"Geschlecht: Zwangsoperiert" - megafon 335, September 2009

Die Zwitter Medien Offensive™ geht weiter!

>>> Aktion & Offener Brief Inselspital Bern 16.8.2009 (Bild: Ärger)

Artikel von Nella & Seelenlos (Megafon 335, S. 7-9)

Geschlecht: Zwangsoperiert

Meine Jugendzeit verbrachte ich zum größten Teil in verschiedenen Krankenhäusern, wo man mich nach und nach kastrierte und mich zur Frau umarbeitete. Über 15 Operationen musste ich über mich ergehen lassen. Hatte zum Teil furchtbare Schmerzen. [...] Und die ganzen Hormonzugaben (Östrogene), die ich bekommen habe.
Karim "Dusty" Merah

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, mit unversehrten Genitalien aufzuwachsen. Genitalverstümmelungen gelten als barbarisch und finden höchstens in so genannt rückständigen, weit entfernten Ländern statt. Die wenigsten wissen, dass auch in der Schweiz regelmässig wehrlosen Kindern an ihren gesunden Genitalien herumgeschnitten wird – etwa jedem 2000. Kind, unter den Augen der Behörden, mit dem Segen unserer so genannt aufgeklärten Gesellschaft, in praktisch jedem Kinderspital.

Dabei wird in Kauf genommen, dass ihr sexuelles Empfinden vermindert oder gänzlich zerstört wird. Zudem werden sie systematisch kastriert. Der ursprüngliche Zustand ihres Körpers wird ihnen verheimlicht, über die Eingriffe werden sie systematisch belogen. Die meisten Opfer dieser Praxis tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang leiden. Medizinische Studien belegen dies.

Das Vergehen dieser Kinder: Sie kamen mit "uneindeutigen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt – so genannte Zwitter, Hermaphroditen, Zwischengeschlechtliche oder Intersexuelle.

Gender vs. "Menschenrechte auch für Zwitter!"

Es geht nicht um die Frage, ob ich mich in der Rolle als Frau wohl fühle. Ich habe nicht das Bedürfnis, mich nachträglich in Richtung Mann operieren zu lassen. Ich fühle mich schlicht und einfach nicht wohl in der Rolle des angelogenen, verarschten, erniedrigten, gegen seinen Willen kastrierten und genitaloperierten Menschen, der Hormone fressen muss und zwischen den Beinen nicht nur gute Gefühle hat.
Daniela "Nella" Truffer

Vermehrt Beachtung finden Zwitter vor allem bei Gruppierungen, die das Zweigeschlechtersystem in Frage stellen. Diese richten ihren Blick jedoch in der Regel nicht auf die realen, zwangsoperierten Zwitterkörper, sondern auf ein fiktives Ideal, das ihre eigenen Wunschvorstellungen verkörpert. Dabei setzen sie unhinterfragt voraus, dass alle Zwitter auf Grund ihrer quasi körpergewordenen Aufhebung des Zweigeschlechtersystems ihre Ziele teilen würden, oder adoptieren sie gleich ungefragt als eine Unterabteilung ihrer eigenen Gruppe. Wo sie die Leiden der Zwitter überhaupt behandeln, propagieren sie als Heilmittel wiederum einzig ihr eigenes Anliegen, nämlich die Abschaffung der Geschlechter.

Mit fatalen Folgen: In der öffentlichen Wahrnehmung sind Zwitter, sofern sie nicht von vornherein mit Transsexuellen verwechselt werden, längst im (Trans-)Genderdiskurs untergegangen.

Die meisten Zwitter jedoch verorten sich selbst, ihre Körper, ihr Schicksal, ihr Leiden und ihren Kampf in radikal anderen Diskursen. Sie erleben und verstehen sich als Opfer medizinischer Gewalt, die sie als Folter erfahren.

Was die in den letzten zwei Jahren neu erstarkte Zwitterbewegung für sich fordert, ist schlicht "Menschenrechte auch für Zwitter!" Den Zwangsoperierten geht es nicht um Gender-Theorien, ihnen geht es um elementarste, ihnen immer noch vorenthaltene Grundrechte, namentlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.

Medizin als Folter

Ich habe mein ganzes Leben dran zu kauen, was ich bin oder was ich war. Ich leide unter schweren physischen Störungen und spiele immer wieder mit dem Gedanken, meinen "verfluchten" Leben ein Ende zu bereiten. Hätte ich nicht im Intersexuellen-Forum Menschen gefunden, die so sind wie ich und auch ein schweres Schicksal hinter sich haben, hätte ich das alles gar nicht mehr geschafft.
Karim "Dusty" Merah

Zwitter sind nicht per se krank oder behandlungsbedürftig. Trotzdem werden zwischengeschlechtlich geborene Kinder bis heute in der Regel vor dem 2. Lebensjahr ohne ihre Einwilligung an ihren "uneindeutigen" Genitalien zwangsoperiert, zwangskastriert und Zwangshormontherapien unterzogen.
Nach dem Motto "It‘s easier to make a hole than to build a pole" (es ist einfacher, ein Loch zu graben, als einen Mast zu bauen) werden die meisten 'zu Mädchen gemacht'. Dabei wird eine zu grosse Klitoris resp. ein zu kleiner Penis operativ verkleinert oder gar amputiert. Viele Zwangsoperierte beklagen, dass dadurch das sexuelle Empfinden vermindert oder gänzlich zerstört wird, sowie über schmerzende Narben.

