Intersex-Proteste: Offener Brief an Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK), 16.9.12

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Protest und Übergabe des Offenen Briefes am Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK), 16.9.12

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STOP Genitalverstümmelung in Kinderkliniken!

"Weiter sind wir bestürzt über medizinhistorische Zeugnisse aus Hamburger Universitätskliniken, welche belegen, dass in Hamburg für Menschen wie uns während nun schon seit über einem halben Jahrhundert Zustände herrschten und in veränderter Form möglicherweise heute noch herrschen, die nur als barbarisch und menschenverachtend zu bezeichnen sind. Und obwohl die Opfer dieser Zustände zum Teil heute noch unter uns leben und an dem ihnen Angetanen leiden, ignorieren die Hamburger Universitätskliniken diesen Teil ihrer Geschichte geflissentlich, statt ihn endlich umfassend aufzuarbeiten, sich bei den Opfern öffentlich zu entschuldigen und sie – sofern noch möglich – zu entschädigen."

Nachfolgend der ganze Offene Brief im Wortlaut:          >>> Der Offene Brief als PDF


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                                        Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
                                        Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie
                                        Klinik und Poliklinik für Kinderurologie
                                        Martinistraße 52
                                        20246 Hamburg

                                        AKK Altonaer Kinderkrankenhaus gGmbH
                                        Kinderchirurgie und Kinderurologie
                                        Bleickenallee 38
                                        22763 Hamburg


                                        Hamburg, 16. September 2012


Offener Brief von Zwischengeschlecht.org an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
und das Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK)



Sehr geehrte Damen und Herren

Als sogenannt "intersexuelle" bzw. mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen geborene Menschen und in diesem Zusammenhang auch Betroffene von nicht eingewilligten medizinischen Maßnahmen sind wir sehr besorgt über öffentliche Verlautbarungen auf den Internetauftritten des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf (UKE) und des Altonaer Kinderkrankenhauses (AKK) sowie in Publikationen von Mitarbeitenden der genannten Krankenhäuser, insbesondere der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie (UKE) und der Fachabteilung Kinderchirurgie (AKK), worin ebensolche Zwangsmaßnahmen öffentlich angepriesen werden.

Weiter sind wir bestürzt über medizinhistorische Zeugnisse aus Hamburger Universitätskliniken, welche belegen, dass in Hamburg für Menschen wie uns während nun schon seit über einem halben Jahrhundert Zustände herrschten und in veränderter Form möglicherweise heute noch herrschen, die nur als barbarisch und menschenverachtend zu bezeichnen sind. Und obwohl die Opfer dieser Zustände zum Teil heute noch unter uns leben und an dem ihnen Angetanen leiden, ignorieren die Hamburger Universitätskliniken diesen Teil ihrer Geschichte geflissentlich, statt ihn endlich umfassend aufzuarbeiten, sich bei den Opfern öffentlich zu entschuldigen und sie – sofern noch möglich – zu entschädigen.

So waren die Universität Hamburg und ihre Kliniken anfangs der 1960er Jahre zentral für die Durchsetzung systematischer Klitorisamputationen im Zuge der Implementierung des "Baltimorer Behandlungsmodells" in Europa, und in Bezug auf kosmetische Klitorisamputationen zudem offenbar besonders hartnäckig und unbeirrbar. Um stellvertretend lediglich zwei Beispiele herauszugreifen:

Der gebürtige Hamburger Professor Jürgen W. Bierich, der auch in Hamburg im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) wirkte und unter dessen Namen heute noch jährlich ein angesehener Medizinpreis vergeben wird, hatte 1958 vor Ort bei Lawson Wilkins studiert, dem eigentlichen Begründer des "Baltimorer Behandlungsmodells", und nach seiner Rückkehr dessen Verbreitung vorangetrieben. (Eine weitere gebürtige Hamburgerin, Anke Ehrhardt, wurde später eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen von John Money, dem öffentlichen Aushängeschild des "Baltimorer Modells").

