Zum heutigen "Welttag der genitalen Selbstbestimmung" – Intersex-Genitalverstümmelungen nicht vergessen!
By seelenlos on Tuesday, May 7 2013, 06:53 - Forderungen - Permalink
Aktion von Zwischengeschlecht.org, 6.2.2011 (Bild: NZZ Format)
Nachtrag: Wir erhielten umgehend positive Rückmeldungen u.a. von den Veranstaltern des "Welttags" MOGiS e.V., die uns hoffen lassen, nächstes Jahr werde es klappen! Danke!
Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 07.05.2013:
Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org begrüßt die Einführung des "Welttags der genitalen Selbstbestimmung" ("World Wide Day of Genital Autonomy"), der heute zum ersten Mal begangen wird mit dem erklärten Ziel, "den Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität" voranzutreiben, und unterstützt dieses Ziel ausdrücklich.
Der "Welttag der genitalen Selbstbestimmung" bezieht sich im Namen auf die Organisation "Genital Autonomy", die seit Jahren nebst "Beschneidung" von Mädchen und Jungen explizit auch kosmetische Genitaloperationen an Intersex-Kindern verurteilt, und beruft sich auf die "Helsinki-Deklaration 2012", die mit ihrer bewusst offen gehaltenen Forderung nach "Schutz vor medizinisch nicht notwendiger genitaler Veränderung und vor anderen unumkehrbaren Eingriffen in die Fortpflanzungsorgane" bewusst auch Intersex-Genitalverstümmelungen mit einschließt, wie sie auch in Deutschland heute noch täglich in Kinderkliniken stattfinden.
Leider beschränken sich die konkreten Forderungen der heutigen Demonstration in Köln zum ersten "Welttag" auf medizinisch nicht notwendige "Genitalkorrekturen" an Jungen und Mädchen – Intersex-Genitalverstümmelungen werden nirgends konkret erwähnt, noch wurden Intersex-Betroffenenorganisationen informiert oder eingeladen.
Zwischengeschlecht.org bedauert dies und ruft die beteiligten Organisationen dazu auf, künftig auch Intersex-Genitalverstümmelungen angemessen zu berücksichtigen, und insbesondere die langjährige Hauptforderung der Betroffenen nach einem gesetzlichen Verbot von medizinisch nicht notwendigen, kosmetischen Genitaloperationen an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen aktiv zu unterstützen!
Umso mehr, als übernächsten Donnerstag 16.05.2013 im Bundestag drei konkrete Anträge beraten werden, die explizit ein Verbot von Intersex-Genitalverstümmelungen fordern und von Zwischengeschlecht.org und weiteren Betroffenenverbänden ausdrücklich befürwortet werden (17/13253, 17/12851 und 17/12859).
Zwischengeschlecht.org möchte deshalb zum heutigen "World Wide Day of Genital Autonomy" öffentlich daran erinnern:
- Bis in die 1980er-Jahre wurde bei Intersex-Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken tausenden und abertausenden wehrlosen Kindern eine "zu große Klitoris" kurzerhand amputiert oder gar "ausgekernt". Verantwortliche Mediziner behaupteten dazu international bis in die 1990er-Jahre "die Orgasmusfähigkeit leidet unter der Klitorisentfernung nicht" (Prof. Jürgen Bierich), und stellten diese Eingriffe zum Teil selbst explizit in eine Reihe mit "Knabenbeschneidung sowie Beschneidung von Mädchen bei afrikanischen Naturvölkern" (Dissertation Dr. med. Hans Martin Wisseler).
- Noch bevor das Landgericht Köln sein Aufsehen erregendes Urteil zur Knabenbeschneidung sprach, war es Schauplatz der weltweit ersten (und immer noch einzigen) Verurteilung eines Intersex-Genitalverstümmlers: 2008 verurteilte es einen Kinderchirurgen und sprach der Betroffenen Christiane Völling im "Zwitter-Prozess" 100'000 Euro Schadenersatz zu. Das vom Verurteilten angerufene OLG Köln bestätigte, dass der Chirurg die Geschädigte Christiane Völling "schuldhaft in ihrer Gesundheit und ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzt" hatte. Für eine strafrechtliche Beurteilung der uneingewilligten "Genitalkorrektur" war es leider auch bei Christiane Völling wegen der Verjährung längst zu spät, bisher scheiterten auch alle weiteren Versuche von Betroffenen, ihre Peiniger gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen, ausnahmslos an den zu viel kurzen Verjährungsfristen.
