Intersexuelle Menschen e.V. reicht Schattenbericht zum UN-Sozialpakt ein (CESCR 2010)

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>>> Mahnwache UNO Genf 26.1.09 (CEDAW #43)

>>> Nachtrag 30.11.

Human Rights For Hermaphrodites Too!>>> Download auf intersex.schattenbericht.org

Wie >>> "Unser Politikblog" berichtete, hat Intersexuelle Menschen e.V. nach dem CEDAW-Schattenbericht 2008 dieses Jahr einen weiteren UN-Parallelbericht erstellt zum "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR)".

Inoffiziellen Berichten zufolge wurde der Schattenbericht heute in Genf an der Pre-Session überreicht und wird im Mai 2011 zusammen mit dem 5. Staatenbericht der Bundesrepublik an der 46. Session des UN-Ausschusses CESCR behandelt werden. Der Parallelbericht liegt inzwischen inkl. Fallberichten auch auf Deutsch vor und kann auf >>> intersex.schattenbericht.org als PDF heruntergeladen werden, ebendort ist auch das Executive Summary online einsehbar.

(intersex.schattenbericht.org wird zur Verfügung gestellt von der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org. Allein in den letzten 5 Monaten verzeichnete der CEDAW-Schattenbericht ebendort über 1500 Downloads.)

Der CESCR-Schattenbericht listet auf 39 Seiten verschiedene Menschenrechtsverletzungen an "Intersexuellen" (nicht nur) in der BRD auf, darunter "Genitalverstümmelung", "Kastrationen", "Genitalamputation", "uneingewilligte Menschenversuche", "fehlende informierte Zustimmung durch Betroffene", "unrechtmäßige Zustimmung durch Eltern", "Off-Label Use von Medikamenten", "paradoxe Hormontherapien", "veraltete medizinische Literaur", "bewusst falsche / ungenügende Behandlungsdokumentation", "Verletzung der staatlichen Schutzpflicht", "Diskriminierung beim Abschluss von Krankenversicherungen" und "Diskriminierung beim Grad der Behinderung".

Kommentar:

Der vorliegende CESCR-Parallelbericht stellt (wie schon der CEDAW-Schattenbericht) fraglos einen weiteren wichtigen Meilenstein dar im Kampf gegen die Genitalverstümmelungen und zur Einforderung der Menschenrechte auch für Zwitter, und der Stellenwert seiner Einreichung kann kaum hoch genug angesetzt werden.

Trotzdem weist er einige Mängel auf – die wohl nicht zuletzt der intransparenten Geheimhaltungspolitik und Selbstbezogenheit von Intersexuelle Menschen e.V. geschuldet sind: Wäre der Parallelbericht vor Einreichung z.B. auf dem IMeV-Vereinsforum offen zur Diskussion gestellt worden, wäre er höchstwahrscheinlich in einigen Punkten besser und angemessener ausgefallen.

Nicht zum ersten Mal liegt das Problem weniger bei dem, was erwähnt wird, sondern vielmehr bei den Dingen, die nicht erwähnt, sondern ausgelassen werden, sowie zum Teil auch in der streckenweise sehr subjektiven Gewichtung des Dargestellten:

Einmal mehr werden z.B. die fragwürdigen pränatalen Dexamethason-Zwangstherapien gar nicht erst angesprochen, ebensowenig die diesjährige, nicht minder problematische AGS-Leitlinie.

Scheinbar kritiklos wird die (aktuelle) medizinische Definition von "Intersexualität" übernommen, um den eigenen Arbeitsbereich festzulegen, statt generell kosmetische GenitalOPs an Kindern aufs Korn zu nehmen. Entsprechend werden die im klinischen Alltag vergleichsweise sehr häufigen Genitalverstümmelungen a.k.a. kosmetischen "Genitalkorrekturoperationen" an Kindern mit "Hypospadie" konkret einmal mehr aussen vor gelassen.

Überhaupt werden die Genitalverstümmelungen im Schattenbericht einmal mehr schon fast als Randerscheinung betrachtet und entsprechend knapp abgehandelt – getreu dem Blick durch die "CAIS-Brille" werden stattdessen vielmehr die Kastrationen und "paradoxen Hormontherapien" seitenweise und detailliert ausgebreitet. Unter dem Inhaltspunkt "Irreversible Genital-Ops an Minderjährigen und Erwachsenen" (S. 24) werden z.B. 10 Punkte aufgelistet, davon betreffen allein die ersten 4 (!) "Kastrationen", während OPs an "Klitoris/Penis-Amputation" erst an 5. Stelle sowie "Anlegen von Neovaginen und Neopenissen für Babies" erst an 6. Stelle ein einziges Mal genannt werden.

Ein Verein, der wie Intersexuelle Menschen e.V. für sich in Anspruch nimmt, alle Zwitter zu repräsentieren, deren elementare Menschenrechte mit Füssen getreten werden, müsste hier endlich etwas mehr von der steten Beschränkung des Blickwinkels auf die eigene, persönlichen "Besonderheitsperspektive" wegkommen, hin zu einer angemessenen und realitätsentsprechenden Würdigung aller Menschenrechtsverletzungen gegen die körperliche Unversehrtheit an Kindern und Erwachsenen mit "auffälligen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen.

Als verhängnisvoller Bumerang könnte sich zudem erweisen, dass der Schattenbericht bei der Würdigung der mangelnden Durchsetzung der Schutzpflichten gegenüber den verstümmelten Kindern durch den Staat und insbesondere die Bundesregierung offensichtlich auf dem Stand des CEDAW-Schattenberichts von 2008 verharrt und einfach beleglos (und tatsachenwidrig) behauptet, staatlicherseits hätte es seit 2007 keine Äusserungen zum Thema mehr gegeben (von den insgesamt 7 Vorstössen im Bundestag bis und mit 2009 werden gerade mal 2 erwähnt, der letzte davon von 2007), geschweige denn Kontaktaufnahmen.

Solche Vogel-Strauss-Politik ist besonders verhängnisvoll von einem Verein, der wie IMeV seit Jahren mit staatlichen und medizynischen RepräsentantInnen in undurchsichtigen Geheimverhandlungen durch den Dienstboteneingang u.a. "auf Ministerebene" vor sich hermauschelt (-->), ohne je Öffentlichkeit über die Verhandlungen herzustellen, geschweige denn mit konkreten Forderungen aufzuwarten oder nur schon auf konkreten Resultaten zu bestehen.

Dieses intransparente und politisch zahnlose Vorgehen wird es der Bundesregierung leicht machen, sich weiter auf Kosten der täglich verstümmelten Kinder zu profilieren, und zwar sowohl im unmittelbar anstehenden CEDAW-Zwischenbericht wie auch im Bezug auf den vorliegenden ICESCR-Parallelbericht:

Schliesslich kann die Bundesrepublik mit gutem Gewissen behaupten, sehr wohl mit Intersexuelle Menschen e.V. in kontinuierlichen Verhandlungen zu sein, war der Verein doch u.a. offiziell zu Gast beim Bundestags-"Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe", beim bundesfinanzierten Deutschen Ethikrat (vgl. a. S. 14), bei der "Leiterin des Antidiskriminierungsstelle des Bundes", usw.

Weiter wird die Bundesregierung mit gutem Gewissen auf die (bezüglich des Kernproblems der weiterhin täglich in Kinderkliniken durchgeführten Genitalverstümmelungen ebenso folgenlosen) Anhörungen auf Länderebene unter IMeV-Beteiligung verweisen können. Sowie auf die zahllosen diesjährigen Vorgänge im Bundestag, wo ja angeblich stets "was für die Intersexuellen unternommen" werde, während tatsächlich bloss Zwitter permanent als Kanonenfutter für LGB(T) instrumentalisiert werden (wohlbemerkt noch mit dem Segen von IMeV, vgl. Schattenbericht S. 13, wobei der Verein sich auch sonst stets kritiklos hinter den letztlich verantwortlichen LSVD stellt).

(Auch die Medizyner können sich bei Bedarf übrigens nach wie vor auf "gute Zusammenarbeit" mit Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen berufen, ist doch die XY-Elterngruppe u.a. regelmässig zu Gast bei den APE/AGPD-Jahrestagungen, ja nimmt die "Netzwerk"/"EuroDSD"-Medizyner gar noch gegen Kritik bedingungslos in Schutz, und steht auch sonst mit dem "Netzwerk Intersexualität/DSD" in offensichtlich kritikloser Verbindung, wie auch ImeV die "DSD"-Medizyner bisher nie öffentlich kristisierte und ebenso wie die XY-Elterngruppe offensichtlich nach wie vor auch mit der Hamburger "Forschergruppe Intersexualität" kritiklos zusammenarbeiten.)

Fazit: Auch obige begründete Kritik ändert nichts daran, dass die Einreichung des CESCR-Schattenberichts einen Meilenstein darstellt. Und dass auch ein nicht perfekter Parallelbericht immer noch besser ist als gar keiner.

Noch der beste Schattenbericht allein wird jedoch ohne zusätzlichen politischen Druck kaum etwas Konkretes bewirken können. Und politisch unverantwortliches, intransparentes (Folge-)Handeln kann im schlimmsten Fall Erreichtes schnell mal rückgängig machen – oder gar ins Gegenteil verkehren ...

Allein in Deutschen Kinderkliniken wird JEDEN TAG mindestestens 1 wehrloses Kind experimentell genitalverstümmelt, sowie in Österreich und in der Schweiz JEDE WOCHE nochmals JE 1 weiteres.

Wie lange noch?!

Nachtrag 30.11.10: Inzwischen ist auf dem IMeV-Forum ein Bericht der Co-Autor_innen Sarah und Volker Hassel-Reusing nachgetragen zur Einreichung des Schattenberichts in Genf.

Siehe auch:
- intersex.schattenbericht.org
- Genf: UNO mahnt Bundesregierung
- CEDAW im Bundestag: Nach bekanntem Muster
- Historischer überparteilicher Vorstoss gegen Genitalverstümmelungen in Kinderspitälern
- Machtspiele, Mobbing, Intrigen: Mein Rücktritt als 1. Vorsitzende von Intersexuelle Menschen e.V.
- Wie das "Netzwerk Intersexualität/DSD" seine Versprechen bricht - und Intersexuelle Menschen e.V. sich nicht wehrt
- Intersexuelle Menschen e.V. informiert (nicht)
- Intersexuelle Menschen e.V. / XY-Frauen Elterngruppe nimmt "EuroDSD"-Zwangsoperateure in Schutz
Bundestag / CEDAW: "Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe" will nix kapiert haben – Intersexuelle Menschen e.V. guckt zu und schweigt
- 1. Vorsitzende von Intersexuelle Menschen e.V. möchte diesem Blog mal wieder das Kommentieren verbieten ...
- Deutscher Ethikrat: "kein Handlungsbedarf" bei Genitalverstümmelung?!