Prof. Bierich publiziert von mindestens 1958 bis 1971 Aussagen und Ansichten im Sinne der folgenden aus "Die Intersexualität" (1961):

 

"Plastische Operationen an den Genitalien

Die operative Korrektur (s. S. 476 ff.) der vermännlichten Genitalien beim kongenitalen adrenogenitalen Syndrom des Mädchens ist aus mehreren Gründen indiziert, 1. um eine regelrechte Funktion der Vagina zu ermöglichen, 2. um die unangenehmen Klitoriserektionen zu verhindern, 3. um seelische Konflikte zu vermeiden, die den Mädchen aus dem Vorhandensein männlicher Attribute erwachsen können.
Nach Möglichkeit soll die Operation schon vor dem vierten Lebensjahr durchgeführt werden. Bei leichteren Fällen ist lediglich die Entfernung der Klitoris erforderlich. Das Organ soll dabei exstirpiert und nicht amputiert werden, da sich sonst lästige Erektionen des zurückgebliebenen Stumpfes einstellen können. Wie HAMPSON (1956) bei einer größeren Reihe operierter Frauen festgestellt hat, leidet die Orgasmusfähigkeit durch die Klitorisentfernung nicht. Ist das Genitale stark vermännlicht, so muß darüberhinaus die Eröffnung des Sinus urogenitalis vorgenommen werden."
(1)

Wie eine Dissertation aus dem Fachbereich Medizin der Universität Hamburg belegt, gehörten mindestens noch 1976 kosmetische Klitorisamputationen an Kindern in der Lehre der Universität Hamburg wie auch der Praxis der Universitäts-Kinderklinik und -Polyklinik (UKE) zum unhinterfragten Standard – deklariert als logische Fortsetzung von religiöser Knabenbeschneidung und weiblicher Genitalverstümmelung:

 

 

"Der Brauch vieler Völker und Religionsgemeinschaften, den männlichen Nachwuchs in einem bestimmten Lebensjahr zu beschneiden, ist weithin bekannt. So ist es in der mohammedanischen und jüdischen Lehre festgelegt, die Knaben kurz nach der Geburt zu beschneiden; bei bestimmten Völkern wird diese Handlung bei Mannbarkeitsfeiern zur Zeit der Pubertät vollzogen.

Weniger bekannt ist die Beschneidung von Mädchen. BRYK (1931) und JENSEN (1933) berichten in ihren Untersuchungen über afrikanische Naturvölker von Circumcisionen oder Incisionen der Klitoris bei heranwachsenden Mädchen. LAMBERT (1956) macht in seiner Arbeit: "Kikuyu: social and political institutions" den Stellenwert dieser Handlung innerhalb des sozialen Gefüges der Kikuyu, eines im zentralen Hochland von Kenia lebenden Bantu-Stammes, deutlich. In dem Roman "Die schwarze Haut" von R. RUARK (1974) finden sich anschauliche Darstellungen dieser Zeremonien.

In der Kinderheilkunde ist die Indikation zur Klitorektomie gegeben, wenn im Rahmen von Virilisierungserscheinungen bei Mädchen ein übermäßiges Wachstum der Klitoris stattfindet. Verschiedene Ausmaße der Klitorishypertrophie, von der geringfügigen Vergrößerung bis zur penisartigen Gestalt, werden beim kongenitalen adrenogenitalen Syndrom beobachtet (PRADER 1954)." (2)

Zum gegenwärtigen Angebot im Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE):

Auf der Homepage der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie ist zu lesen: "Interdisziplinär versorgen wir Kinder mit angeborenen Fehlbildungen" (3). Und unter "Klinische Schwerpunkte" wird öffentlich angeboten: "Neugeborenen / Frühgeborenenchirurgie, Korrektur angeborener Fehlbildungen" (4) – Begriffe, worunter in aller Regel auch medizinisch nicht notwendige chirurgische Genitalkorrekturen subsumiert werden inkl. Hypospadiekorrekturen, Klitorisverkleinerungen, Kastrationen, Vaginoplastiken, Anlegen einer Neovagina.

Zum gegenwärtigen Angebot im Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) ("Ein Unternehmen des UKE"):

Auf der Homepage der AKK-Fachabteilung für Kinderchirurgie wird das "gesamte Leistungsspektrum der Kinderchirurgie" angeboten, darunter wiederum auch "Korrektur angeborener Fehlbildungen" (5), sowie unter "Einheit für Ambulantes Operieren" "Hodenhochstand" (6).

Zusätzlich werden im Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) in der Fachabteilung für Kinderurologie alle "angeborenen [...] Erkrankungen [...] des äußeren Genitale" und "Behandlung aller Kinder und jungen Erwachsenen mit angeborenen Fehlbildungen" angeboten (7).

Weiter befindet sich auf dieser Seite ein Link auf "operation.de" sowie speziell auf die Seiten dort zu "Hypospadie", verfasst von der leitenden Ärztin Frau Prof. Dr. Margit Fisch und der Oberärztin Frau Dr. Silke Riechardt. Dort werden unter "Alternativen, Heilungschancen und Risiken bei Hypospadie" explizit auch Eingriffe "aus kosmetischen Gründen" angepriesen "zur Wiederherstellung eines möglichst normalen Aussehens" resp. "um ein möglichst normales kosmetisches Ergebnis zu gewährleisten", und zwar wiederum ausdrücklich an Kleinkindern: "Die Operation sollte zwischen dem 9. und 15. Lebensmonat oder zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr durchgeführt werden („Psychologisches Fenster“)." Und obwohl sogar eingeräumt wird, dass bei diesen Eingriffen "aus kosmetischen Gründen" keine Evidenz besteht ("keine gesicherten Daten"), dagegen ein erhebliches Komplikationsrisiko mit nicht mehr nur kosmetischen, sondern medizinisch durchaus relevanten Folgen ("Harnröhrenverengungen"), werden Kinderrechte explizit negiert: "Diese Entscheidung liegt bei den Eltern." (8)

Als Betroffene sowohl von nicht eingewilligten Genitalkorrekturen wie auch von nicht eingewilligten Gonadektomien sind wir über solche Angebote und über solche Aussagen entsetzt und halten fest:

"1. Nur Verschlüsse oder Behinderungen im harnableitenden System fallen unter den Begriff zwingende medizinische Indikationen, um operativ die Behinderung oder den Verschluss zu beheben.
2. Das Salzverlustsyndrom beim Adrenogenitalen Syndrom erfordert aus vitaler Indikation eine sofortige Behandlung mit Hormonen. Es besteht aber keine Indikation zu Operationen."
(9)

Erwachsene Betroffene von medizinisch nicht notwendigen, kosmetischen Korrektureingriffen im Kindesalter verurteilen diese seit Jahrzehnten öffentlich.

Chirurgische Genitalkorrekturen ohne strenge medizinische Indikation, wie sie offensichtlich auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und im Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) immer noch regelmäßig an Kleinkindern durchgeführt und/oder vermittelt werden, sind auch in der medizinischen Lehre alles andere als unumstritten. Nach wie vor gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, dass sie auf lange Sicht wirksam und sicher sind. Hingegen gibt es viele Indizien, welche ihre Wirksamkeit in Frage stellen.

Weder ist gesichert, dass Genitalkorrekturen langfristig zu besseren psychosozialen Resultaten führen, als wenn sie unterlassen werden. Noch kann garantiert werden, dass ein Kind sich entsprechend der ihm zugewiesenen Geschlechtsidentität entwickelt. Im Gegenteil, aktuelle Studien belegen:

"Die Behandlungsunzufriedenheit von Intersexuellen ist [...] eklatant hoch. [...] Ein Drittel [der Patienten] bewertet geschlechtsangleichende Operationen als zufriedenstellend bzw. sehr zufriedenstellend, ein weiteres Drittel ist unzufrieden bzw. sehr unzufrieden und das letzte Drittel ist z.T. zufrieden, z.T. unzufrieden." (10)

Die Behandlungszufriedenheit ist bei intersexuellen Erwachsenen und auch Eltern intersexueller Kinder "gering". Eltern beurteilen "die behandelnden Ärzte/Ärztinnen schlechter als Eltern von Kindern mit anderen chronischen Erkrankungen". (11) "Als Ergebnis zeigt sich, dass viele Erwachsene mit DSD mit der medizinischen Behandlung sehr unzufrieden sind." (12)

"The outcome of early genital vaginoplasty is poor and repeat procedures are common. Complications such as stenosis and persistent offensive vaginal discharge and bleeding are common. [...] It is also increasingly clear that clitoral surgery in childhood is detrimental to adult sexual function." (13)

„Auch aus der Literatur ist bekannt, dass sich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Menschen mit DSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter entschließt, das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln.“ (14)

Dass die Wirksamkeit der chirurgischen und hormonellen Behandlungsmethoden an Kleinkindern auch nach sechzigjähriger Praxis immer noch nicht erwiesen werden konnte, unterstreichen zudem auch die aktuellen Leitlinien, die sich bekanntlich auf der niedrigsten Entwicklungsstufe 1 befinden.

