Landgericht Köln: Knabenbeschneidung ist "Körperverletzung" und verstösst gegen "Recht auf körperliche Unversehrtheit"

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"Die Grundrechte der Eltern aus Artikel 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG werden ihrerseits durch das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gemäß Artikel 2 Abs.1 und 2 Satz 1 GG begrenzt." (Urteil 151 Ns 169/11)

>>> Nachträge bis 4.7.12     >>> Das Urteil im Wortlaut    >>>  Urteil als PDF 

Ein weiterer "Blick über den eigenen Tellerrand hinaus":

Hände weg von Kindergenitalien!Laut einem >>> Artikel von gestern Abend in der Financial Times fällte das Landgericht Köln in 2. Instanz ein "wegweisendes Urteil": Das Gericht bewertete die Knabenbeschneidung als "schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit" und als "Körperverletzung", in welche Eltern für ihre Kinder nicht einwilligen dürfen. Zwar wurde der Arzt von Strafe verschont, weil er sich im "Verbotsirrtum" befunden habe, sprich nicht gewusst habe, dass Knabenbeschneidungen eigentlich verboten sind:

Über Jahrzehnte hatten Ärzte in Deutschland in einer juristischen Grauzone agiert, wenn sie Jungen aus rein religiösen Gründen beschnitten, ohne dass es eine medizinische Notwendigkeit gab. Bislang konnten sie sich jedoch darauf berufen, keine Kenntnis von der Strafbarkeit religiöser Beschneidungen gehabt zu haben. Selbst wenn ein Gericht den Einzelfall später als Körperverletzung anerkannte, musste der Arzt wegen des so genannten Verbotsirrtums freigesprochen werden. Mit dem Kölner Urteil fällt diese Möglichkeit nun weg.

In einem >>> heutigen Artikel in der Süddeutschen (mit interessanten weiteren Links) wird präzisiert:

Das Recht des Kindes auf Unversehrtheit überwiege in diesem Fall gegenüber dem Erziehungsrecht der Eltern und deren Grundrecht auf Religionsfreiheit.

Auf >>> Deutsch Türkische Nachrichten erschien heute nachmittag ein interessantes Interview mit dem Strafrechtler Holm Putzke, der (zusammen mit den Münchener Ärzten Maximilian Stehr und Hans-Georg Dietz) seit 4 Jahren öffentlich darlegt, Knabenbeschneidung sei juristisch nicht zulässig. Darin findet sich u.a. folgender bedeutsamer Wink:

Übrigens steht in Art. 24 Abs. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (kurz: „UN-Kinderrechtskonvention“), dass die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen treffen müssen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen. Nicht zuletzt deshalb sollte alles getan werden, um Kinder vor religiösen Beschneidungen zu bewahren.

Meine 2 Cent: Und das am selben Tag wie die bahnbrechende "Intersex"-Anhörung im Bundestag, und im selben Landgericht Köln, wo vor bald 5 Jahren der siegreiche "Zwitterprozess" von Christiane Völling und damit auch die aktuelle Zwitterbewegung ihren Anfang nahmen! Insbesondere auf den "Verbotsirrtum" werden sich früher oder später noch so manche GenitalverstümmlerInnen ebenfalls stürzen - wetten?! Nach der gestrigen Anhörung und diesem Urteil wird ihnen das allerdings je länger desto schwerer fallen ...

Nachträge (Stand 4.7.12):

Kommentar von Holm Putzke zum Urteil auf >>> Legal Tribune Online.

FAZ-Artikel mit sehr interessanten >>> Auszügen aus den Gerichtsurteilen inkl. Vorinstanz (Amtsgericht). und interessanten Kommentaren, z.B. dieser von Ulrich Hinderer (tiger_78) - 27.06.2012 16:17 Uhr:

Ich kenne zwei Männer, die offen über die Scham und Schmerzhaftigkeit des gegen ihren Willen vorgenommenen, religiös motivierten Eingriffes sprechen. Eine andauernde Desidentifikation mit ihrem "behandelten" Geschlechtsteil und ein starkes Ohnmachtsefühl, das wehrlose, von den vertrauten Eltern erzwungene Ausgeliefertsein an einen Fremden, wurde geschildert.

Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass dieser Eingriff auch aus "medizinischer Notwendigkeit" im Alter von sechs Jahren weder Vergnügungssteuerpflichtig ist noch dazu dient, Selbstvertrauen oder Körpergefühl zu verbessern. Das Gegenteil war bei mir der Fall. Auch unter Nennung rationaler Gründe sind die Schmerzen dieses Eingriffs sehr erniedrigend.

Stellen Sie sich vor, jemand betäubt Sie, schnippelt absichtlich an Ihrem besten Stück rum und Ihr Penis fühlt sich für die nächsten Wochen bei jeder Bewegung an, als hätten Sie Ihren Reißverschluss massiv fehlbedient und beim Pinkeln als hätte man ihn angezündet.

