CRPD26: Behindertenrechtsausschuss befragt die Schweiz über Intersex-Genitalverstümmelungen

CRPD26-Switzerland-Robert-Martin“Versuchen Sie nicht, uns zu reparieren. Akzeptieren Sie uns einfach.”: CRPD-Mitglied Robert Martin liest der Schweiz die Leviten – mit einem Schlusskommentar, der auch IGM-Betroffenen und -Gefärdeten aus dem Herzen spricht!

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IGM = Folter, NICHT 'Diskiminierung' oder 'Geschlechtsidentität'Anlässlich seiner 26. Session in Genf prüfte der UN-Behindertenrechtsausschuss am 14.-16.03.2022 die Menschenrechtsbilanz der Schweiz, live übertragen und danach archiviert auf webtv.un.org:
1. Session | 2. Session | 3. Session | Intersex-Transkript auf Deutsch siehe unten

Zwischengeschlecht.org/StopIGM.org berichtete dem Ausschuss in 2 NGO-Berichten (PDF, englisch) 2019 und 2022 über Intersex-Genitalverstümmelung (IGM) in der Schweiz. Diese Berichte dokumentieren, wie IGM trotz vorheriger UNO-Rügen straflos weiterpraktiziert wird, während die MedizynerInnen und verantwortliche PolitikerInnen die Praxis unverfroren leugnen. Daniela Truffer und Markus Bauer bantworteten zudem in einem privaten NGO-Briefing im Vorfeld der Session Fragen des Ausschusses.

Während der Staatenprüfung in Genf tagte der Ausschuss grösstenteils wieder persönlich im Palais Wilson, wohin auch die Schweizer Delegation zum Teil anreiste. Teile des Sitzungszimmers blieben jedoch gesperrt – auch diejenigen Reihen, in denen sonst die NGOs sitzen, die unverändert nur per Live-Feed "dabei sein" können.

Der Ausschuss brachte im konstruktiven Dialog wiederholt auch das Thema “Intersex-Genitalverstümmelungen” auf den Tisch. Die Schweiz blamierte sich mit den mittlerweile gewohnten Ausreden und Lügen einmal mehr bis auf die Knochen – was auch dem Ausschuss nicht verborgen blieb ...

Weiter sprachen die Auschuss-ExpertInnen wiederholt das Insistieren der Schweiz auf dem menschenrechtswidrigen medizinischen Modell von Behinderung an (statt endlich das von der Konvention vorgegebene Menschenrechtsmodell zu implementieren) – und die damit verbundene entwürdigende Sprache mit der z.B. Betroffene als “Invalide” herabgestuft werden (im Gegensatz zu den “vollwertigen Normalen”). Dies alles betrifft konkret auch Intersex – Intersex-Kinder gelten in der Schweiz offiziell als “invalid” und die CH-“Invalidenversicherung (IV)” finanziert bis heute alle IGM-Praktiken an Kindern. Auch hier hinterliessen die unnötig belehrenden und bevormundenden “Antworten” der Delegation beim Ausschuss offensichtlich einen schlechten Eindruck.

Dieser Blog verfolgte die Session LIVE. Wir hofften auf konkrete Fragen zu unserem Thema – und hoffen nun auf eine weitere deutliche Rüge wegen IGM nach dem Ende der Session!

1. Sitzung: Mo 14. März 2022, 10-12h

CRPD26-Switzerland-Miyeon-Kim11:55h (Video @ 1:50:12): Hipp, hipp!! CRPD-Vize-Vorsitzende Freu Miyeon Kim bringt als erste explizit “Intersex-Genitalverstümmelungen” zur Sprache, fragt u.a. nach “Zugang zur Justiz”, “Wiedergutmachung” und Verjährungsfristen”: :-) Inoffizielles Transkript (aus dem englischen Original):

« Lassen Sie mich nur eine Frage zu Artikel 17, dem Schutz der Integrität der Person, stellen: Bitte geben Sie Auskunft über die Kriminalisierung aller Formen von IGM, die Beseitigung von Hindernissen für den Zugang zur Justiz, insbesondere Verjährungsfristen, und die Gewährleistung von Wiedergutmachung, Entschädigung und Rehabilitation für Intersex-Menschen und Überlebende von Intersex-Genitalverstümmelung. Ich danke Ihnen. »

CRPD26-Switzerland-Amalia-Gamio11:57h (Video @ 1:51:46): Hipp, hipp!! CRPD-Vize-Vorsitzende Frau Amalia Gamio erwähnt weiter die mangelnde “psychosoziale Unterstützung für Überlebende” und fragt u.a. nach “Massnahmen” und “Strafen” für IGM-TäterInnen: :-) Inoffizielles Transkript (aus der englischen UNO-Simultanübersetzung):