Flächendeckende prophylaktische Gonadektomien sind laut medizinischen Studien in den meisten Fällen medizinisch nicht notwendig, haben aber für die Betroffenen lebenslange, sehr schwerwiegende Folgen, insbesondere bei anschließender Hormonersatztherapie entgegen der ursprünglichen Hormonproduktion des Körpers. So beträgt beispielsweise bei CAIS das Krebsrisiko lediglich 0.8 %, bei PAIS 15 %. (15)

Auch aus ethischen und juristischen Gründen sind kosmetische chirurgische Genitalkorrekturen und prophylaktische Gonadektomien an Kindern ohne deren informierte Zustimmung strikt abzulehnen.

Laut "Ethische Grundsätze und Empfehlungen" sind irreversible, medizinisch nicht notwendige Eingriffe ohne ausreichende Evidenz klar unzulässig:

"Maßnahmen, für die keine zufrieden stellende wissenschaftliche Evidenz vorliegt, sowie Maßnahmen, die irreversible Folgen für die Geschlechtsidentität oder negative Auswirkungen auf Sexualität oder Fortpflanzungsfähigkeit haben können, sind besonders begründungs- und rechtfertigungspflichtig und bedürfen einer zwingenden medizinischen Indikation. [...] Die Verfügung über Organe und Strukturen, die für die körperliche Integrität oder Geschlechtsidentität wichtig sind (z.B. Keimdrüsen), sollten in der Regel – wenn keine gewichtigen, das Kindeswohl betreffenden Gründe entgegenstehen – dem Betroffenen selbst überlassen bleiben." (16)

2010 bestätigte der Deutsche Ethikrat:

"Der Umgang mit der Intersexualität berührt eine Reihe medizin-, rechts- und sozialethischer Fragen, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit." (17)

Und auf dem Forum Bioethik des Deutschen Ethikrates vom 23.6.2010 fand die Leitung der Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität "Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung", Prof. Dr. Claudia Wiesemann, angesprochen auf die selektive Berücksichtigung der ethischen Grundsätze und Empfehlungen in der aktuellen Leitlinie, deutliche Worte und sprach von Situationen, in denen

"operiert wird auf Teufel komm raus (…) und (…) der informed consent aller Wahrscheinlichkeit nach Makulatur ist und letztendlich die Ethik nur noch als Freifahrtschein dazu dient, an die Eltern eine ohnehin feststehende Entscheidung abzudelegieren" (18).

(Claudia Wiesemann bezog sich dabei hauptsächlich auf "Kleinstzentren". Nach allen uns vorliegenden Informationen ist genau dasselbe jedoch auch in den großen Behandlungszentren der Fall, und ist noch nirgends die auch in der Leitlinie geforderte Beteiligung von Psychologen, Sozialarbeitern und Ethikern in den multidisziplinären Behandlungsteams wirklich gewährleistet, auch durch entsprechende Festanstellungen.) (19)

Auf Februar 2012 erarbeitete der Deutschen Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung eine Stellungnahme. In einer ersten Einschätzung vom 15. Juni 2011 hielt der Deutsche Ethikrat u.a. fest:

"Ein zentraler Punkt ist das Recht der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit. [...] Hier findet das Elternrecht seine Grenzen und auch dies spricht dafür, mit solchen Eingriffen so lange wie möglich zu warten, damit die betroffenen Intersexuellen selbst entscheiden können." (20)

In seiner Stellungnahme vom 23. Februar 2012 (21) anerkannte der Deutsche Ethikrat ausdrücklich das physische und psychische Leiden der Betroffenen von kosmetischen Genitaloperationen und -behandlungen und forderte einen anderen Umgang mit nicht-eindeutigen körperlichen geschlechtlichen Merkmalen. (22) Ebenso bekräftigte den Vorrang des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und des Rechts auf eine offene Zukunft der Betroffenen. (23) Und forderte last but not least dazu auf, den Betroffenen Entschädigungsleistungen zukommen zu lassen (24) und im gleichen Zuge die Verjährung analog den bereits bestehenden Gesetzen betreffend sexualisierte Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen auszusetzen. (25)

Auch internationale Ethikgremien kommen zum Schluss:

"Our working group unanimously supported waiting for children to be old enough to participarte in decisions about risky and painful surgeries that might fail to reliably retain function and produce more normal appearance (for example, surgery for intersex and achondroplasia)." (26)

Die Rechtsprofessorin Konstanze Plett vertritt seit langem den Standpunkt, dass das medizinisch nicht notwendige Gonadektomieren intersexueller Kinder gegen das Sterilisationsverbot verstoße. (27)

