Susanne Ude-Koeller, Claudia Wiesemann: "Ethik und Informed Consent. Empfehlungen für die Behandlung intersexueller Kinder und Jugendlicher" - Kinderärztliche Praxis, 2005

Menschenrechte auch für Zwitter!Relevante Ethik-Veröffentlichung von Susanne Ude-Koeller und Claudia Wiesemann (Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin, Georg-August-Universität Göttingen) in der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis Nr. 5/2005, S. 305-310: "Ethik und Informed Consent. Empfehlungen für die Behandlung intersexueller Kinder und Jugendlicher".
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Beide Autorinnen sind auch massgeblich beteiligt in der "Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität 'Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung'" sowie bei deren "Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD" (2008).

Salopp gesagt ist der vorliegende, insgesamt sehr gelungene Artikel aus dem Jahre 2005 die interessanterweise bessere bzw. unverwässertere und klar mehr Klartext enthaltende Blaupause zu den späteren "Netzwerk DSD/Intersexualität"/"EuroDSD"-Empfehlungen von 2008. (DSD steht für "Disorders of Sex Development", offizielle Medizyner-Eindeutschung: "Störungen der Geschlechtsentwicklung" – die "Gestörten" danken.)

Als symptomatisches Beispiel kann der Kasten mit den eigentlichen Empfehlungen in der vorliegenden Veröffentlichung dienen:

Wesentliches für die Praxis . . .

  • Eine intersexuelle Kondition bei einem Neugeborenen ist nicht per se eine Notfallindikation. [...] Erforderlich ist stets begleitend eine Stärkung der Konfliktbewältigungskompetenz der Eltern.
  • Die Wahrung des Kindeswohls erfolgt nicht automatisch durch Festlegung auf ein Geschlecht. Für die Realisierung des Kindeswohls muß zudem immer berücksichtigt (und gegebenenfalls dagegen abgewogen) werden:
    - die mögliche Traumatisierung durch Korrektureingriffe und 
       durch wiederholte Untersuchungen im Intimbereich,
    - die mögliche Einschränkung der sexuellen Erlebnisfähigkeit und 
       der generativen Potenz des zukünftigen Erwachsenen [...]
  • [...] Nur Maßnahmen, für die eine gute Evidenz vorliegt, sind zweifelsfrei zu rechtfertigen. Alle anderen Behandlungen sollten im Rahmen von langfristig angelegten Studien erfolgen.

Zwar enthalten auch die Netzwerkempfehlungen teilweise vergleichbare Punkte, jedoch meist in abgeschwächter Form (vgl. z.B. "nicht per se eine Notfallindikation" vs. den berühmt-berüchtigten "psychosozialen Notfall" in den "Netzwerk DSD"-Empfehlungen), sowie – gravierender – irgendwo hinten in den eigentlichen Empfehlungen versteckt unter "ferner liefen" (z.B. taucht DER eigentlich zentrale Punkt "Maßnahmen, für die keine zufriedenstellende wissenschaftliche Evidenz vorliegt, sowie Maßnahmen, die irreversible Folgen für die Geschlechtsidentität oder negative Auswirkungen auf Sexualität oder Fortpflanzungsfähigkeit haben können, sind besonders begründungs- und rechtfertigungspflichtig und bedürfen einer zwingenden medizinischen Indikation" in den Netzwerk DSD-Empfehlungen erst unter Punkt 6. auf – in der aktuell im Oktober 2010 letztmals "überprüften" und unverändert bis 2015 freigegebenen AWMF-Verstümmlerleitlinie 027/022 "Störungen der Geschlechtsentwicklung" werden dann aber bequemerweise nur die Punkte 1.-2. angeführt ...).

Weiter bezeichnend, dass die vorliegende Veröffentlichung von 2005 explizit auf die UN-Kinderrechtskonvention Bezug nimmt, während in den "Netzwerk DSD"-Empfehlungen bekanntlich Grund- Menschenrechte gar nicht erst erwähnt – die einzige Erwähnung von juristischen Rechten in den "Netzwerk"-Empfehlungen überhaupt geschieht, um Eltern (und Medizynern) die alleinige Verfügungsgewalt über die Kinder zuzusichern: "Rechtlich steht letztlich den Eltern die Entscheidung zu".

Ein Satz, der – Überraschung! – dann auch in der erwähnten AWMF-Verstümmlerleitlinie 027/022 als einzige Belegstelle zentral hervorgehoben wird – quasi als "Freifahrtschein für operieren auf Teufel komm raus" (C. Wiesemann am "Forum Bioethik" des Deutschen Ethikrates).