« Artikel 17: Obwohl der Vertragsstaat diese Praktiken leugnet, wurden wir darüber informiert, dass immer noch Operationen an Intersex-Kindern durchgeführt werden und dass Ärzte Familien unter Druck setzen, solche unnötigen Operationen vorzunehmen, und dass es keine psychosoziale Unterstützung für Überlebende und keine Strafen für diejenigen gibt, die sie durchführen. Können Sie uns mitteilen, welche Massnahmen ergriffen wurden, um diese Praktiken zu beenden, und welche Strafen für diejenigen, die sie durchführen, vorgesehen sind? »

2. Sitzung: Di 15. März 2022, 10-12h

CRPD26-Switzerland-Agnes-Hertig-Pea10:52h (Video @ 0:50:39): CH-Delegationsmitglied Frau Agnès Hertig Pea (Bundesamt für Gesundheit, Eidgenössisches Departement des Innern) “antwortet” zu Intersex mit dem altbekannten Sammelsurium von Ausreden, Lügen und Ablenkungsmanövern. :-( Inoffizielle Übersetzung (aus dem französischen Original):

« Auf die Fragen zu Eingriffen an Intersex-Menschen kann ich wie folgt antworten: Was die Operationen an Intersex-Menschen betrifft, ist es wichtig zu wissen, dass in der Schweiz die Regel gilt, dass kein medizinischer Eingriff an einer Patientin oder einem Patienten ohne deren oder dessen freie und informierte Einwilligung vorgenommen werden darf. Um einwilligen zu können, muss der Patient jedoch einsichtsfähig sein. Wenn ein Patient nicht einsichtsfähig ist, obliegt es den gesetzlichen Vertretern, in den medizinischen Eingriff einzuwilligen. Die gesetzlichen Vertreter dürfen nicht von Dritten, z. B. von der Ärzteschaft, unter Druck gesetzt werden, die Entscheidung zu treffen. Wenn Druck ausgeübt wird, ist die Einwilligung nicht gültig. Die Entscheidung über die Geschlechtsidentität kann jedoch nicht von den gesetzlichen Vertretern getroffen werden, da es sich hierbei um ein rein persönliches Recht handelt, das nicht vertreten werden kann. Wenn das Geschlecht eines Kindes bei der Geburt unbestimmt ist, können die gesetzlichen Vertreter daher nicht über geschlechtszuweisende Eingriffe entscheiden. Es muss daher abgewartet werden, bis das Kind die Fähigkeit zur Einsichtnahme besitzt, um diese Entscheidung selbst zu treffen. Operationen an intersexuellen Kindern, die nicht urteilsfähig sind, dürfen nur in Ausnahmefällen zum Schutz der Gesundheit oder des Lebens des Kindes durchgeführt werden. Es obliegt daher den Ärzten, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob die Operation notwendig und dringend ist.

Strafrechtlich gesehen kann eine geschlechtsangleichende Operation eine rechtswidrige Körperverletzung darstellen. Der Täter kann der Arzt sein, wenn der Eingriff ohne die Zustimmung der gesetzlichen Vertreter oder des Kindes erfolgt, oder die gesetzlichen Vertreter, wenn sie einem unnötigen Eingriff zugestimmt haben.

Was die Daten über Intersex-Menschen betrifft, so sammelt und veröffentlicht das Bundesamt für Statistik unter anderem Daten aus der medizinischen Statistik der Spitäler, d.h. Diagnosen und Eingriffe während des Spitalaufenthaltes, verfügt aber nicht über Statistiken über Intersex-Menschen oder umfassende Daten über Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung in der Schweiz.

Ich übergebe nun das Wort an Frau Gianninazzi für den Rest der Antwort. »

CRPD26-Switzerland-Debora-Gianinazzi10.55h (Video @ 0:53:02): Mitglied der Delegation Debora Gianinazzi (Bundesamt für Justiz, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement) bringt einmal mehr das obligate Ablenkmanöver weg von IGM und hin zu “Änderung des Geschlechtseintrags im Zivilstandsregister” – obwohl dies gar nicht Bestandteil der Frage war. :-( Inoffizielle Übersetzung (aus dem französischen Original):

« Ich danke Ihnen. Eigentlich hätte ich Ihnen gerne das am 1. Januar 2022 in Kraft getretene Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags im Zivilstandsregister erläutert, aber ich schlage vor, dies schriftlich zu tun. »

Fragen und Bemerkungen zum Menschenrechtsmodell und zur “Invalidenversicherung (IV)”

In der Schweiz werden, wie generell alle Menschen mit Behinderungen, (auch) Intersex-Kinder offiziell als als “Invalide” herabgestuft (im Gegensatz zu den “vollwertigen Normalen”) und die CH-“Invalidenversicherung (IV)” finanziert bis heute alle IGM-Praktiken an Kindern. Diese offensichtlich herabwürdigende Sprache – und die ihr zugrundeliegenden Vorurteile und fragwürdigen Einstellungen, namentlich das medizinische Modell von Behinderung (im Gegensatz zum Menschenrechtsmodell) – gegenüber allen Menschen mit Behinderungen wurden wenig überraschend von mehreren Mitgliedern des Komittees aufgegriffen und deutlich kritisiert:

CRPD26-Switzerland-Rosemary-Kayess-1Video @ 0:17:15: Die Vorsitzende des Komitees Frau Rosemary Kayess fasste zunächst die menschenrechtliche Kritik am medizinischen Modell von Behinderung zusammen. :-) Inoffizielles Transkript (aus dem englischen Original):

« Die Konvention stellt einen bedeutenden konzeptionellen Wandel in der Art und Weise dar, wie wir als Gesellschaft das Phänomen der Behinderung verstehen und darauf reagieren. Die Verhandlungen der Konvention konzentrierten sich darauf, die Auswirkungen des medizinischen Modells von Behinderung zu bekämpfen. Dieses medizinische Modell erklärt das Machtverhältnis, das das Leben von Menschen mit Behinderungen dominiert hat, indem es unsere Andersartigkeit pathologisiert und uns als anormal abstempelt. »

CRPD26-Switzerland-Jonas-RuskusVideo @ 0:39:10: Auch der Sitzungs-Vorsitzende Herr Jonas Ruskus kritisierte explizit das Beharren der offiziellen Schweiz auf dem medizinischen Modell. :-) Inoffizielles Transkript (aus dem englischen Original):

« Ich danke Ihnen. Und ich möchte auch einige Fragen in Bezug auf die Artikel 1 bis 4 stellen. Wie ich anhand des ersten und des alternativen Berichts des Vertragsstaates feststellen kann, wurden im Vertragsstaat keine wesentlichen Massnahmen ergriffen, um vom medizinischen Modell der Behinderung zum Menschenrechtsmodell der Behinderung überzugehen. Das so genannte Invalidenversicherungsgesetz wird wenig kritisch reflektiert, es wurden keine Massnahmen ergriffen, um es mit der Konvention in Einklang zu bringen, so dass es weiterhin das medizinische Modell von Behinderung beibehält, das sich hauptsächlich auf die Beeinträchtigung einer Person und die Leistungen konzentriert, ohne weder die individuelle Autonomie oder die soziale Eingliederung einer Person mit Behinderung noch die dazu erforderliche Unterstützung zu berücksichtigen. »

CRPD26-Switzerland-Robert-MartinVideo @ 01:46:24: Auch der Komitee-Experte Herr Robert Martin kritisierte namentlich die “Invalidenversicherung” – und schloss mit einem berührenden Appell, der zwar nicht spezifisch auf auf Intersex-Kinder gemünzt war – aber der IGM-Betroffenen und -Gefärdeten aus dem Herzen sprach! :-) Inoffizielles Transkript (aus dem englischen Original):

« Ich möchte der Delegation für die Beantwortung meiner Frage danken, aber ich möchte eine Erklärung zu meiner Frage über die Kürzung der Behindertenhilfe abgeben, wenn Menschen sich an Selbsthilfeorganisationen beteiligen. Die Delegation sprach über Rehabilitationsmassnahmen und die Invalidenversicherung, und ich möchte Sie daran erinnern, dass behinderte Menschen nicht invalide oder unsichtbar sind. Zweitens: Rehabilitation funktioniert nicht bei allen Behinderungen. Einige von uns sind ihr Leben lang behindert, und das ist es, wer wir sind. Versuchen Sie nicht, uns zu reparieren. Akzeptieren Sie uns einfach. Ich danke Ihnen vielmals. »

Die “Antworten” der Delegation auch zu diesem Thema waren beschämend – statt die fundierte Kritik ernst zu nehmen, beschränkten sie sich hauptsächlich darauf, das Komitee zu belehren, dass die “Invalidenversicherung” gut gemeint und somit schon OK sei.

Hoffen wir, der Ausschuss wird sich nicht hinters Licht führen lassen, sondern klare verbindliche Empfehlungen aussprechen, welche die Schweiz unmissverständlich an Ihre Verpflichtungen unter der Konvention von Menschen mit Behinderungen erinnern, Intersex-Kinder wirksam vor Genitalverstümmelung, grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung und uneingewilligter Steriliastion zu schützen, sowie wirksamen Zugang zu Justiz und Entschädigung zu garantieren, insbesondere durch Anpassung/Abschaffung von Verjährungsfristen, die es als Kindern verstümmelten verunmöglichen, als Erwachsene gegen die verantwortlichen Ärzte und Kliniken zu klagen!

Siehe auch:
- "Nur die Angst vor dem Richter wird Chirurgen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- "Schädliche medizinische Praxis": UNO, COE, ACHPR, IACHR verurteilen IGM 
- Die ersten 50 UN Rügen für Intersex-Genitalverstümmelungen (en)
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- "Schädliche Praxis" zum 2.: UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee/CCPR) verurteilt IGM-Praktiken
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) verurteilt IGM-Straflosigkeit in Deutschland

Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
  • IGM Überlebende – Danielas Geschichte
  • Historischer Überblick:
     "Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
  • Was ist Intersex?  • Was sind IGM-Praktiken?
  • IGM in Hannover  • Kritik von Betroffenen
  • u.a.m.
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