"STOP Genitalverstümmelung als 'Rohmaterial' für die Geschlechterforschung!" - Flugblatt und Bericht "Cornelia Goethe Colloquien" 17.11.10

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>>> Unzensiertes Flugblatt (PDF, 407 kb) (Nur-Text-Version siehe hier zu unterst)

>>> "Cornelia Goethe Colloquien: Geschlechterforschung ohne Ethik?" - 17.11.10
>>> "11th EMBL/EMBO": Unethische Forscher als Zulieferer der Genitalabschneider

"Die Geschichte der Geschlechterforschung in all ihren Disziplinen (Biologie, Endokrinologie, Genetik, Sexologie und Gender Studies) ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der medizinischen Verbrechen an Zwittern. Diese andauernden medizinischen Verbrechen, die seit den 1950ern systematisch an wehrlosen Kindern verübt werden, sind wohl eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in westlichen Gesellschaften seit dem 2. Weltkrieg." (Offener Brief "11th EMBL/EMBO", 6.11.10)

"Die gucken quasi bei den Verstümmelungen zu und finden, 'Wow, cool, das kann ich für meine Diss brauchen und dies für jene Vortragsreihe.'" (Nella)

Aktuell läuft in Frankfurt a.M. die Veranstaltungsreihe "Cornelia Goethe Colloquien 'Geschlechter|ent|grenzungen' im Wintersemester 2010/2011", organisiert vom "Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse" an der lokalen J. W. Goethe-Universität.

Diese "Colloquien" beschäftigen sich laut Ankündigung auf der CGC-Homepage "mit den in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vorherrschenden Geschlechterordnungen ebenso wie mit verschiedenen Strategien zur Überwindung noch immer vorhandener Geschlechtergrenzen. [...] Im Kontext des Körpers wird es dabei um Trans- und Intersexualität sowie Drag gehen; auch die Disability Studies und neue medizinische Aspekte von Körper- und Geschlechtsidentität werden in den Fokus genommen." 

Am 17.11.10 stand ein (wohl selbstkritisch gemeinter) Vortrag auf dem Programm von "Dr. Ulrike Klöppel, Charité-Universitätsmedizin (Berlin)" unter dem Titel "Zur Herkunft von gender aus der medizinischen Normierung von Intersexualität". Dieser soll laut Ankündigungstext beitragen, die "heutige Geschlechterforschung" auf neue Höhen emporzuführen und dabei "das Verhältnis der sozialen Kontingenz von Geschlecht erneut kritisch zu diskutieren" ("soziale Kontingenz" wurde im Vortrag ausgedeutscht als "soziale Bedingtheit").

Obwohl Zwitter und solidarische Nicht-Zwitter genau dies schon seit Jahren öffentlich kritisieren, wurden Zwitter in den "Cornelia Goethe Colloquien" ungerührt einmal mehr als austauschbare Objekte unter anderen "Geschlechtsidentitäten" und "sexuellen Minderheiten" (und erst noch in der scheinbar gottgegebenen Reihenfolge) als Kanonenfutter für die Geschlechterforschung verbraten.

Immerhin belegte die Referentin die (unkritische) Übernahme des Gender-Begriffs durch den Feminismus der 70er Jahre durch eine Vielzahl von Quellen. Auch der Endokrinologe Lawson Wilkins als der eigentliche Erfinder der systematischen GenitalOps an Kindern am Johns Hopkins Universitätsspital (Baltimore) 5 Jahre vor John Moneys "Behandlungsonzept" wurde angemessen hervorgehoben. Das war's dann aber auch schon. Weder wurde der vielsagende Name von John Moneys "Behandlungskonzept" genannt ("Optimal Gender Policy"), noch bemerkt, dass Judith Butler ihre erste Professur "zufälligerweise" ebenfalls an der Johns Hopkins University erhielt. Die ganzen Nazi-Verwicklungen blieben bequemerweise ebenso aussen vor wie auch Wilkins' und Moneys Wegbereiter am Johns Hopkins, darunter der (z.B. von der Gender-Forscherin Fausto-Sterling noch über den grünen Klee gelobte) üble Chirurg und systematische "Erforscher" der Verstümmelungstechniken, Hugh Hampton Young.

Korrekt hob Ulrike Klöppel zudem weiter hervor, dass das aktuelle Interesse der Hirnforschung für Zwitter für diese kaum positiv zu werten ist: Im Gegenteil werden eventuelle Ergebnisse der HirnforscherInnen von den GenitalabschneiderInnen sofort dazu benutzt werden, um Verstümmelungen im Kleinkindesalter zu rechtfertigen, weil so (z.B. durch ein MRT) "bewiesen" werden könne, in "welche Richtung" sich das Kind entwickle, so dass eine "gender-optimierte" Verstümmelung nun angeblich 100% "sicher" sei – wie gehabt ohne Rücksicht auf die verstümmelten Kinder.

Negativ wiederum, wie Dr. Klöppel einmal mehr (wenn auch ohne den Namen zu nennen) die üblichen, von Judith Butler her bekannten, nie konkret belegten Anspielungen/Anschuldigungen gegen Milton Diamond wiederholte, dieser würde aus "biologistischen" Überlegungen heraus letztlich zu ZwangsOPs raten. Ums einmal mehr klarzustellen: Milton Diamond lehnt als praktisch einziger Geschlechterforscher ZwangsOPs aus ethischen und juristischen Überlegungen heraus ab, sowie wegen der fehlenden Evidenz, und fordert deshalb folgerichtig ein gesetzliches Verbot kosmetischer GenitalOPs an Kindern, weil Medizyner sonst u.a. wegen der Verjährung bekanntlich straffrei ausgehen (eins / zwei).

Ethische und menschenrechtliche Implikationen der Genitalverstümmelungen wurden hingegen bei Ulrike Klöppel (wie im "Gender-Diskurs" auch sonst üblich) wenn überhaupt, dann unter ferner liefen höchstens angedeutet, ebenso die konkreten Folgen für die Opfer der referierten Menschenversuche.

(Auch bei anderen Vorträgen ging und geht es Dr. Klöppel immer und ausschliesslich um Kritik am "heute dominanten bipolaren Modell" von "Geschlechtlichkeit", was laut Klöppel "[d]ie aktuelle Forderung intersexueller und anderer [sic!] AktivistInnen" sei – die eigentliche Urforderung aller Zwitterbewegungen nach raschestmöglicher Beendigung der menschenrechtswidrigen Genitalverstümmelungen ist für Klöppel & Co. bezeichnenderweise stets KEIN Thema ...)

Was die "Gender-Theorie" allenfalls konkret zur Beendigung der kosmetischen GenitalOPs in den Kinderkliniken beitragen könnte, konnte die Referentin wenig überraschend einmal mehr nicht konkret darlegen.

Bezeichend auch, wie Dr. Klöppel den unkontrollierten und uneingewilligten, menschenverachtenden Experimenten an Zwittern gar noch eine (nicht näher umschriebene) "Art Evidenz" zusprach und von "längeren Beobachtungszeiträumen" der Baltimorer VerstümmlerInnen referierte (obwohl Langzeituntersuchungen über die Pubertät hinaus damals wie heute von den GenitalabschneiderInnen & Co. aus naheliegenden Gründen peinlichst vermieden werden – die"längeren Beobachtungszeiträume" beliefen sich denn auch laut Dr. Klöppel konkret gerade mal auf "5-10 Jahre"). 

Allzuoft frönte die Vortragende auch ungebrochen der TäterInnensprache, im Vortrag gar noch mehr als in der Ankündigung. Ständig ging's unkritisch um "Geschlechtsangleichende Eingriffe" u.a.m., gerade ein einziges Mal setzte sie wenigstens "Klitoriskorrektur" in Anführungszeichen. 

Um die Genitalverstümmelungen als andauerndes Verbrechen vor der eigenen Haustüre, das endlich konkret gestoppt werde müsste, gings erwartungsgemäss im ganzen Vortrag nie, ebenso wenig in der nachfolgenden Diskussion – dafür wurde dort einmal mehr der offensichtlich nicht minder obligate, ausgiebige Ausritt auf dem "Geschlechtereintrag" unternommen ...

Immerhin räumte Ulrike Klöppel in der Abschlussrunde ein, dass eine "Diskrepanz" bestünde zwischen dem Interesse der Geschlechterforschung am Thema (der Vortrag war über Kapazität besucht) einerseits und dem Interesse bzw. der Beteiligung derselben Interessierten, sobald es um konkrete Aktionen gegen GenitalverstümmlerInnen geht.

Und auch Prof. Dr. Ulla Wischermann, die im Namen des "Cornelia Goethe Centrum"  durch die Veranstaltung führte (Forschungsschwerpunkt u.a. "Soziale Bewegungsforschung"), meinte ebenfalls, "politische Interventionen" müssten eigentlich im Bereich des Möglichen liegen.

Mensch wird sehen ...

>>> "Cornelia Goethe Colloquien: Geschlechterforschung ohne Ethik?" - 17.11.10
>>> "11th EMBL/EMBO": Unethische Forscher als Zulieferer der Genitalabschneider

Siehe auch:
- Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung
- Genitalverstümmelungen in westlichen Kinderkliniken – eine Genealogie der TäterInnen
- "Weder Evidenz noch medizinische Indikation" (Dr. med. Jörg Woweries)
- Historischer überparteilicher Vorstoss gegen Genitalverstümmelung in Kinderkliniken
- Warum Zwitterforderungen, worin zu oberst nicht die schnellstmögliche Beendigung der Zwangsoperationen steht, keine Zwitterforderungen sind, sondern Vereinnahmung


>>> Flugblatt mit Bildern als PDF (407 kb)
Der Text des am Vortrag verteilten Flugblattes (ohne Kasten und ohne Bildlegenden):

 
STOP Genitalverstümmelung als "Rohmaterial" für die Geschlechterforschung!

Menschenrechte auch für Zwitter!Jeden Tag wird in Deutschland in einer Kinderklinik mindestens ein wehrloses Kind irreversibel genitalverstümmelt – auch in Frankfurt.

Die Geschlechterforschung in ihren verschiedenen Ausprägungen ist in einer verhängnisvollen Wechselwirkung mit der Medizin bis heute als Mittäterin maßgeblich an diesen Verstümmelungen mitbeteiligt.

Trotz langjähriger Kritik von Überlebenden insbesondere an den Gender Studies pflegen offenbar die „Cornelia Goethe Colloquien ‚Geschlechter|ent|grenzungen‘ im Wintersemester 2010/2011“ eine objektivierende Sichtweise auf „Intersexualität“, welche den ethischen und menschenrechtlichen Implikationen nicht gerecht wird, geschweige denn konkret zur Beendigung der Verstümmelungen  beiträgt.

Opfer der Moderne – und der (Geschlechter-)Wissenschaft

Während des Mittelalters bis in die Neuzeit waren Zwitter nicht nur juristisch anerkannt und wuchsen mit unversehrten Körpern auf, sondern hatten das einzigartige Privileg, als Erwachsene selber darüber entscheiden zu dürfen, ob sie als Männer oder als Frauen leben wollten. Heute haben Zwitter nicht einmal Anteil an grundlegenden  Menschenrechten, sind zu 90% verstümmelt und als Spezies sowie wie in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu ausgelöscht. Schuld an dieser Verschlechterung ihrer Situation trägt hauptsächlich die (Geschlechter-)Wissenschaft.

Seit jeher benutzen GeschlechterforscherInnen „wissenschaftliche“ und andere Berichte über Zwittergenitalverstümmelungen als Grundlage und Datenmaterial zur Entwicklung und Verfeinerung ihrer „wissenschaftlichen Theorien“, während andererseits die Medizyner diese Theorien bis heute zur Rechtfertigung und Fortführung der laufend „verbesserten“ Verstümmelungen benutzen, worauf die Geschlechterforschung diese neuen „Erkenntnisse“ wiederum benutzt zur Weiterführung ihrer Theorien, usw. usf. – ein meist unreflektierter, bis heute gültiger Teufelskreis.

Kritik an Instrumentalisierung durch Gender Studies

In einer 2003 in „Die Philosophin 28“ auch auf Deutsch erschienenen Untersuchung wiesen Emi Koyama und Lisa Weasel nach, „dass Intersex [von den Gender Studies] hauptsächlich als Forschungsobjekt verstanden wird, um den Begriff der Zweigeschlechtlichkeit (und des Sexismus, sowie der Homophobie) zu dekonstruieren, und nicht als ein Thema gesehen wird, das in der realen Welt Implikationen für reale Leute hat.“

Und kamen zum Schluss: „Auch wenn die Lehrenden die besten Absichten hegen, untergraben fehlendes Bewusstsein für und die fehlende Beachtung der Realitäten von Intersexuellen die adäquate Darstellung des Themas. Dabei werden unbeabsichtigt die Nicht-Sichtbarkeit und die Objektivierung der Intersexuellen perpetuiert.“

Offensichtlich ist diese fundierte Kritik leider bis heute noch nicht überall wirklich angekommen. Auch in den „Cornelia Goethe Colloquien“ werden zwangsoperierte Zwitter offenbar einmal mehr austauschbar mit „Transsexualität“ und „Drag“ unter „Strategien zur Überwindung noch immer vorhandener Geschlechtergrenzen“ instrumentalisiert.

„fundamentaler Verstoß gegen körperliche Unversehrtheit“

Menschenrechtsorganisationen (u.a. Amnesty Deutschland, Terre des Femmes und das UN-Komitee CEDAW) kritisieren die Duldung der chirurgischen Genitalverstümmelungen u.a. als „schweres Verbrechen“.

Trotzdem werden in Deutschen Kinderkliniken weiterhin täglich wehrlose Kinder irreversibel genitalverstümmelt – auch in der Charité und im Universitätsklinikum der J. W. Goethe-Universität. Wie lange noch?!
 

"STOP Genitalverstümmelung in Kinderkliniken"

Genitalverstümmelung oder „medizinische Normierung“?

Noch die Sprache der Ankündigung der heutigen Veranstaltung wirkt verharmlosend: Statt von Genitalverstümmelungen, unkontrollierten Humanexperimenten, medizinischen Verbrechen oder nur schon von massiven Menschenrechtsverletzungen oder medizinisch nicht notwendigen Zwangsoperationen ist verschämt die Rede von „medizinischer Normierung“ und „chirurgisch-hormonellem Behandlungsmodell“.

Das ist TäterInnensprache! Kein Wunder, werden entsprechende Äußerungen, Vorträge und Veranstaltungen letztlich von verantwortlichen PolitikerInnen als Feigenblatt zur Rechtfertigung der Weiterführung der Verstümmelungen und zur Inschutznahme der GenitalabschneiderInnen benutzt ...

(Vgl. z.B. Berliner Senat am 17.06.2010 in der Drucks. 16/14436.)

Würden  das „Cornelia Goethe Centrum“ und Dr. Klöppel bei weiblicher Genitalverstümmelung auch bloß verschämt z.B. von „kultureller Normierung“ reden?

Würden sie ebenfalls tatenlos zuschauen, wenn innerhalb ihrer eigenen Institutionen „normale“ bzw. „richtige Mädchen“ systematisch verstümmelt würden?

Und sich gar noch widerspruchslos als Feigenblatt zur Rechtfertigung der Weiterführung der täglichen Verstümmelungen einspannen lassen?

Seit bald 20 Jahren klagen überlebende Zwangsoperierte das ihnen zugefügte Unrecht öffentlich an und fordern Gerechtigkeit.

Von Beginn an galt und gilt ihre Klage dem Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit durch die Verstümmelungen und der Missachtung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit. 

Seit bald 20 Jahren lautet ihre erste Forderung: Schnellstmögliche Beendigung der Genitalverstümmelungen!

Ebensolange werden sie hingehalten und von dritten Interessegruppen politisch verheizt für Forderungen nach „Überwindung der Geschlechtergrenzen“ oder „Abschaffung des Geschlechtereintrags“ – anscheinend auch durch die „Cornelia Goethe Colloquien“.

Wie lange noch?!

