Das Privileg, mit intakten Genitalien aufzugewachsen – Reparationen für zwangsoperierte Zwitter!
By seelenlos on Friday, March 28 2008, 09:06 - Forderungen - Permalink
selbsterklärender disclaimer: seelenlos ist ein "normaler" XY, meine
freundin nella ist der zwitter. ich habe von "intersexualität" überhaupt erst
durch sie erfahren und war gelinde gesagt etwas geschockt, obwohl ich mich
schon länger z.b. mit polizeigewalt und
zensur auseinandersetze, und möchte
deshalb zwischengeschlechtliche anliegen und ihre durchsetzung möglichst
unterstützen.
Meine
Eltern gehörten zu denen, die nach dem Krieg sagten, von den KZs und den Öfen
hatten wir nichts gewusst. (Vor Kriegsende war es in der Schweiz
tatsächlich verboten, in der Zeitung darüber zu schreiben. Nichtsdestotrotz
hielten sich Redewendungen wie "bis zur Vergasung" – statt z.B. "bis zur
Verblödung" – in der CH-Öffentlichkeit inkl. meinem Elternhaus bis in die
Siebziger ...)
Ich hatte eine behütete Kindheit, Gräueltaten fanden längst wieder
ausschliesslich in wirklich gebührender Entfernung statt, wie sich's gehört.
Dachte ich zumindest. Ja, ich hatte eine behütete Kindheit. Weil ich,
ich hatte das Privileg, mit einem intakten Körper aufzuwachsen, ohne Ärzte, die
meine Genitalien und Reproduktionsorgane nach Lust und Laune
zurechtschnibbelten, amputierten und herausrissen.
"Schnipp, schnapp, Schwanz ab!" ist für Zwischengeschlechtliche keine
(theoretische) feministische Parole, sondern die weitverbreitetste Form der
"äusseren Geschlechtsangleichung", wie sie bei zwischengeschlechtlichen Kindern
bis in die 80er von gewissenlosen Medizinern praktiziert wurde.
Michel
Reiter und Alex
Jürgen sind nur die prominentesten Beispiele dieser besonders
unmenschlichen Praxis (als wäre operative Zwangszuweisung + lebenslanges
Belügen an sich nicht schon menschenrechtswidrig genug). Und auch heute laufen
die "verbesserten" Operationsmethoden nur zu oft immer noch auf dasselbe
hinaus, und praktisch immer zumindest auf eine
starke Verminderung des sexuellen Empfindens durch irreparable Schädigung
der Sexualnerven.
Und tja, ehrlich, bis vor kurzem hab auch ich davon rein gar nichts
gewusst! Und nein, es ist heutzutage nicht wirklich verboten, darüber
in der Zeitung zu schreiben, weder in der Schweiz noch sonstwo. Bloss steht
nach wie vor trotzdem nix drin davon. Na, so ein Zufall aber auch ...
Noch können Ärzte und Ämter das ganze Ausmass erfolgreich unter dem
Teppich behalten. So war noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die
(damals rot-grüne) Bundesregierung sich
nicht zu blöd, u.a. frech zu behaupten: "Der Bundesregierung ist
nicht bekannt, dass eine Vielzahl von Intersexuellen im Erwachsenenalter die an
ihnen vorgenommenen Eingriffe kritisiert." Ich meine, dieses Statement
muss mensch sich erstmal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen ...
Menschenwürde, von wegen! Und unantastbar, am Arsch!
Trotzdem, die Tage des fröhlich ungestraften Zwangsoperierens an
Zwittern sind u.a. dank den
Prozessen von Michel Reiter und Christiane Völling
(hoffentlich!) gezählt. Noch ist es bis dahin aber ein weiter Weg,
bedarf es tonnenweise zusätzlichen öffentlichen und politischen Drucks
...
Ein gutes Mittel hierzu wäre m.E. Michel Reiters (--> "Ziele
organisierter Intersexen") und Georg
Klaudas (--> "Agenda der KritikerInnen dieser Praxis", 3.)
Forderung nach Reparationen für Zwangsoperierte durch den
Staat
aufzunehmen und sie möglichst breit und offensiv öffentlich und politisch
einzufordern, etwa mit folgender
Begründung:
Die überwiegende Mehrzahl der Zwangsoperierten und -kastrierten
leidet massiv unter dem ihnen angetanen Unrecht und hat deshalb Anrecht auf ein
angemessenes Schmerzensgeld. Alle haben zudem lebenslängliche medizinische
Folgekosten durch Hormonersatztherapie und auch Psychotherapien zur
Aufarbeitung der durch die Zwangsoperationen verursachten Traumen, die oft von der Kasse nur
zu einem Bruchteil übernommen werden. Diese Kosten können sich für Betroffene
bis zu mehreren hundert Euro monatlich belaufen. Da dieses von den Medizinern
an Zwischengeschlechtlichen jahrzehntelang begangene und immer noch andauernde
Unrecht mit dem ausdrücklichen Segen von Staat/Bundesregierung angetan wurde
(siehe oben), ist auch der Staat für
Reparationen/Schmerzensgeld/Entschädigungen zuständig und soll
bezahlen.
(Und wer von den anwesenden Damen und Herren PolitikerInnen damit nicht
einverstanden ist, bitte vortreten und Hosen runter, damit die "harmlose" und
"bekanntlich von keinen Betroffenen kritisierte" Geschlechtsangleichung
unverzüglich per Schere vorgenommen werden kann – mal gucken, ob sie
anschliessend ihre Meinung nicht doch noch ändern ...)
Geschmackloser Scherz beiseite: Wenn mensch sich vor Augen führt, wie
schändlich dieselbe Bundesregierung (und alle ihre Vorgänger) sich sträubten
(und ihre Nachfolgerin sich nach wie vor sträubt und windet), bloss schon
homosexuelle (igitt!) KZ-Überlebende zu entschädigen (eins /
zwei / drei), dürfte klar sein, dass diese
Forderung realpolitisch kaum Chancen hat: Schliesslich geht's um ne
ziemliche Stange Geld. Gerade deshalb ist aber das Aufstellen und
möglichst hartnäckige Beharren auf dieser Forderung ein sinnvoller Beitrag
dazu, endlich die unmenschliche Praxis der Zwangsoperationen und -Kastrationen
abzuschaffen!
Mittlerweile können sich MedizinerInnen und PolitikerInnen nämlich dank der
bundesfinanzierten Hamburger Studie nicht mehr damit herausreden, von nix
gewusst zu haben ... Umso grösser wird ihre Angst sein, ev. doch noch
gerichtlich und/oder politisch belangt zu werden, wenn sie die
Zwangsoperationspraxis (abgesehen von ev. einigen rein verbalen Zugeständnissen
à la "sollte") weiterhin aufrechterhalten, wie dies aktuell immer noch der Fall
ist (z.B. eins /
zwei (Abschnitt MEDIZIN) /
drei (pdf-Download) / usw.usf.).
Je lauter deshalb die Forderung nach Reparationen gestellt wird (und je
mehr Prozesse gegen MedizinerInnen noch stattfinden werden), desto schneller
werden die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen endlich
aufhören!
Deshalb ist es wichtig, dass die Forderung nach Reparationen für
Zwangsoperierte von allen fortschrittlichen Organisationen und Individuen,
welche die Zwangsoperationen verurteilen, aufgenommen, zu einem Teil ihrer
politischen Agenda gemacht und offensiv öffentlich vertreten wird.
Siehe auch:
Faule Eier für "die Bundesregierung"
Siehe auch: Weiße Kittel mit braunen Krägen, reloaded