Viele werden zudem wegen eines angeblich pauschalen "Krebsrisikos von 30%" flächendeckend "prophylaktisch" kastriert, d.h. es werden ihnen die gesunden, Hormone produzierenden inneren Geschlechtsorgane entfernt, was eine lebenslange Substitution mit körperfremden Hormonen zur Folge hat – sowie zum Teil gravierende gesundheitliche Probleme, unter anderem Depressionen, Adipositas, Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen, Osteoporose, Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und Libidoverlust. Bis heute werden zwangskastrierte Zwitter regelmässig gezwungen, adäquate Ersatzhormone aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

Was 99% der Zwitter erlebt haben, ist verwandt mit sexuellem Missbrauch, ist verwandt mit Folter, ist verwandt mit Mächchenbeschneidungen in Afrika, ist verwandt mit den medizinischen Experimenten, die im 2. Weltkrieg in KZ‘s durchgeführt wurden.

Genitale Zwangsoperationen am Inselspital

Wie in Basel, Lausanne, Luzern, Genf, St. Gallen und Zürich werden die Zwangsbehandlungen auch im Inselspital experimentell durchgeführt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne Qualitätssicherung und ohne jegliches Monitoring. Offiziell wird nicht einmal bekannt gegeben, wie viele und welche Eingriffe wo stattfinden.

2007 liess Prof. Dr. med. Primus Mullis, Abteilungsleiter für pädiatrische Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel, Medizinische Universitäts-Kinderklinik Bern noch gönnerhaft durchblicken, "unter den Ärzten [wachse] die Bereitschaft, ein unbestimmtes Geschlecht auch einmal sein zu lassen" (Das Magazin 36/2007).

Zacharias Zachariou, Direktor der Kinderchirurgie des Inselspitals, betonte demgegenüber, wie wichtig es sei, "möglichst in den ersten zwei Jahren nach der Geburt zu einer Entscheidung zu kommen" - gefolgt von der klassischen 'Begründung': "Stellen Sie sich einmal den psychischen Druck für ein Kind vor, das nicht weiss, ob es ein Knabe oder Mädchen ist. Oder wenn es mit den Jungs in die Umkleidekabine geht und die anderen sehen, dass es keinen Penis hat!" (NZZaS 13.07.2008

Aufgeschreckt durch die zunehmende Medienpräsenz unzufriedener Zwangsoperierter schwenkte Mullis wenige Monate später gänzlich um und behauptete plötzlich: "Hier werden keine Zwangsoperationen durchgeführt." Um dann im selben Atemzug als "Ausnahme in kosmetischer Hinsicht" diejenigen "Mädchen" zu nennen, die mit dem so genannten adrenogenitalen Syndrom geboren werden: "Die oft vergrösserte Klitoris werde wegen des sozialen Stigmas verkleinert." Bezeichnenderweise handelt es sich bei der "Ausnahme" AGS-"Mädchen" um die zahlenmässig grösste "Patientengruppe". (Der Bund 15.11.2008)

Fazit: Wie überall in der Schweiz werden auch im Inselspital nach wie vor wehrlose Zwitterkinder genital zwangsoperiert!

Studien belegen massive Menschenrechtsverletzungen

Ich werde mein Leben lang unter den Folgen dieser menschenverachtenden Behandlung leiden. Ich bin weder Mann, noch Frau, aber vor allem bin ich auch kein Zwitter mehr. Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich neu erfinden, wenn ich weiter leben will.
Daniela "Nella" Truffer

Aktuelle, umfangreiche Forschungsergebnisse des deutschen "Netzwerk Intersexualität/DSD", die "Hamburger Studie" 2007 und die "Lübecker Studie" 2008 (mit 439 Proband_innen, zum Teil auch aus der Schweiz, die weltweit bisher grösste), beweisen einmal mehr:

  • Die meisten Opfer der menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen tragen massive psychische und physische Schäden davon.
  • Nicht zwangsoperierte Zwitter haben im Vergleich eine deutlich höhere Lebensqualität.
  • Trotzdem werden nach wie vor über 80% aller Zwitter meist mehrfach zwangsoperiert.

