Niedersachsen: Unterstützung für Intersex-Selbsthilfe - wann kommen Offenlegung, Aufarbeitung und Monitoring der Verstümmelungen?

Protest gegen Genitalabschneider-Kongress "APE-AGPD 2010", Augsburg 5.11.

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Am 1. niedersächsischen Fachtag "Intersexualität" gab's gute Neuigkeiten: Das Bundesland wird – als allererstes in Deutschland – die Selbsthilfe mit vorerst 40'000 Euro finanziell unterstützen. Ähnliches gab es bisher nur in Holland, wo die Selbsthilfe noch großzügiger auf Bundesebene unterstützt wird. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Beispiel vermehrt Schule machen wird.

Emanzipatorische, von erwachsenen Betroffenen geführte Selbsthilfegruppen mit angegliederten oder assoziierten Elterngruppen können (im Gegensatz zu medizynerdominierten und -finanzierten "Eltern und Patienteninitiativen"!) einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Eltern von vorschneller Einwilligung zu medizinisch nicht notwendigen, irreversiblen kosmetischen Genitaloperationen an ihren gesunden Kindern zu schützen. Staatliche Unterstützung emanzipatorischer Selbsthilfegruppen ist längst überfällig und ein erster wichtiger Schritt. Solange jedoch nicht gleichzeitig auch konkret etwas getan wird, künftige Verstümmelungen in den Kinderkliniken zu unterbinden, wird ein solcher erster Schritt diesbezüglich nicht viel mehr als nachträgliche Pflästerchenpolitik bleiben.

Niedersachsen: Bis zu 100 Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM) jährlich!

Um Intersex-Verstümmelungen – abgesehen von einem bundesweiten gesetzlichen Verbot – konkret zumindest einzudämmen, fordern Betroffenenverbände bei allen, die überhaupt wollen, seit Jahr und Tag:
Offenlegung von Statistiken der Verstümmelungen (inkl. Kosten),
kontinuierliches Monitoring durch unabhängige Dritte unter Mitwirkung von Betroffenenorgansiationen,
historische Aufarbeitung inkl. Verbindungen zur NS-Medizyn.

Umso erfreulicher, dass am Fachtag im Workshop 3 "Menschenrechte" der weitere Handlungsbedarf als 1. Punkt genau so konkretisiert wurde unter den Stichworten "Datenerfassung und Monitoring", und dass Sozialministerin Cornelia Rundt in ihrer Einführungsrede auch explizit die Verbindungen zur NS-Zeit ansprach (vgl. Liveblog). Allerdings konnte der Beauftragte der Ministerin, Hans Hengelein, auf Anfrage wegen Überlastung keine konkreten Zeiträume nennen, wann ein solches Monitoring implementiert würde.

Eine Erfassung und Offenlegung ALLER kosmetischen Genitaloperationen an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen wäre umso wichtiger, weil sich so schnell zeigen würde, dass die am Fachtag genannten Zahlen (30 betroffene Kinder pro Jahr in Niedersachsen, davon jedoch nur 14 bei Geburt aufgrund eines "uneindeutigen Genitales" erkannt) alles andere als die Realität der konkreten, verstümmelnden Eingriffe im Bundesland wiedergeben.

Intersex: Ohne Aufarbeitung, Keine Aussöhnung

Laut weisse-liste.de (PDF) werden aktuell allein in Hannover im Kinderkrankenhaus Auf der Bult jährlich 42 "vermännlichende" kosmetische "Hypospadiekorrekturen" an gesunden Kindern durchgeführt, sowie 32 in der Kinderchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Und laut Qualitätsbericht 2008 (PDF, S. 391) allein in  Göttingen weitere 26 "Hypospadiekorrekturen".

Weitere niedersächsische Kliniken, die kosmetische Genital-OPs an Kindern mit "atypischen Genitalien" anbieten und praktizieren, stehen u.a. in Bochum, Celle, Hildesheim, Osnabrück und Wolfsburg.

Somit würde durch Offenlegung und Monitoring kosmetischer Eingriffe an betroffenen Kindern schon auf den 1. Blick klar, dass die immer noch oft genannte Medizyner-Vertuschungsschätzung "1 Intersex-Kind auf 2000 Neugeborene", auf welcher auch die am Fachtag genannten Zahlen basieren, kein Indikator für in den Kinderkliniken insgesamt praktizierte Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM) sein können (was Betroffenenverbände seit Jahrzehnten kritisieren – ISNA rechnete mit 1-2 IGM pro 1000 Neugeborene –, und auch die VerstümmlerInnen selbst immer mal wieder unumwunden einräumen).

Kommt dazu, dass bei kosmetischen "verweiblichenden" Intersex-Genitalverstümmelungen (u.a. "Klitorisreduktionen" und "Vaginalplastiken") wegen unpräziser Erfassung in den OPS-Prozedurnummern keine präzisen Fallzahlen abgeleitet werden können (und diese in den Qualitätsberichten gar nicht angegeben sind, da dort oft nur die 10 häufigsten Eingriffe auftauchen), so dass bisher wenn überhaupt, dann nur aufgrund von parlamentarischen Anfragen begrenzt konkrete Zahlen publik werden. Dito bei Kastrationen/"Gonadektomien"/Hysterektomien"/(Sekundären) Sterilisierungen.

Kaum je öffentlich bekannt werden bisher Zahlen für selektive (Spät-)Abtreibungen bei pränataler Intersex-Diagnose sowie bei pränatalen Dexamethason-"Therapien" bei Verdacht auf AGS/CAH – letztere werden bekanntlich oft nicht mal der "zentraln Meldestelle" rapportiert.

Umso wichtiger, dass (nicht nur) in Niedersachsen der Ruf nach Offenlegung, Aufarbeitung und Monitoring der andauernden Intersex-Genitalverstümmelungen und weiteren Zwangsbehandlungen nicht vorschnell wieder verstummt, sondern stetig lauter wird! Weil "von selbst" wird sich leider weder in Niedersachsen noch sonstwo so schnell etwas an der Tatsache der täglichen menschenrechtswidrigen Genitalverstümmelungen von wehrlosen Kindern mit "atypischen Genitalien" etwas ändern ...

>>> LIVEBLOG 1. Niedersächsischer Fachtag "Intersexualität", Hannover 14.01.2014 
>>> Pressespiegel 1. Niedersächsischer Intersex-Fachtag 

>>> Hannover, Ort von Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM)
>>> Göttingen, Ort von Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM)
>>> Bochum, Ort von Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM)

>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen 

>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben