 11:42 by marzipan

meine tochter kam mit elf fingern auf die welt. uns wurde gleich empfohlen, dies noch vor vollendung des zweiten lebensjahres zu operieren. für uns war klar, dass wir das nicht tun, sondern ihr die entscheidung einmal selbst überlassen. warum an einem gesunden körper herumoperieren? jeder weiss, das op's ein risiko sind. finde es nur schade, verstehen das so wenige!