M.E. lediglich in einem Punkt haben die "Netzwerk DSD"-Empfehlungen die Nase vorn: Während dort die Wichtigkeit von Peer Support (Zugang zu Selbsthilfegruppen Betroffener) unter 4. explizit angesprochen wird ("Dazu sollten Eltern auch über das Angebot von Selbsthilfegruppen und Betroffenenvertretern informiert werden"), bleibt Peer Support in der vorliegenden Publikation von 2005 unerwähnt.

Auf der Negativseite muss weiter angesprochen werden, dass bei beiden Ethik-Veröffentlichungen teilweise "Wischi-Waschi-Ausdrücke" (z.B. in der vorliegenden Publikation der Zwischentitel "Frühere Behandlungsempfehlungen" – was allerdings im Text später relativiert wird!) und unverbindliche "Sollte-Formulierungen" (vgl. z.B. im Zitat oben im letzten Satz) unangenehm auffallen – jedoch ist zu konstatieren, dass beides in den "Netzwerk DSD/Intersexualität"-Empfehlungen von 2008 klar in verstärktem Masse der Fall ist.

Kommentar: Es ist auffallend, dass im Vergleich zur vorliegenden Publikation von 2005 die späteren "Netzwerk DSD"-Ethikempfehlungen von 2008 leider schlechter abschneiden.

Und wohl auch bezeichnend, da auch mit anderen Entwicklungen im "Netzwerk Intersexualität/DSD" bzw. "EuroDSD" nur allzu übereinstimmend – was sich auch am Beispiel der Geschichte der in Lübeck veranstalteten "DSD-Symposien" nachweisen lässt:

Beim 1. Symposium von 2004 (Veranstalterin: "Netzwerk Intersexualität/DSD") war als Ausnahme unter all den üblichen VerstümmlerInnen noch die Ethikerin und Co-Autorin der vorliegenden Publikation, Claudia Wiesemann, als Referentin geladen.

Beim 2. Symposium von 2006 ("Netzwerk Intersexualität/DSD") als weitere Ausnahme Barbara Thomas von den XY-Frauen.

Beim diesjährigen 3. Symposium ("EuroDSD") bleiben die GenitalabschneiderInnen und ZulieferInnen hingegen von Anfang an vornehm unter sich ...

Kommt noch dazu, dass alle aktuellen AWMF-Leitlinien die eigenen "Netzwerk"-Ethikempfehlungen entweder gleich ganz aussen vor lassen (AWMF 027/047) – oder, wo sie sie überhaupt erwähnen, lediglich als Feigenblatt zum Verstümmeln von gesunden Kindergenitalien missbrauchen (AWMF 027/022) ...

Fazit: Offensichtlich stellt die EU, welche die heutige "Netzwerk"-Nachfolgeorganisation "EuroDSD" finanziert, (noch) weniger Anforderungen an Ethik und Menschenrechte als die seinerzeitige "Netzwerk"-Geldgeberin Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

Umso wichtiger, dass den "EuroDSD"-GenitalabschneiderInnen kontinuierlich öffentlich Paroli geboten wird, auch von Betroffenen!

>>> Ude-Koeller, Wiesemann: "Ethik und Informed Consent" (PDF 129 KB)

Genitalabschneider, wir kriegen euch! Zwangsoperateure, passt bloss auf!

Gonade um Gonade, Lustorgan um Lustorgan!

Siehe auch:
- "Ethik als Freifahrtschein für operieren auf Teufel komm raus" (Claudia Wiesemann)
- "Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD": Zwangsoperationen klar unzulässig (Dr.  med. Jörg Woweries)
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- "Genitalkorrekturen in Deutschland in der Regel im ersten Lebensjahr" (DGKJ/APE/DGE)
- "Netzwerk DSD": Ethik-Empfehlungen als Feigenblatt für Zwangsoperateure
- Kinderkliniken: € 8175,12 Reingewinn pro Genitalverstümmelung
- "Ethik als Feigenblatt?" - Zwischengeschlecht.org am "Forum Bioethik", 23.6.10
- "EuroDSD"-Chef Olaf Hiort: "Intersexuelle" nur ein Bruchteil aller chirurgischen Genitalverstümmelungen in deutschen Kinderkliniken
- Genitalverstümmelung in Kinderklinik: Wer sind die Täter? Was soll mit ihnen geschehen?