Doch menschlich

vor einigen tagen überkam mich wieder einmal diese rasende wut, als müsste ich zerspringen, und plötzlich war da dieses bild, nein, mehr ein gefühl: sie halten mich fest, ich kann mich nicht bewegen, sie sind zu stark. ich habe keine chance, bin starr vor angst, wehre mich aber nicht. ich habe mich nie gewehrt.

mit zweieinhalb monaten haben sie mich kastriert und nahmen dabei in kauf, dass ich aufgrund meines lebensbedrohenden herzfehlers die narkose und die operation nicht überleben würde.

mit sieben haben sie meinen mikropenis auseinandergesäbelt und banden mir eine woche lang nacht für nacht die hände, damit ich nicht an meinem verletzten, mit hämatomen verzierten geschlecht rummache.

mit sechzehn standen sie zu dritt um mich herum, eine neovagina war in planung, und einer meinte mit entnervtem kopfschütteln: das geht nicht, das ist viel zu eng, das kann man nicht operieren! ich sehe seinen blick noch vor mir: kein funken mitgefühl. ich schämte mich so sehr, hätte beinahe gesagt: bitte entschuldigen sie die umstände!

mit siebzehn rammte mir der chirurg bei der voruntersuchung ohne ein wort seinen finger in meine nicht-vagina-harnröhren-öffnung, um zu testen, wie weit es reingeht. ich hab keinen ton von mir gegeben, war ganz starr. danach durfte ich vor eine gekachelte wand stehen.

mit achtzehn stakste ich mit einem plastikstöpsel in der blutenden neovagina in meinem elternhaus herum und schämte mich. diese zur schau getragene geschlechtlichkeit. niemand sagte etwas und ich sagte auch nichts.

ich hab mich nie gewehrt. hab nie geschrien, geweint, mich beschwert – nichts. ich habe starr alles über mich ergehen lassen. nur nicht noch mehr auffallen. lange habe ich mir das vorgeworfen, auch heute noch ist es nicht ganz weg: du bist schuld. meine strategie war der totale rückzug. um diese ohnmacht ertragen zu können, habe ich mir eine fantasiewelt konstruiert, in der ich allmächtig war: ich bin nicht schwach, ich fühle keinen schmerz, ich brauche keine liebe, ich stehe über allem. kalt und hart. ich habe nur verachtung für diejenigen übrig, die so schwach sind, so menschlich. ich bin nicht menschlich.

es war meine rettung. aber der preis war verdammt hoch. ich zahle heute noch. denn ich bin doch menschlich.

nella

Comments

1. On Saturday, October 4 2008, 12:36 by Sinfonie7

Hallo Nella !
Ich habe Deinen Bericht gelesen und mußte fast weinen denn Du drückst genau mein Leben aus. Mir ist es genauso ergangen und ich kann bis heute nicht aufbegehren weil ich auch so einer von diesen Hunden bin. Starr vor Angst, mich zu outen und das auszusprechen, was eigentlich unaussprechlich ist. Darum lebe ich lieber mein Leben alleine mit meiner ungelebten Wut und meinem Zorn. Mit meiner Hilflosigkeit und Ohnmacht. Alles Gute für Dich

2. On Sunday, October 5 2008, 11:03 by nella

liebe sinfonie

danke für deinen kommentar! wir haben alle ähnliches leid erfahren, auch mir geht es oft so, dass ich mich in berichten von geschlechtsgenossen wieder finde.

es ist ein langer und schmerzhafter weg, aus diesem inneren gefängnis auszubrechen. aber es ist aus meiner sicht der einzige weg. es ist so schwer, diese opferrolle abzulegen, die mauern einzureissen, sich zu zeigen, das unaussprechliche auszusprechen, eine antwort zu geben, obwohl man bisher das leben stumm verbrachte.

es tut sehr weh, aber es ist viel, viel besser als in diesem inneren gefängnis, das irgendwann auch schutz wird, zu leben, dort ist es dumpf und man steht vor einem schwarzen loch und innen drin ist leere und verzweiflung.

die geschichte mit den hunden ist himmeltraurig und hat mich tief getroffen, weil sie so sehr meine/unsere gefühle ausdrückt: es tut verdammt weh, der wahrheit ins gesicht zu schauen: 'die' wollten uns nicht so, wie wir sind.

trotzdem oder erst recht müssen wir uns unser sein selber erkämpfen. sonst haben 'die' gewonnen! auch wenn ich mein ganzes leben dafür brauchen sollte, um endlich mich zu sein: wenn ich eines tages mit dem gefühl sterbe, es geschafft zu haben, mit offenem blick und ruhigem lächeln, wird es sich gelohnt haben!

liebe grüsse

nella