Interessante Kommentare in der >>> Süddeutschen und >>> FAZ.

Sowie ebd. ein >>> Artikel zu Widerständen aus organiserter Religion + Politik, mit lesenswerten Kommentaren zu allen Aspekten, inkl. diesem: "Welch seltene Front: Juden, Katholiken, Protestanten, Muslime, FDP, Grüne -alle an einem Strang" und diesem: "Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Volker Beck, Schwulenrechtler und menschenrechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, die Religionsfreiheit für wichtiger hält als die körperliche Unversehrtheit von Kindern." 

>>> Neues Deutschland mit folgendem Hinweis auf das BGB:

»Das Grundgesetz garantiert das Recht auf körperliche Unversehrtheit«, erläutert der Jurist Peter Stein, ein Familienrichter im Ruhestand, »wann dieses Recht eingeschränkt ist, ist ebenfalls genau festgelegt. Eine Einschränkung aus religiösen Gründen ist nicht vorgesehen. Nicht nur das: Vor einigen Jahren wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Gewalt ist, wenn ihnen Schmerzen zugefügt werden. Dieses Verbot ist absolut; es gibt keine Einschränkungen« Seiner Ansicht nach tun Ärzte deshalb gut daran, alles sein zu lassen, wofür es keine medizinischen Gründe gibt: »Im Urteil dreht es sich natürlich zunächst nur um die Beschneidung. Doch seine Begründung ist auch auf alles andere anwendbar - auch auf das Stechen von Ohrlöchern und was Eltern sonst noch so einfällt.«

Weiterer >>> FAZ-Artikel mit verräterischem Pro-Beschneidungsargument (und prompter Replik in den Kommentaren):

Man könne diese jahrtausendealte Tradition nicht aufgeben. Juristisch möge das Kölner Urteil mit seiner Berufung auf das im Grundgesetz garantierte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit womöglich eine gewisse Fundiertheit besitzen, doch: „Das Leben besteht nicht nur aus Juristerei.“ Mit der Lebenswirklichkeit habe dieser Richterspruch wenig zu tun. Korn wies darauf hin, dass aller medizinischen Erkenntnis zufolge das Schmerzempfinden von Babys in den ersten drei Lebensmonaten kaum ausgeprägt sei. Die Kinder würden also unter dem Eingriff nicht leiden.

>>> Der Tagesspiegel sieht "verheerende praktische Auswirkungen, die ein generelles Beschneidungsverbot hätte" – nämlich: "Beschneidungs-Tourismus in Nachbarländer" (so ein Zwischentitel) bzw. aus religiösen Gründen beschneidungswillige Eltern "könnten in die Illegalität gedrängt werden oder müssten künftig die Mühsal eines Beschneidungs-Tourismus in ein Nachbarland auf sich nehmen". (Hm, wo hatten wir dieses "Argument" bloss schon mal? Ach, richtig, hier.)

>>> Auch der Chirurg Martin Büsing haut auf >>> wdr.de prompt in die altbekannte "Tourismus"-Kerbe. Auch er sollte vielleicht mal die Kommentare zum Artikel lesen ...

Der Kinderschutzbund BW befürwortet den Entscheid laut >>> dieser Agenturmeldung.

Dito Terre des Femmes laut >>> scharf-links.de und >>> taz.

Interessanter Exkurs in einem Pro-Beschneidungsinterview des Vize-Präsidenten der Berliner Zwitterverstümmler-Uni FU, dem Theologen und Philosphen Michael Bongardt in >>>  Cicero (auch hier: sehr elsenswerte Kommentare!):

"Es gibt derzeit eine in einem ähnlichen Bereich angesiedelte Diskussion um Kinder, deren Geschlecht nicht eindeutig zu bestimmen ist und die Frage, ob Eltern das Recht haben, das Geschlecht zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch einen medizinischen Eingriff festzulegen zu lassen. Ein solcher Eingriff hat eine völlig andere Massivität als eine Beschneidung! Da sage ich sofort: Wenn nicht zwingend medizinische Gründe dafür sprechen, sollte er verboten werden. Denn das ist eine Festlegung, die das Kind in einer nicht mehr zu rechtfertigen Weise in seiner weiteren Entwicklung beeinflusst."

Hochinteressanter Post von Oliver Tolmein mit einem internationalen Überblick zum Thema auf seinem >>> FAZ-Blog Bioethik.

Bemerkenswerter Kommentar auf >>> nachrichten.ch, der auch "Intersex"-Verstümmelungen anspricht und mit dem Titel "Hände weg von kindlichen Sexualorganen!".

>>> Das Urteil im Wortlaut (PDF)  

>>> UPDATE: Bevölkerung für Verbot - Bundesregierung will legalisieren - Petition für Verbot

>>> Zwitter-Genitalverstümmelungen: Diskriminierung oder Verbrechen? 
>>>
»Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wird mit Füßen getreten« 
>>> Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (körperliche Unversehrtheit)