Markus Bauer am "Fachtag Intersexualität": "Genitalverstümmelungen verbieten, Verjährungsfristen anpassen, Überlebende entschädigen, Unrecht historisch aufarbeiten, Versicherungslücken schließen"

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Zwischengeschlecht.org on Facebook>>> Report vom "Fachgespräch Intersexualität", Berlin 09.03.2016

Markus Bauer (Bild: Club-TV-Diskussion), Gründlungsmitglied und Kampagnenverantwortlicher der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org, verwies am vom Freistaat Thüringen ausgerichteten "Fachgespräch" zur neuen, auf den 1. April angekündigten AWMF-D$D-Leitlinie auf die mittlerweile 10 deutlichen UN-Rügen, welche unmissverständlich ein gesetzliches Verbot von IGM-Praktiken fordern sowie Zugang zu Justiz und Entschädigung für Überlebende, und betonte weiteren politischen Handlungsbedarf. Nachfolgend ein leicht überarbeitetes Transkript seines Diskussionsbeitrags:

«Zwischengeschlecht.org hat verschiedentlich der UN über Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit Intersex berichtet, und ich möchte daran erinnern, weil das geht immer ein bisschen unter in der Diskussion, dass hauptsächlich der UN-Ausschuss gegen Folter und der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mittlerweile zehn Mal Länder gerügt und verbindliche Empfehlungen verabschiedet haben in Zusammenhang mit diesen OP's. Den Anfang machte übrigens der UN-Ausschuss gegen Folter, der Deutschland schon 2011 deutlich rügte.

Für den Ausschuss gegen Folter laufen diese Behandlungen jeweils unter dem Stichwort "unmenschliche Behandlung", die gegen die Folterkonvention verstößt. Und der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes erkennt darin eine "schädliche Praxis", das ist die gleiche Stufe wie die weibliche Genitalverstümmelung. Und was beide Ausschüsse allen Ländern immer wieder verbindlich empfehlen ist, es müssen Gesetze geschaffen werden, die diese Eingriffe verbindlich verbieten, und zweitens muss es auch gesetzgeberische Massnahmen geben, um dann Betroffenen den Zugang zu Justiz und Entschädigung zu ermöglichen.

Deutschland ist insofern gesehen weltweit führend, dass es hier mittlerweile schon drei Zivilprozesse von Betroffenen gibt. Aber was dabei zu beachten ist: Es geht ausschließlich um Eingriffe, die nach deren 18. Geburtstag stattfanden. Es gibt auch hierzulande Menschen, die als Kinder operiert wurden und die zu klagen versuchten, aber das scheiterte jedes Mal an der Verjährung. Deshalb ist ganz wichtig: Verjährungsfristen anpassen, das ist ein Thema, das müsste auch behandelt werden.

Und was aus der Sicht unserer Menschenrechtsgruppe weiter ganz wichtig ist, es ist eine gesellschaftliche Praxis, wie auch der Kinderrechtsausschuss sagte, eine kulturelle Praxis, und da ist ganz gewaltig Mist gebaut worden. Bis in die 80er Jahre war ja einer der häufigsten Eingriffe die Amputation einer sogenannt vergrößerten Klitoris, wie bei der weiblichen Genitalverstümmelung, und es müsste endlich eine gesellschaftliche Aufarbeitung vorangetrieben werden. Und ich denke hier hätten auch die Länder Möglichkeiten, von sich aus aktiv zu werden.

Zum Beispiel das Kinderspital Zürich hat jetzt begonnen, die alten Akten, die waren da noch im Staatsarchiv, die haben jetzt eine Historikerin beauftragt, diese nochmals durchzugehen, und einfach, dass diese Praxis mal aufgearbeitet werden müsste, dass gekuckt werden müsste, eben, was wurde getan, wie wurde es gerechtfertigt, und da sieht man nämlich schnell, dass die Rechtfertigungen, auch wenn die OP-Methoden heute sogenannt moderner sind, die Rechtfertigungen sind weitgehend die alten geblieben. Und da fehlt einfach das Bewusstsein dafür und das müsste mal untersucht werden.

Und eben gesetzgeberische Massnahmen, auch wenn das nicht auf Länderebene getan werden kann, doch Sie [Thüringer Minister Benjamin-Immanuel Hoff] haben es ja angesprochen, es gibt die interministerielle Arbeitsgruppe und den Bundesrat, wo Thüringen entsprechend aktiv werden kann; es braucht unbedingt gesetzgeberische Massnahmen, einerseits wie gesagt, um diese Operationen zu verbieten, aber auch, um Betroffenen Zugang zu Entschädigung zu gewährleisten.

Intersexuelle Menschen e.V. fordert ja schon seit langem, es müsste ein Entschädigungsfonds gebildet werden, der einerseits von Ländern und Bund bezuschusst werden müsste, und andererseits müssten auch die Ärztegesellschaften in die Pflicht genommen werden, weil hier wurde einfach ganz massiv Mist gebaut, was man aus heutiger Perspektive sagen kann.

Und die Betroffenen, denen das angetan wurde, die sind alle immer noch da, die sind zum Teil, das wurde auch schon gesagt, schwer traumatisiert, und oft ist es aber so, die psychologische Behandlung zur Traumabewältigung, die sie benötigten, das wird nicht von der Kasse übernommen. Oder da ist dann ziemlich schnell mal nach 150 Stunden Ende der Fahnenstange, da besteht versicherungsrechtlich aus unserer Sicht ebenfalls dringend Handlungsbedarf. Danke.»

>>> Report vom "Fachgespräch Intersexualität", Berlin 09.03.2016
>>> Dr. Jörg Woweries: IGM in Deutschland in den letzten 10 Jahren unverändert

>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen

>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben 

Siehe auch:
- Offener Brief mit 227 Unterschriften zur neuen AWMF-Intersex-D$D-Leitlinie
- Leitlinien-Interview mit Susanne Krege im Spiegel 22/2014: "kurz vor Pubertät operieren"
- Vortrag Leitlinienverantwortliche F. Eckoldt 13.09.2014: "AGS möglichst früh operieren"
- DSD neu ohne "Störungen": Antwort der AWMF-Leitlinienkoordination auf den Offenen Brief
- AWMF-Intersex-Stellungnahme weckt große Hoffnungen - doch sind diese auch berechtigt?

"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee) untersucht IGM-Praktiken
- "Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) kritisiert IGM-Straflosigkeit in Deutschland
- CAT 2011: Deutschland soll IGM-Praktiken untersuchen und Überlebende entschädigen

Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
  • IGM Überlebende – Danielas Geschichte
  • Historischer Überblick:
     "Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
  • Was ist Intersex?  • Was sind IGM-Praktiken?
  • IGM in Hannover  • Kritik von Betroffenen  • u.a.m.
>>> PDF-Download (5.53 MB)