"Intersex-Genitalverstümmelungen endlich verbieten!" Offener Brief an Schweizer Regierung zum Tag der Menschenrechte 2015

Foto: Friedlicher Protest + Offener Brief zum Tag der Menschenrechte, Bern 10.12.2015

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Intersex-Genitalverstümmelungen endlich verbieten!
Offener Brief der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org

im Namen von Betroffenen, Partnern, Familien, Freunden, Unterstützer_innen

Bern, 10. Dezember 2015

Sehr geehrter Bundesrat
Sehr geehrter Nationalrat
Sehr geehrter Ständerat

Zum heutigen Tag der Menschenrechte möchten wir unsere tiefe Besorgnis darüber ausdrücken, dass die Schweiz immer noch keine Vorkehrungen getroffen hat zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vor nicht-eingewilligten, medizinisch nicht notwendigen, irreversiblen, kosmetischen Genitaloperationen, sterilisierenden Eingriffen, Aufzwingung von Hormonen und weiteren menschenrechtswidrigen Behandlungen. [1]

Schon vor drei Jahren hatte die Nationale Ethikkommission NEK-CNE im Auftrag des Bundesrates diesbezüglich unter anderem empfohlen, zivilrechtliche Haftungsfolgen, Verjährungsfristen sowie die Anwendbarkeit von Art. 122f. StGB und Art. 124 StGB juristisch zu überprüfen (Stellungnahme Nr. 20/2012).

Letzten Februar stufte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (CRC) IGM als "schädliche Praxis" ein, drückte tiefe Besorgnis über den "Mangel an Rechtszugang und Entschädigung" aus und empfahl der Schweiz unter Bezug auf NEK-CNE "körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Selbstbestimmung für betroffene Kinder zu garantieren" (CRC/C/CHE/CO/2-4).

Und im August dieses Jahres empfahl der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT), der IGM-Praktiken seit Jahren als "unmenschliche Behandlung" einstuft, die unter das Folter- und Misshandlungsverbot fällt, der Schweiz ebenfalls unter Bezug auf NEK-CNE unter anderem "gesetzgeberische, administrative und andere notwendige Massnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung der körperlichen Unversehrtheit von Intersex-Menschen zu gewährleisten", sowie "Wiedergutmachung für alle Opfer, inklusive angemessene Entschädigung" (CAT/C/CHE/CO/7).

Insbesondere für betroffene Menschen ist es unerträglich, dass auch drei Jahre nach der Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission hauptsächlich in Universitätskliniken immer noch Woche für Woche weitere wehrlose Intersex-Kinder irreversibel verstümmelt werden, während der Gesetzgeber untätig zuschaut.

Wir begrüssten daher sehr, dass die Schweiz Anfang Jahr gegenüber dem Kinderrechtsausschuss ankündigte, dass das Bundesamt für Statistik zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit wenigstens einen Plan zur Datenerfassung von IGM-Praktiken entwickelt. [2] Sowie im Sommer gegenüber dem Ausschuss gegen Folter, dass der Bundesrat noch dieses Jahr einen Plan zur Umsetzung der NEK-Empfehlungen vorstellen will (vgl. CAT/C/CHE/CO/7).

Leider war es uns bisher trotz mehrmaliger Rücksprache nicht möglich zu erfahren, wer bei BFS und BAG für den erwähnten Plan zur Datenerfassung zuständig wäre. Umso gespannter erwarten wir die baldige Veröffentlichung des angekündigten Plans zur Umsetzung der NEK-Empfehlungen durch den Bundesrat.

Wir hoffen sehr, dass dieser Plan endlich auch die zentralen Hauptforderungen der Betroffenen sowie zahlreicher Sachverständiger zielstrebig angehen wird, einschliesslich

  • strafrechtliches Verbot von nicht-eingewilligten chirurgischen "Genitalkorrekturen", sterilisierenden Eingriffen und weiteren unnötigen medizinischen Behandlungen an Kindern und Jugendlichen mit Varianten der Geschlechtsanatomie (einschliesslich AGS und Hypospadie) (vgl. NEK, CRC, CAT)
  • Anpassung der zivil- und strafrechtlichen Verjährungsfristen, um künftigen erwachsenen Betroffenen wirksamen Zugang zu Justiz und Wiedergutmachung zu ermöglichen, wie zum Beispiel bei weiblicher Genitalverstümmelung oder sexueller Gewalt gegen Kinder (vgl. NEK, CRC, CAT)
  • Schaffung einer unabhängigen Drittinstanz (zum Beispiel ein Gericht oder eine Behörde), die bei Eingriffen an Kindern oder Jugendlichen sicherstellt, dass entweder eine zwingende medizinische Indikation vorliegt, oder dass die betroffene Person für den betreffenden Eingriff vollumfänglich einwilligungsfähig ist und freiwillig informiert zustimmt [3]
  • Gewährleistung eines kostenlosen, psychosozialen Unterstützungsangebots für Eltern, Betroffene und ihre Familien, einschliesslich Zugang zu Peer Support (vgl. NEK, CRC, CAT)
  • öffentliche Anerkennung des angetanen Leids, Aufarbeitung der vergangenen Praxis, Wiedergutmachung für Überlebende, gesellschaftliche Aussöhnung (vgl. NEK, CAT)
  • angemessene Konsultation der Betroffenen und ihrer Organisationen

Besten Dank für Ihre Erwägung.

Freundliche Grüsse

Daniela Truffer, Markus Bauer
Gründungsmitglieder Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org
Postfach 2122, CH-8031 Zürich
info_at_zwischengeschlecht.org

Fussnoten

[1] Vgl. Zwischengeschlecht.org, Intersex.ch, SI Selbsthilfe Intersexualität: Thematischer NGO-Bericht an UN-CRC (2014), http://intersex.shadowreport.org/public/2014-CRC-Swiss-NGO-Zwischengeschlecht-Intersex-IGM_v2.pdf

[2] Vgl. Protokoll Nachmittagssitzung 22.01.2015, https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2015/02/01/Transkript-Intersex-RCR-68-Session-Genf-2015

[3] Vgl. Mirjam Werlen: Persönlichkeitsschutz und höchstpersönliche Rechte bei Kindern mit einer Geschlechtsvariante (DSD), in: Jusletter 24. August 2015, Rz 116f, 127

>>> Tag der Menschenrechte: Intersex-Protest vor dem Bundeshaus
>>> UPDATE: Verbot von IGM-Praktiken in beiden Kammern auf Traktandenliste

Siehe auch:
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee) untersucht IGM-Praktiken
- "Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- CAT 2011: Deutschland soll IGM-Praktiken untersuchen und Überlebende entschädigen

>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>>
Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen

NGO Report an das UN-Kinderrechtskomitee
Belegt 17 gebräuchliche IGM-Formen und NS-Verbrechen in CH, D, A

Intersex Genital Mutilations
Human Rights Violations Of Children With Variations Of Sex Anatomy
>>> Download PDF (3.65 MB)     >>> Table of Contents

Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
  • IGM Überlebende – Danielas Geschichte
  • Historischer Überblick:
     "Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
  • Was ist Intersex?  • Was sind IGM-Praktiken?
  • IGM in Hannover  • Kritik von Betroffenen  • u.a.m.
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