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"Cornelia Goethe Colloquien: Geschlechterforschung ohne Ethik?" - 17.11.10
>>> "11th EMBL/EMBO": Unethische Forscher als Zulieferer der Genitalabschneider

>>> 150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen

Siehe auch:
- Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung
- Genitalverstümmelungen in westlichen Kinderkliniken – eine Genealogie der TäterInnen
- Warum Zwitterforderungen, worin zu oberst nicht die schnellstmögliche Beendigung der Zwangsoperationen steht, keine Zwitterforderungen sind, sondern Vereinnahmung
- Historischer überparteilicher Vorstoss gegen Genitalverstümmelung in Kinderkliniken
- 2010: "Genitalkorrekturen in Deutschland in der Regel im ersten Lebensjahr"
- Kinderkliniken: € 8175,12 Reingewinn pro Genitalverstümmelung
- AWMF-Leitlinie: Ethik-Empfehlungen als Feigenblatt für Zwangsoperateure
- "Ethik als Freifahrtschein für operieren auf Teufel komm raus" - Claudia Wiesemann
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Anliegen von Zwischengeschlecht.org an den Deutschen Ethikrat 2010 
- "Weder Evidenz noch medizinische Indikation" (Dr. med. Jörg Woweries)
- "EuroDSD"-Chef Olaf Hiort: "Intersexuelle" nur ein Bruchteil aller chirurgischen Genitalverstümmelungen in deutschen Kinderkliniken 
- Amnesty Deutschland: "fundamentaler Verstoß gegen die Menschenrechte"
- Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar mit weiblicher Genitalverstümmelung
- Genitale Verstümmelung & Folgeschäden - AGGPG 1998
- Genitalverstümmler und Zwangsoperateure in Baden-Württemberg
- Wer sind die Täter? Was soll mit ihnen geschehen?

Comments

1. On Saturday, November 27 2010, 23:56 by seelenlos

Dokumentation der Veranstaltungs-Ankündigung laut Booklet, S. 4f.:
[ http://www.cgc.uni-frankfurt.de/download/Booklet_web.pdf ]

18:00 c.t., AfE-Turm, R. 238
17.11.2010

DR. ULRIKE KLÖPPEL
Charité - Universitätsmedizin (Berlin)

Zur Herkunft von gender aus der medizinischen Normierung von Intersexualität

Im Kontext der medizinischen Normierung intersexueller Kinder entstand 1955 das psychologische gender-Konzept. Dieses wurde in den 70er Jahren von der feministische Forschung aufgegriffen. Was bedeutet diese Genealogie für die heutige Geschlechterforschung? Unter dieser Fragestellung geht der Vortrag auf die Entstehung und Etablierung des gender-Konzepts in der Intersex-Medizin der 50er bis 70er Jahre ein. Es lässt sich zeigen, dass die Mehrzahl der Mediziner des deutschsprachigen Raums das in den USA eingeführte chirurgisch-hormonelle Behandlungsmodell für intersexuelle Kleinkinder wie auch das zugehörige gender-Konzept anfänglich nicht akzeptierte. Daher fragt es sich, unter welchen Bedingungen sich die amerikanischen Konzepte in den Sechziger Jahren doch durchsetzen konnten. Es wird die These vertreten, dass dies wesentlich auf die Experimentalisierung der Grundlagenforschung zur psychosexuellen Entwicklung zurückzuführen ist, für die intersexuelle Menschen zum Versuchsobjekt gemacht wurden. Damit erhielt gender den Status einer objektiven psychischen Entität, der als Grundbestimmung anhaftet, dass sie sozial geprägt wird und daher manipulierbar erscheint. Vor diesem Hintergrund gilt es für die heutige Geschlechterforschung, das Verständnis der sozialen Kontingenz von Geschlecht erneut kritisch zu diskutieren.

Dr. Ulrike Klöppel, Psychologin, ist seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Sie war Co-Kuratorin des Ausstellungs- und Archivprojekts "1-0-1 [one 'o one] intersex" (2005) und ist aktiv im Wissenschaftlichen Beirat der Internationalen Vereinigung intergeschlechtlicher Menschen.

Buchtipp:
Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: 2010, [transcript] Verlag. ISBN 978-3-8376-1343-8