CCPR133: UN-Menschenrechtsausschuss untersucht IGM in Deutschland

Foto: Daniela Truffer unterrichtet den Menschenrechtsausschuss CCPR während der 128. Session, März 2020. (Das heutige NGO-Briefing fand online statt.)

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IGM = Folter, NICHT 'Diskiminierung' oder 'Geschlechtsidentität'Anlässlich seiner 133. Session in Genf prüft der UN-Menschenrechtsausschuss als Vertragsorgan des UN-Zivilpaktes (CCPR) die Menschenrechtssituation in Deutschland. >>> Transkripte und Videos der Sataatenprüfung

Zwischengeschlecht.org informierte den Ausschuss in 2 NGO-Berichten (PDF, englisch) 2018 und 2021 über Intersex-Genitalverstümmelungen in Deutschland. Daniela Truffer und Markus Bauer heute in einem privaten NGO-Briefing Fragen des Ausschusses und präsentierten eine mündliche Zusammenfassung der Berichte (siehe unten).

Wir hoffen auf deutliche Fragen des Ausschusses an die deutsche Delegation – und auf eine weitere unmissverständliche Rüge an Deutschland in den Abschließenden Bemerkungen im Anschluss an die 133. Session!

Zwischengeschlecht.org / StopIGM.org: NGO Mündliche Stellungnahme CCPR133 Deutschland, 11.10.2021
Daniela Truffer

Ich bin ein Intersex-Mensch und eine Überlebende von Intersex-Genitalverstümmelung und stelle die Berichte von StopIGM vor, einer internationalen Intersex-NGO mit Mitgliedern und Unterstützern aus Deutschland, einschließlich deutscher IGM-Überlebender, die Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung vor Gericht anstreben.

Wie aus unseren Berichten hervorgeht, [1] [2] werden in Deutschland Intersex-Kinder mit sogenannten “uneindeutigen” Genitalien immer noch kastriert, ihre Genitalien werden beschnitten und teilweise amputiert, sie werden erzwungenen Hormonbehandlungen, unnötigen Genitaluntersuchungen, Vaginaldehnungen (Bougierungen), medizinischer Zurschaustellung, Menschenversuchen und anderen unfreiwilligen, nicht dringenden Behandlungen unterworfen, die zuvor von CAT, [3] CRPD [4] und CEDAW [5] als grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und als schädliche kulturelle Praxis verurteilt wurden.

Bis heute unterstützen deutsche Ärzteverbände internationale Leitlinien, die alle Formen von Intersex-Genitalverstümmelung [6] vorschreiben, und die neuesten verfügbaren Daten über IGM zeigen keine Abkehr davon. [7]

Nach 25 Jahren endloser “Diskussionen” ohne tatsächliche Konsequenzen muss man der scheidenden deutschen Regierung jedoch zugutehalten, dass sie im März 2021 endlich ein Gesetz verabschiedet hat, das IGM Praktiken verbieten soll. [8] Bedauerlicherweise bietet dieses neue “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” jedoch keinen wirksamen Schutz für Intersex-Kinder und wurde daher von Intersex-NGOs und Rechtsexperten stark kritisiert. [9] Außerdem enthielten sich drei Fraktionen des Parlaments der Stimme, weil sie das neue Gesetz für nicht wirksam genug hielten. [10]

Insbesondere ist am neuen Gesetz mangelhaft, dass es

  • “feminisierende” Genitaloperationen wie die Teilamputation der Klitoris und die “Vaginoplastik” sowie sterilisierende Eingriffe nur teilweise einschränkt, während es im Gegenzug die häufigste Praxis, das heißt “maskulinisierende” Genitaloperationen, nämlich die “Hypospadie-Reparatur”, ausdrücklich erlaubt, und ebenso die Vaginaldehnungen
  • versäumt, IGM zu kriminalisieren oder angemessen zu sanktionieren
  • versäumt, Hindernisse für den Zugang zur Justiz und zu Rechtsmitteln zu beseitigen, insbesondere Verjährungsfristen
  • versäumt, die in den UN-Konventionen festgelegten Mindestanforderungen umzusetzen, u.a. Art. 2 des Zivilpaktes in Verbindung mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 31 und Art. 7 in Verbindung mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 20.