- Obwohl heute in den Kinderkliniken sog. "nervschonend" verstümmelt wird, klagen Betroffene unverändert über Verminderung oder Zerstörung der sexuellen Empfindungsfähigkeit und unterstreichen lebenslange Traumatisierungen – Klagen, die wieder und wieder durch wissenschaftliche Erhebungen bestätigt wurden.
- Im März 2013 verurteilte der UN-Sonderberichterstatter über Folter ausdrücklich "genital-normalisierende Zwangsoperationen" und "Sterilisierung" an "Kinder[n], die mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen" und forderte gesetzgeberische Maßnahmen (A/HRC/22/53). Schon das UN-Komitee gegen Folter (CAT) hatte die Bundesrepublik 2012 unmissverständlich dazu aufgefordert, Intersex-Genitalverstümmelungen aufzuarbeiten und Betroffene zu entschädigen.
- Überlebende von kosmetischen Intersex-Genitaloperationen im Kindesalter bezeichnen diese seit bald 20 Jahren öffentlich als "westliche Form der Genitalverstümmelung" – ein Einschätzung, die mittlerweile international von FGM-ExpertInnen und Menschenrechtsorganisationen geteilt wird (z.B. Terre des Femmes, Amnesty Schweiz und Amnesty Deutschland).
- Bis heute weigern sich die beteiligten Universitäten und Ärztegesellschaften, dieses Unrecht nur schon anzuerkennen, geschweige denn öffentlich aufzuarbeiten oder nur schon endlich mit den heutigen Verstümmelungen aufzuhören. Auch die Bundesregierung verleugnet seit 17 Jahren die Leiden der Betroffenen entweder rundheraus (1996-2010) oder hat dazu noch immer "keine Meinung" (2011-2013). Der Berliner Senat, der Hamburger Senat und der Bremer Gesundheitsminister leugnen die täglichen Verstümmelungen in ihren Kinderkliniken rundheraus bis heute – ohne deshalb nur schon öffentlich zur Rede gestellt zu werden.
Gleichzeitig möchten wir im Namen der Überlebenden von Intersex-"Genitalkorrekturen" die zur heutigen Demonstration in Köln aufrufenden Organisationen respektvoll zu kritischer Selbstreflektierung auffordern:
- Mit dem "Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)" ist am "Welttag" auch eine MedizinerInnen-Standesorganisation prominent beteiligt, die zwar bezüglich kosmetischen Genitaloperationen an Knaben und Mädchen fortschrittliche Positionen vertritt, jedoch gleichzeitig kosmetische "Genitalkorrekturen" an Kindern mit "atypischen Genitalien" bisher unbeirrt weiterpropagiert und -praktiziert:
So fordert BVKJ-Mitglied "Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)" z.B. kosmetische "Klitorisverkleinerungen", und "Vaginalerweiterungen" an wehrlosen Kleinkindern "in Deutschland im ersten Lebensjahr" (AWMF-Leitlinie 027/047 "Adrenogenitales Syndrom", vgl. ebenso AWMF-Leitlinie 027/022 "Störungen der Geschlechtsentwicklung").
Und Mitglieder der beim BVKJ angeschlossenen "Vereinigung Leitender Kinderärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD)" propagieren und praktizieren komplikationsträchtige kosmetische "Hypospadiekorrekturen" an wehrlosen Kleinkindern explizit "auch aus ästhetisch-psychologischen Gründen" (AWMF-Leitlinie 006/026 "Hypospadie").
Dies in der Hoffnung, dass in Zukunft beim "Welttag der genitalen Selbstbestimmung" auch Betroffene von uneingewilligten Intersex-"Genitalkorrekturen" sich nicht länger nur "mitgemeint" oder gar ausgeschlossen fühlen müssen, und der "Welttag" dadurch seinem Ziel "Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität" noch besser gerecht werden möge. Gerne würde Zwischengeschlecht.org dazu einen praktischen Beitrag leisten.
Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org fordert ein Verbot von kosmetischen Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen sowie "Menschenrechte auch für Zwitter!".
Betroffene sollen später selber darüber entscheiden, ob sie Operationen wollen oder nicht, und wenn ja, welche.
Freundliche Grüße
n e l l a
Daniela Truffer
Gründungsmitglied Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org
Mobile +41 (0) 76 398 06 50
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