Kosmetische Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen in Marburg? Aber wir doch nicht!

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1) In einem Artikel in der Oberhessischen Presse vom 14.4.12 stritten ein Kinderchirurg und eine Sprecherin des Unveritätsklinikums Marburg die Durchführung von kosmetischen Genitaloperationen rundheraus und pauschal ab (genauer Wortlaut siehe untenstehend).

Meine 2 Cent:

Ein Dementi von Seiten der Medizyner wie im vorliegenden Fall ist realistischerweise schon mal ein guter Anfang.

Vor allem, wenn das Dementi derart platt ausfällt wie vorliegend: Die Behauptung, "[i]n der Marburger Kinderklinik habe es bislang keine kosmetischen Genitaloperationen gegeben", ausser natürlich "Operationen an Kindern etwa an der Harnröhre […], wenn sie medizinisch notwendig sind und das Geschlecht bereits eindeutig fest steht", lässt sich etwa leicht widerlegen – genau so steht's verräterischerweise nämlich auch in der berüchtigten AWMF-Leitlinie 006/026 "Hypospadie" (PDF) (Evidenzstufe 1 = niedrigste), herausgegeben von der "Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH)", die – Überraschung! – unter "Indikation" ausdrücklich festhält:

"Indiziert ist die Korrektur […] bei distalen [= häufigsten] Formen auch aus ästhetisch-psychologischen Gründen."

"Hypospadiekorrekturen" werden aktuell im Universitätsklinikum Marburg gleich doppelt angeboten, nämlich – wie im Offenen Brief dokumentiert – in der Kinderurologie ebenso wie in der Neugeborenenchirurgie, plus noch einmal im Akademischen Lehrkrankenhhaus der Philipps-Universität Marburg in Fulda. Aber bestimmt werden diese kosmetischen Eingriffe für "unvollständige Knaben" dort überall nur angeboten, aber bei konkreter Nachfrage dann jedoch keinesfalls ausgeführt …

Ebenso hat wohl der (inzwischen nach Aachen weitergezogene) Chef-Urologe Prof. Dr. Axel Heidenreich während seiner Marburger Zeit nur so zum Spaß und ausschließlich theoretisch bei der sehr üblen AWMF-Leitlinie 043/029 "Störungen der sexuellen Differenzierung" mitgewirkt, die unter anderem fordert:

"Aus psychologischen Gründen sollte die kosmetische Korrektur des äußeren Genitale so früh wie möglich erfolgen, in der Regel innerhalb der ersten 6 Lebensmonate. Dabei wird das Schwellkörpergewebe der hypertrophierten Klitoris entfernt, das Gefäßnervenbündel und die Glans erhalten, um eine, vom Aspekt normale, sensible Klitoris zu bilden. Die kleinen Labien können aus der überschüssigen Haut der zuvor hypertrophierten Klitoris gebildet werden. […]

Hoden sollten, wenn möglich, in das Skrotum verlagert werden, ansonsten wegen des erhöhten Entartungsrisikos entfernt werden. Die weiteren Korrekturen richten sich nach den Gegebenheiten, beispielsweise kann ein Harnröhrenaufbau notwendig sein, wobei hier die Techniken wie bei Hypospadiekorrektur anzuwenden sind. Hat man sich von der Stimulierbarkeit des Peniswachstums überzeugt, sollten alle weiteren Korrekturen zu einem entsprechend frühen Zeitpunkt durchgeführt werden. […]

Alle Überlegungen zur Korrektur des intersexuellen Genitale beruhen bisher auf einem Konsens zwischen den beteiligten Medizinern und den Eltern. Aktuell werden gerade in Selbsthilfe-Gruppen Stimmen erwachsener Betroffener laut, die ein Hinauszögern der Entscheidung für die Geschlechtszugehörigkeit fordern. Die Betroffenen sollen so alt sein, daß sie selbst entscheiden können. Ein Leben als "Zwitter" bis zur Pubertät scheint aber psychologisch nicht weniger problematisch. […]"

Auch diese selbstverständlich ausschließlich und streng rein medizinisch notwendigen "Korrekturen" wurden in Marburg offenbar nur theoretisch abgesegnet, keinesfalls aber je praktiziert – ein Schelm, wer Böses dabei denkt … (Mehr zum angeblich pauschal "erhöhten Entartungsrisiko" von Bauchhoden siehe hier.)

Auch der seinerzeitige Marburger Oberarzt und Professor Dr. Hans Naujoks, von dem der Ethikrat bekanntlich verlauten ließ: "Als gesichert kann hingegen gelten, dass Hans Naujoks seit 1934 rassistisch motivierte medizinische Operationen an intersexuellen Menschen vorgenommen hat", kann getrost beiseite gelassen werden – schließlich operierte Naujoks in der Universitäts-Frauenklinik an minderjährigen Hermaphroditen, und nicht in der Kinderklinik.

Somit ist klar: In Marburg hat es an der Universitätsklinik bisher weder kosmetische Genitaloperationen an Kindern oder Jugendlichen gegeben, noch wird es dies jemals: "'Ganz klar, nein', sagt der Marburger Kinderchirurg Dr. Micha Bahr im Gespräch mit der OP." Und: "Auch Christine Bode, Pressesprecherin des UKGM, erklärte für das Klinikum, dass in Marburg und Gießen keine Kinder kosmetisch umoperiert werden." Was zu beweisen war, etc. pp.

Und nach all diesen "überzeugenden" Dementis wäre es nun vielleicht langsam an der Zeit, mal etwas genauer zu diskutieren, warum eigentlich "ästhetisch-psychologische Gründe" eben keine zwingend medizinischen Notwendigkeiten darstellen.

Und warum Überlebende solcher irreversiblen kosmetischen Genitaloperationen im Kindesalter seit bald zwei Jahrzehnten öffentlich dagegen protestieren und diese Eingriffe als "immens schädlich", menschenrechtswidrig und als "westliche Genitalverstümmelung" denunzieren.

Und dann könnte das Universitätsklinikum Marburg und die Philipps-Universität sich mal daran machen – wie im Antrag an den Senat gefordert – den Umfang, das Ausmaß und die Dauer der in Marburg praktizierten kosmetischen Genitaloperationen an Kindern aufzuarbeiten.

Damit es vielleicht dereinst einmal zu einer gesellschaftlichen Aussöhnung über "eines der dunkelsten Kapitel der Medizingeschichte" (Apotheken-Umschau, 1.6.11) kommen kann.

Immer schön einen Schritt nach dem anderen.

Auch wenn es für den einen oder anderen Medizyner oder sonstige Offiziellen nicht nur am Universitätsklinikum Marburg dazu wohl erst noch etwas mehr öffentlichen Druck braucht …

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