Es ist daher absehbar, dass trotz des neuen Gesetzes die hinlänglich bekannte und erschreckende Straflosigkeit von IGM-Tätern weiter andauern wird.

Wie dokumentiert, [11] ist es für Überlebende von IGM-Praktiken in der Kindheit nach wie vor unmöglich, vor einem deutschen Gericht Wiedergutmachung und Gerechtigkeit zu erlangen, sei es nach dem Strafrecht, dem Zivilrecht oder dem Opferentschädigungsgesetz, vor allem aufgrund der Verjährungsfristen. [12]

Auch für Überlebende, die als Erwachsene IGM unterworfen wurden, ist es zunehmend unmöglich, auf zivilrechtlichem Wege eine Entschädigung zu erhalten, da die Gerichte die Verfahren in die Länge ziehen und die Kläger letztlich dazu zwingen, sich mit minimalen Vergleichen abzufinden, weil sie sich den Stress und die Kosten eines langwierigen und teuren Rechtsstreits, beispielsweise nach acht Jahren, [13] nicht mehr leisten können. Im Gegensatz dazu dauerte der erste und bisher einzige erfolgreiche Zivilprozess [14] im Jahr 2007 nur 2 Jahre durch alle Instanzen.

Noch schlimmer sieht es beim Opferentschädigungsgesetz aus: Ein dokumentierter Fall zieht sich derzeit über 12 Jahre hin. [15]

Unter Hinweis auf die schweren Schmerzen und Leiden, die durch IGM-Praktiken verursacht werden, einschließlich des Verlusts oder der Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens, der schmerzhaften Narben, der Beeinträchtigung oder des Verlusts der Fortpflanzungsfähigkeit, der lebenslangen Abhängigkeit von künstlichen Hormonen, der erhöhten Selbstverletzung und Selbsttötung sowie des lebenslangen psychischen Leidens und Traumas, fordern wir den Ausschuss daher dringend auf, Deutschland mit Nachdruck an seine unabdingbaren Verpflichtungen gemäß dem Pakt zu erinnern, einschließlich eines wirksamen Schutzes für Intersex-Kinder und des Zugangs zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für IGM-Überlebende.

Fußnoten:
[1] 2018 Intersex NGO Report for LOIPR, S. 10-15, https://intersex.shadowreport.org/public/2018-CCPR-LOIPR-Germany-NGO-Zwischengeschlecht-Intersex-IGM.pdf
[2] 2021 Intersex NGO Report for Session, S. 11-12, https://intersex.shadowreport.org/public/2021-CCPR-Germany-NGO-Intersex-StopIGM.pdf
[3] CAT/C/DEU/CO/5, para 20
[4] CRPD/C/DEU/CO/1, paras 37-38
[5] CEDAW/C/DEU/CO/7-8, paras 23-24
[6] 2021 Intersex NGO Report for Session, S. 14
[7] Ibid., S. 11-12
[8] Ibid., S. 12-14
[9] Ibid., S. 13-14
[10] Siehe Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 218. Sitzung, 25.03.2021, S. 27608-27615, https://dserver.bundestag.de/btp/19/19218.pdf#P.27608
[11] 2021 Intersex NGO Report for Session, S. 15-19
[12] Ibid., S. 15
[13] Ibid., S. 16
[14] Ibid., S. 15
[15] Ibid., S. 17-19

Siehe auch:
- "Nur die Angst vor dem Richter wird Chirurgen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- "Schädliche medizinische Praxis": UNO, COE, ACHPR, IACHR verurteilen IGM 
- 50 UN Rügen für Intersex-Genitalverstümmelungen
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- "Schädliche Praxis" zum 2.: UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee/CCPR) verurteilt IGM-Praktiken
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) verurteilt IGM-Straflosigkeit in Deutschlan