Genitalverstümmelung: "Ethik als Freifahrtschein, an die Eltern eine ohnehin schon feststehende Entscheidung abzudelegieren" - Claudia Wiesemann, Forum Bioethik 23.6.10

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Bezeichnenderweise hat es der Deutsche Ethikrat auch nach bald 3 Monaten immer noch nicht geschafft, die versprochenen Wortprotokolle seines "Forum Biotehik: Intersexualität – Leben zwischen den Geschlechtern" vom 23.6.10 in Berlin aufzuschalten.

Anlass für diesen Blog, erneut einen Ausschnitt aus der Abschlussdiskussion des Forums in einem eigenen Transkript öffentlich zu machen.

Nach dem bereits vor einem Monat veröffentlichten Diskussionsbeitrag von Zwischengeschlecht.org "Ethik als Feigenblatt?", der u.a. konkrete Fragen an die "Netzwerk DSD/Intersexualität"-Ethikerin Prof. Dr. Claudia Wiesemann richtete, diesmal der darauf folgende Diskussionsbeitrag von Claudia Wiesemann, in dem sie u.a. die bereits seit einem Jahr im Raum stehende Kritik dieses Blogs streift betreffend des Missbrauchs der Ethik-Empfehlungen der Netzwerk-Ethikarbeitsgruppe durch die AWMF-Leitlinie "Störungen der Geschlechtsentwicklung" von DGKJ, DGE und APE.

Weiter lässt der letzte Satz darauf schliessen, dass auch Frau Wiesemann vom Deutschen Ethikrat etwas mehr erwartet hätte als "vorerst kein weiterer Handlungsbedarf" (Hervorhebungen durch Zwischengeschlecht.info):

Claudia Wiesemann: Mir scheinen zwei Begriffe, die in diesen letzten Fragen gefallen sind, nochmal sehr wichtig zu sein.

Einmal ist es dieser Begriff der Verdunkelung, der hier fiel, und der besagt, dass einfach noch zuviel operiert wird auf Teufel komm raus, in Kleinstzentren, die vielleicht drei Mal im Jahr mit einem solchen Fall zu tun haben und ohne grössere Kompetenzen, und dass in einer solchen Situation der informed consent aller Wahrscheinlichkeit nach Makulatur ist und letztendlich die Ethik nur noch als Freifahrtschein dazu dient, an die Eltern eine ohnehin feststehende Entscheidung abzudelegieren. Das halte ich selber auch für höchstgefährlich und auch höchstproblematisch.

Es scheint sich ein gewisser paradoxer Effekt inzwischen einzustellen, das heisst die Zentren, die im Augenblick sehr Aufklärungsarbeit betreiben, und für einen wesentlich offeneren und besseren Umgang mit Intersexualität plädieren, die sorgen für ein gewisses Informationsniveau, so dass sich jetzt dann doch wieder jeder Feld- und Wiesenchirurg zutraut, mit den Kenntnissen, die er in der Monatsschrift Kinderheilkunde erworben hat, doch ganz schnell noch mal ein paar Operationen durchzuführen. Und das ist tatsächlich ein grosses Problem auch der medizinischen Landschaft in Deutschland.

Meines Erachtens ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir mit unseren Empfehlungen, ethischen Empfehlungen überhaupt durchdringen, dass solche Konditionen nur in spezifischen Zentren behandelt werden, wo ausreichend professionelles Personal vorkommt, und zwar nicht nur Mediziner, sondern zum Beispiel auch wirklich geschulte Psychologen.

Und damit verbunden ist für mich die Frage, wie stärken wir die Kompetenz des Kindes in dieser spezifischen Situation? Mir scheint es sehr wichtig zu sein, das Kind so früh wie möglich und den Jugendlichen so früh wie möglich einzubeziehen. Wir entlasten uns damit eines Teils des Prognoseproblems, das dieser spezifischen Situation immer anhaftet, dass man zwanzig Jahre im Voraus eine Prognose treffen soll.

Und diese Frage, also, wie stärke ich die Kompetenz des Kindes, wie stärke ich die Rolle des Kindes, die ist mir - die ist bislang noch nicht gut beantwortet, auch von uns nicht gut beantwortet worden. Soll das über einen Kinderanwalt geschehen beispielsweise? Ist der Psychologe im Team die geeignete Person, die sich für die Kindesinteressen einsetzt?

Das sind Fragen, die gehören für mich in Zukunft ganz intensiv diskutiert und ich wäre auch sehr neugierig darauf zu wissen, was der Ethikrat sich dazu einfallen lässt.

>>> Anliegen von Zwischengeschlecht.org an den Deutschen Ethikrat 23.6.10
>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 22.6.10

>>> "Ethik als Feigenblatt?" - Zwischengeschlecht.org am "Forum Bioethik" 23.6.10
>>> Pressemitteilung des Deutschen Ethikrates vom 25.6.10
>>> Veranstaltung des Ethikrates in Berlin 23.6.10
>>> Intersexuelle Menschen e.V. kritisiert Untätigkeit des Ethikrates 
>>> Ethikrat: "Kein Handlungsbedarf" bei Genitalverstümmelung?!
>>> (Audio-)Protokolle --> zu unterst     >>> Beitrag von Konstanze Plett (mp3, 19,3MB)
--> Diskussion zum "Forum Bioethik" auf dem Hermaphroditforum
--> Bayerischer Rundfunk   --> Tagesspiegel   --> Deutschlandradio   --> e-politik 

Siehe auch:
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Amnesty: Zwangsoperationen "fundamentaler Verstoß" gegen körperliche Unversehrtheit
- Genitalverstümmelungen an Zwittern gleich schädlich wie weibliche Genitalverstümmelung - Terre des Femmes, 2004
- Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher Genitalverstümmelung (Hanny Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal", 2003)
- "Die Macht der Tabus" - Konstanze Plett über Genitalverstümmelung, amnesty journal 03/08
- Bundesregierung und Ethikrat: Genitalverstümmelungen an Zwitterkindern in Diskussion mit aufnehmen und handeln - Marion Böker
- Kinderkliniken: € 8175,12 Reingewinn pro Genitalverstümmelung
- "EuroDSD"-Chef Olaf Hiort: "Intersexuelle" nur ein Bruchteil aller chirurgischen Genitalverstümmelungen in deutschen Kinderkliniken
- Genitalverstümmler und Zwangsoperateure in Baden-Württemberg  
- Bremen: Genitalverstümmelungen im "Zentrum für Kinderheilkunde"
- USA: Seriengenitalverstümmler Prof. Dr. Dix Phillip Poppas von Ethikerinnen geoutet
- Genitale Zwangsoperationen: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit) 
- Weltweit größte Zwitter-Studie straft Bundesregierung Lügen!
- Kosmetische Genitaloperationen an Kindern: Gesetzgeber gefordert