Intersex: Bundesregierung angeblich "keine Meinung" zu Genitalverstümmelungen, 10-Jährige für Aufbewahrung ihrer Krankenakten selbst verantwortlich

'Genitalverstümmelungen stoppen!' - Aktion von Zwischengeschlecht.orgFriedliche Aktion vor der Ethikrat-Pressekonferenz, 23.2.12 (Bild: © dapd / sueddeutsche.de)

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1)

Zwischengeschlecht.org on Facebook Wenn's um Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen geht, verhält sich die Bundesregierung bekanntlich seit mittlerweile 17 Jahren stets so, wie wir das von hartgesottene Kriminellen aus Filmen kennen, wenn diese im Verhör oder vor Gericht stets zu Protokoll geben: "Nichts gesehen, nichts gewusst, nichts gehört, kenne niemand, die andern waren's, usw." – und falls zwischendurch doch mal etwas eingestanden wird, dann ausschliesslich und nur das, was einem unmittelbar vorher eindeutig nachgewiesen wurde. Damit macht sich die Bundesregierung seit 17 Jahren zur Komplizin der MedizynerInnen. Wobei es bezeichnenderweise keine Rolle spielt, welche Koalition gerade an der Macht ist.

Dies zeigt sich deutlich einmal mehr in der >>> Antwort Drucks. 17/11855 (PDF) im Namen der Bundesregierung (verfasst vom Bundesministerium für Gesundheit) auf die Kleine Anfrage 17/11624 der Grünen/Bündnis 90 (UnterzeichnerInnen: Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Monika Lazar, Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Sven-Christian Kindler, Dr. Konstantin von Notz, Josef Philip Winkler), ebenso in der dazugehörigen >>> Pressemitteilung.

Leider muss vorab angemerkt werden, dass schon die Anfrage die Richtung vorgab: Statt Klartext zu bringen über die medizynischen Verbrechen an Zwittern, geht es um "Verbesserung der medizinischen Betreuung", statt um Recht auf körperliche Unversehrtheit auch für Menschen mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen mal wieder genderfixiert-schwammig um "Menschen, die weder eindeutig dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können" – bei den notorisch täterInnenfreundlichen Grünen leider nix neues.

Die Bundesregierung nutzt diese Steilvorlage in der Folge gerne für Persilscheine in eigener Sache: "insbesondere die medizinische Versorgung" sei Ländersache (S. 2 usw.) – und verweist ansonsten widersprüchlicherweise auf die vom Bund (mit-)finanzierte TäterInnenforschung von "Netzwerk Intersexualität/DSD" ("Eine bundesweite Erfassung von Behandlungszentren bestimmter Erkrankungsgruppen gibt es nicht. Ausgehend von einem in der Vergangenheit durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts „Störungen der somatosexuellen Differenzierung und Intersexualität“ wurde jedoch Expertise an den Standorten Lübeck, Magdeburg, Heidelberg, Kiel, Münster und Berlin gebündelt.", S. 3) bis "EuroDSD" ("das Projekt EURODSD (Investigation of the molecular pathogenesis and pathophysiology of Disorders of Sex Development – DSD), das eine zentrale Forschungsdatenbank beinhaltet", S. 8). 

Ansonsten liefert die Bundesregierung insbesondere zu den Genitalverstümmelungen wie gehabt bloss unverbindliches Wortgeklingel à la:

Die Bundesregierung stimmt mit dem Deutschen Ethikrat überein, dass es sich bei der Entscheidung über die Vornahme eines operativen nicht reversiblen Eingriffs, der die (zukünftige) Fortpflanzungsfähigkeit und/oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit möglicherweise irreversibel beeinträchtigt, um eine schwerwiegende Entscheidung handelt, die einen gravierenden Eingriff in die Rechte des Kindes darstellt und auf die gesamte weitere Entwicklung des Kindes bleibenden Einfluss hat. Auch nach Auffassung der Bundesregierung muss deshalb der Wille des Kindes, wenn dieses selbst nicht einwilligungsfähig ist und die Entscheidung daher von den Sorgeberechtigten getroffen werden muss, angemessen berücksichtigt werden. (S. 5)

In der Sache selbst bzw. wenn die Bundesregierung konkret werden müsste, kommen dann – Überraschung! – bloss die altbekannten Ausflüchte bzw. man hat mal wieder "noch keine Meinung":

Die Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung zu diesen Fragen ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass die medizinische Diskussion zur Intersexualität noch im Fluss ist und auch die juristische Debatte noch am Anfang steht, noch nicht abgeschlossen. (S. 5)

Dito betreffend Entschädigung für Verstümmelte (Pardon: "Geschlechtszugewiesene oder Geschlechtsangeglichene"):

Die Prüfung der Empfehlungen des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität durch die Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen. Dazu gehört auch die Prüfung von Entschädigungsregelungen für Langzeit- und Spätfolgen einer frühkindlichen operativen Geschlechtszuweisung oder Geschlechtsangleichung. Dabei werden die Ergebnisse der Anhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages zu Intersexualität vom 25. Juni 2012 einbezogen. (S. 7)

Auf welcher Seite die Bundesregierung steht, nämlich derjenigen der TäterInnen und NICHT der Opfer, verdeutlicht dagegen ihr Standpunkt betreffend Aktenaufbewahrungsfristen – dort hat sie dann plötzlich eine "Meinung":

Eine besondere Regelung für die Aufbewahrung der Dokumentationen über Behandlungen von intersexuellen Menschen ist nicht geplant. [...] Im Übrigen können betroffene Patientinnen und Patienten von ihrem Anspruch auf Einsichtnahme in die Dokumentation und Herausgabe von Kopien dieser Dokumentation (§ 630g BGB) Gebrauch machen. Auf diese Weise können mündige Patientinnen und Patienten eine zeitlich unbegrenzte Aufbewahrung der Dokumentation ihrer Patientenakte sicherstellen. (S. 6)

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die meisten Betroffenen im Alter von 0-3 Jahren und ohne medizinische Notwendigkeit kosmetisch genitalverstümmelt werden, und z.B. bei sog. "Hypospadiekorrekturen", dem häufigsten kosmetischen Genitaleingriff bei Kindern, die Operation ebenfalls vor dem 3. Lebensjahr emfohlen wird und die Anschlussuntersuchung 2 Jahre später angesetzt wird (nicht zuletzt, um die chronisch hohen Komplikationsraten, die oft erst später auftreten, "niedrig" zu halten), wird schnell klar, worum es der Bundesregierung (und den TäterInnen) wirklich geht.

Kommt dazu, dass die meisten Betroffenen stark traumatisiert sind und in der Regel erst im Alter von 30-40 Jahren das ihnen Angetane soweit verarbeitet haben, dass es ihnen möglich wird, Nachforschungen anzustellen.

So ist es alles andere als verwunderlich, dass die wenigsten Betroffenen je ihre Akten erhalten – und es nach dem Willen von TäterInnen ud PolitikerInnen auch künftig so bleiben soll. Nicht zuletzt jetzt, wo die Forderung nach Entschädigung langsam lauter wird (siehe oben)  ...

Auffällig zudem, wie schnell die Bundesregierung eine Meinung hat, wenn es darum geht, TäterInnen zu schützen (vgl. Knabenbeschneidung) – und wie lange sie sich damit zurückhält, wenn es um die Opfer geht (siehe oben und auch sonst bei Gewalt an Kindern) ...

>>> Faule Eier für "die Bundesregierung"!
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Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> "Aufarbeitung tut not!" Unis, Klitorisamputationen u. a. "Genitalkorrekturen"