Bezeichnenderweise versucht das "Netzwerk DSD" aktuell, die eindeutigen Studienergebnisse nachträglich zu frisieren.
Weiter bestätigen ExpertInnen, dass diese Zwangseingriffe ethische Grundsätze verletzen und auch strafrechtlich nicht haltbar sind.

Das Schweigen der MittäterInnen

Der Arzt sagte: "Du bist kein Mann! Du bist auch keine Frau! Du bist ein Zwitter! So Menschen wie dich hat man früher auf dem Jahrmarkt ausgestellt und damit Geld verdient! Das kannst du ja auch mal ausprobieren, da bist du eine Kuriosität, eine Sensation!" Er lachte dabei.
Christiane Völling

Als Geldgeber der Medizyner sind Behörden und die Öffentlichkeit mit verantwortlich für deren Taten. In der Schweiz gab es bisher weder parlamentarische Anfragen noch sonst irgendwelche politischen Vorstösse zum Thema.

In Deutschland propagiert die Bundesregierung gar Zwangseingriffe an Zwittern regelmässig aktiv mit tatsachenwidrigen Behauptungen. Auch die Parteien, die Antidiskriminierungsstelle, Deutscher Ethikrat, Amnesty International, Terre des Femmes – alle schweigen sie und sehen keinen Handlungsbedarf.

Für viele ohne ihre Einwilligung zwangsoperierte Zwitter kommt dies einer Mittäterschaft gleich.

Zwitter proben den Aufstand

Ich möchte meinen ursprünglichen Körper zurück haben, genauso, wie er bei der Geburt war. Keine Narben, keine Hormone schlucken, ich wäre ganz, mich selbst. [...] Ich frage mich, wie ich gewesen wäre, aber ich werde es nie erfahren, das haben sie mir für immer genommen. Ohne mich zu fragen.
Daniela "Nella" Truffer

In Köln zeigte Christiane Völling als erste Zwischengeschlechtliche ihren ehemaligen Operateur an, und gewann bisher durch alle Instanzen. Zwischengeschlecht.org nahm dies zum Anlass für eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, dank der 2008 viele Menschen zum ersten Mal von den Menschenrechtsverletzungen an Zwittern erfuhren.
Aufgrund eines Schattenberichts von Intersexuelle Menschen e.V. hielt das UN-Komitee CEDAW im Februar 2009 erstmals fest, auch Zwitter hätten Anspruch auf Menschenrechte und informierte Zustimmung. Gleichzeitig gab es auf kommunaler wie auf Bundesebene zunehmend politische Vorstösse.

Auch in der Schweiz kam es zu öffentlichkeitswirksamen Protestaktion vor dem Kinderspital Zürich und dem Inselspital in Bern, gefolgt von einer Vielzahl von Medienberichten.

Von 2009 erhoffen sich die Aktivist_innen, dass sich erstmals auch politisch aktive Nichtbetroffene mit ihrem Kampf gegen genitale Zwangsoperationen und für Selbstbestimmung solidarisieren werden.

Nella & Seelenlos / Zwischengeschlecht.org

Siehe auch:
- Megafon 255: Nellas allererstes Interview von 2002    

Comments

1. On Wednesday, September 16 2009, 12:27 by nella

Willkommen auf der Infobrücke ...

Ich liebe dieses Foto.

2. On Thursday, September 17 2009, 16:43 by suse

Super Artikel. Vor allem macht er sehr unaufgeregt und verständlich klar, wo das Problem liegt mit der Vereinnahmung durch den Gender-Diskurs.
(Gleichzeitig kann der Fokus von Leuten, die sich gegen die Zweigeschlechter-Norm wehren, eben drum auch bei den Zwangs-OPs landen. Sonst wären sie womöglich nicht darauf aufmerksam geworden. Auch wenn sie vielleicht am Anfang noch nicht alles ganz verstehen, weil sie die Sicht der direkt Betroffenen erst kennenlernen müssen, können das wichtige Verbündete sein.)
Danke jedenfalls für den gut geschriebenen Artikel im Megafon und gestern im Tages-Anzeiger!

3. On Saturday, October 3 2009, 19:52 by Bad Hair Days

Eine Rückfrage:
Der CEDAW Schattenbericht war ja dieses Jahr auch für die Schweiz fällig. Wurde hier gehandelt?

4. On Monday, October 5 2009, 14:31 by seelenlos

hi sarah, leider wird der cedaw-bericht der schweiz in new york behandelt, was unser budget definitiv sprengen würde. wichtiger wäre uns eh der bericht zur kinderschutzkonvention, da ist die schweiz aber aktuell arg im verzug, und auch wir sind leider aus kapazitätsgründen noch nicht dazu gekommen, uns mit den übrigen akteurInnen dazu in verbindung zu setzen, da wir gerade mit politischen vorstössen ausgelastet sind.