Bundestag: Intersex-Fachgespräch - Beate Rudolf (Deutsches Institut für Menschenrechte) bringt Klartext

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1)Am 24.10.2012 fand im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (im Anschluss an die öffentliche Anhörung vom 25.06.2012) ein "Fachgespräch auf Berichterstatterebene zum Thema 'Empfehlungen internationaler Gremien zu den Menschenrechten intersexueller Menschen'" statt.

Als einzige Expertin war Prof. Dr. Beate Rudolf geladen, die neue Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Mittlerweile ist das >>> Protokoll (PDF) dieses Fachgesprächs verfügbar – und dieses hat es in sich! Anders als ihre Vorgängerin, die sich gerne in "Geschlechtsidentitätsfragen" verlor und Intersex-Genitalverstümmelungen kaum konkret kritisierte, spricht Beate Rudolf Klartext. Danke!!

Nachfolgend einige Highlights aus ihrem Vortrag und der Fragenbeantwortung:

Die Bestimmung des Kindeswohls obliege also nicht allein Dritten, also z. B. den Eltern oder dem Staat, sondern es handele sich um eine Entscheidung, die gerade auch im Lichte der Einschätzung des Kindes getroffen werden müsse. [...] Daraus ergebe sich ihre Einschätzung, dass Operationen an Säuglingen und an Kindern, die sich noch nicht in einer verständlichen Weise ausdrücken könnten. unzulässig seien, es sei denn, es gehe um Lebensrettung. Aus der medizinischen Literatur seien ihr keine Fälle bekannt, in denen Operationen zur Lebensrettung notwendig gewesen seien. Abgesehen vom Fall der Lebensrettung seien nach Artikel 12 der Kinderrechtskonvention medizinische Eingriffe erst dann vorzunehmen, wenn Kinder auch an der Entscheidung wirksam mitwirken und angehört werden könnten.

In diesem Kontext sei bei der Bestimmung des Kindeswohls die Frage hervorzuheben, ob Kinder möglicherweise in der Gesellschaft diskriminiert würden, weil sie intersexuell seien. Zwar sei die Diskriminierung eine beachtenswerte Problematik, jedoch dürfe die Bekämpfung von Diskriminierung nicht durch einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit erfolgen. [...] (S. 3)

Zu der vom Anti-Folter-Ausschuss geforderten Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen durch Operationen in der Vergangenheit und zu der im Zusammenhang damit geforderten Verbesserung des Rechtsschutzes wolle sie besonders darauf hinweisen, dass Betroffene berichtet hätten, sie hätten sehr spät erfahren, dass und weshalb sie als Kind operiert worden seien. Häufig seien ihnen falsche Diagnosen genannt worden. Eine Schwierigkeit bestehe in der Frage der Zugäng- lichkeit von Patientenakten und auch in der Problematik der Aufbewahrungsfristen sowie der Verjäh- rung. Dies führe zu großen Beweisschwierigkeiten, so dass man aus ihrer Sicht darüber nachdenken müsse, welche alternativen Möglichkeiten es gebe, eine wirksame Entschädigung für erlittenes Un- recht zu gewähren. Bei der Frage der Entschädigung gehe es nicht allein um Geld, sondern auch darum, dass Entschädigungszahlungen die begangene Rechtsverletzung anerkennen würden. Die Genugtuungsfunktion sei auch sonst im Zivilrecht, etwa beim Schmerzensgeld, bekannt. Bei der Frage der Entschädigung gehe es um eine im Kern menschenrechtliche Frage. [...] (S. 4)

Operationen von intersexuellen Kindern ohne wirksame Einwilligung dürften nicht stattfinden, es sei denn, es liege eine lebensbedroh- liche Situation vor. Sie halte eine Formulierung, wonach das Verbot bis zum Erreichen des Alters der Geschäftsfähigkeit bestehe, nicht für zielführend. Ihr gehe es ebenso wie den internationalen Gremien um eine schnelle Regelung, dass derartige Operationen ohne eine sog. voll informierte Einwilligung nach Maßgabe der Kinderrechtskonvention nicht stattfinden dürften. Es erscheine ihr als vorrangig, hier rechtlich klarstellend tätig zu werden. Daneben müssten Aufklärungs- und Bildungsmaßnahmen vorangetrieben werden. Das Recht werde nur dann richtig angewendet und geschützt, wenn diejenigen, die Operationen vornähmen, die Eltern korrekt über die Folgen aufklärten. [...] (S. 8)

Die internationalen Gremien arbeiteten nicht mit der Unterscheidung zwischen geschlechtszuweisenden und geschlechtsangleichenden [*] Operationen. Sie stellten auf die Auswirkungen für die betroffene Person, nämlich auf die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, ab. Dies sei mit der Wahrnehmung verbunden, dass es bei intersexuellen Menschen um Menschen gehe, die man zwar als intersexuell kategorisieren könne, die man aber nicht defizitorientiert betrachte. Der Begriff Geschlechtsangleichung suggeriere aber das Vorhandensein eines Defizits. Hierbei werde unterstellt, dass ein Mensch eigentlich ein Geschlecht habe, dieses aber nicht richtig ausgeprägt sei und deshalb angeglichen werden müsse. [...] (S. 9)

[* In der Ethikratstellungnahme selbst ist die Rede von "geschlechtszuordnenden" vs. "geschlechtvereindeutigenden" OPs]

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Öffentl. Anhörung 25.06.2012: Protokoll und Video + Medienspiegel

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