"Wir lassen uns nicht über den runden Tisch ziehen" - vom Mut und dem Gerechtigkeitssinn der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen lernen (3)

FrançaisEnglishVerein Zwischengeschlecht.orgSpendenMitglied werdenAktivitäten

Ein weiterer "Blick über den eigenen Tellerrand hinaus":

Begonnen hatte es mit einem kritischen Artikel im >>> SonntagsBlick v. 5.5., in welchem der Präsident der von netzwerk-verdingt.ch kein Blatt vor den Mund nahm – unter expliziten Verweis auf den Beschiss beim "Runden Tisch Heimerziehung" in Deutschland (vgl. ebenso >>> tages-anzeiger.ch):

«Wir setzen uns nicht an den runden Tisch», sagt Vereinspräsident [Walter] Zwahlen. Die Gruppe sei zu gross. Er nennt sie ein «untaugliches, parteipolitisch inspiriertes Konstrukt». Es brauche «eine Expertenrunde statt reaktionäre, ewiggestrige Kräfte, Bremser und Profiteure.»

Zwahlen befürchtet ein ähnliches Szenario wie beim runden Tisch für Heimkinder in Deutschland: «Dort wurden die Betroffenen über den Tisch gezogen und mit kläglichen 190 Millionen Euro abgespeist.» Stoisch weigerten sich Bund wie Bauern, die Leistung der Verdingkinder aufzurechnen. «Ist diese Zahl einmal ausgesprochen, lassen sich Reparationszahlungen kaum vermeiden», so Zwahlen.

Der wirtschaftliche Wert der Kinderarbeit ist bekannt. Ein Ökonom der UBS kalkulierte ihn im Herbst 2011 für SonntagsBlick. Demnach hatte die Schweizer Landwirtschaft kostenlose Leistungen von mindestens 20 Milliarden Franken erhalten. Umrechnet auf den heutigen Geldwert entspricht das einem Betrag von 120'000 Franken pro Person.

Bei 10'000 noch lebenden Verdingkindern beträgt die Schuld 1,2 Milliarden Franken. Wobei nur Saläre, nicht aber erlittenes Unrecht berücksichtigt sind. «Total stehen uns vier Milliarden Franken zu», sagt [Hugo Zingg, ehemaliges Verdingkind].

Mitlerweile ist laut >>> Tages-Anzeiger v. 7.5. (Paywall) bereits der 2. designierte Betroffenenvertreter ausgestiegen:

Nach Zwahlen entschied gestern überraschend auch [Sergio Devecchi, ehemaliges Heimkind, half bei der Vorbereitung des Gedenkanlasses vom 11. April], nicht am runden Tisch teilzunehmen. Wie er in einem Mail an [Alt-Ständerat Hansruedi Stadler, Delegierter für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen] sowie alle Mitglieder der Vorbereitungsgruppe für den Gedenkanlass schreibt, stört er sich daran, dass Justizministerin Sommaruga «den entscheidenden Schritt» nicht tun wolle – «nämlich die Trägerschaft, das heisst die volle Verantwortung für den runden Tisch, zu übernehmen». Sie – und nicht der Delegierte des Bundesrats, also Stadler – müsse den runden Tisch «bundesrätlich und offiziell» einrichten und «ihm in Form eines Pflichtenheftes einen klaren Auftrag mit Zeithorizont» erteilen.

Mit "Experten", die am runden Tisch nicht vorgesehen seien, mag netzwerk-verdingt-Vereinspräsident Zwahlen etwa an den ausgewiesenen >>> Historiker Thomas Huonker gedacht haben, Verfasser mehrerer Bücher zu relevanten Theman, darunter das herausragende >>> "Diagnose: 'moralisch defekt'. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970" (PDF, 294 MB).

In einem aktuellen >>> Interview auf tages-anzeiger.ch v. 7.5. diskutiert Huonker die Entschädigungsfrage, verweist dabei auf "übergeordnete rechtliche Grundsätze. Zum Beispiel, dass geschehenes Unrecht gesühnt werden muss" sowie auf das Versagen der Opferhilfe-Organisationen.

Siehe auch:
- Gewalt und Pharma-Experimente in CH-Kinderheimen: Aufarbeitung gefordert (1)
- Opfer von CH-Zwangsmassnahmen: Entschuldigung, aber keine Entschädigung (2)
- Vom Mut und den Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder lernen 
- "Runder Tisch Heimerziehung": Betroffene zum 2. Mal gedemütigt und erpresst
- "Als wären wir zur Strafe hier" + "Runder Tisch Heimerziehung" fest in TäterInnenhand
- Alle Posts zu "Blick über den eigenen Tellerrand hinaus"