Auch international werden medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Kindern als Verstoß gegen ihre höchstpersönlichen Rechte gewertet. Vgl. zum Beispiel Prof. Dr. iur. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an der Universität Zürich:

"Ein medizinischer Eingriff braucht die Zustimmung der betroffenen Person. In der Regel können die Eltern für ihr Kind zustimmen. Geschlechtszuweisende Operationen aber tangieren die höchstpersönlichen Rechte und dürfen nicht ohne Zustimmung des betroffenen Kindes vorgenommen werden – ausser es ist medizinisch notwendig." (28)

Nicht zuletzt verletzen medizinisch nicht notwendige, kosmetische Genitaloperationen an Kleinkindern Grund- und Menschenrechte, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.

Namhafte Menschenrechtsorganisationen unterstreichen zudem die Parallelen zur weltweit geächteten Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung.

Die Juristin Dr. Angela Kolbe kritisiert in ihrer mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichneten Dissertation über die verfassungsrechtliche Situation intersexueller Menschen insbesondere die schweren Eingriffe bei Kleinkindern als Verstoß gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. (29)

Als Reaktion auf einen Schattenbericht von Intersexuelle Menschen e.V., der verschiedene Menschenrechtsverletzungen von Intersexuellen durch medizinische Zwangseingriffe auflistete (30), rügte 2009 das UN-Komitee CEDAW die Bundesregierung wegen Missachtung ihrer Schutzpflicht gegenüber intersexuellen Kindern. In den daraus resultierenden schriftlichen Empfehlungen forderte das Komitee die Bundesregierung auf, "wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen" (31).

Am 4. November 2011 behandelte der UN-Ausschuss gegen Folter erstmals das Thema und sprach von "Verstümmelung", "Zwangsoperationen" und "nicht notwendigen Operationen" (32).

Und in seinen abschliessenden Bemerkungen rügte der UN-Ausschuss gegen Folter unmissverständlich, dass die Durchführung und Duldung kosmetische Genitaloperationen an Kindern gegen mehrere Artikel der UNO-Antifolterkonvention verstoßen, insbesondere gegen die Pflicht zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 2 und 16 CAT) und zu Unterricht und Aufklärung über das Folterverbot für medizinisches Personal (Art. 10 CAT) sowie gegen das Recht auf eine unabhängige Ermittlung und auf Wiedergutmachung und Entschädigung (Art. 12, 13, 14 CAT). (33)

Diesen Herbst wird sich weiter der UN-Menschenrechtsrat zum ersten Mal mit dem Thema befassen, sowie nächstes Jahr der UN-Kinderrechtsausschuss.

In einer Pressemitteilung des Bundestages vom 25.06.2012 zur Anhörung des Familienausschusses am gleichen Tag wurde festgehalten:

„Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und sollen zukünftig unterbunden werden. Dies war das einhellige Votum der öffentlichen Anhörung im Familienausschuss am Montagnachmittag.  [...] Einigkeit herrschte zwischen den Experten auch in dem Urteil, dass Intersexualität keine Krankheit darstelle.“ (34)

Die Sektionen Deutschland und Schweiz von Amnesty International verabschiedeten 2010 an ihren Jahresversammlungen je eine Motion, worin sie Handlungsbedarf unterstrichen.

Amnesty Deutschland wertete die kosmetischen Genitaloperationen an Kindern als "fundamentalen Verstoß gegen die Menschenrechte":

"Im Mittelpunkt der Bemühungen steht die Ächtung einer medizinischen Praxis, intersexuellen Menschen entweder im frühen Kindesalter ohne Einwilligungsfähigkeit – oder Erwachsenen ohne Aufklärung über Folgen – auf operativ-medikamentösem Weg ein eindeutiges Geschlecht „zuzuweisen“. Dies wird als fundamentaler Verstoß gegen die Menschenrechte (Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung und Würde und auf Nicht-Diskriminierung) gewertet, da solche Maßnahmen in den allermeisten Fällen aus medizinisch-gesundheitlicher Sicht keinerlei Begründung haben." (35)

Und Amnesty Schweiz führte in der Begründung aus:

"Wir erachten genitale Zwangsoperationen für ein schweres Verbrechen, das gegen die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde verstösst. Genitale Zwangsoperationen sind schwere medizinische Eingriffe an Kindern mit gesunden, aber sogenannten nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen, die ohne die Einwilligung der Betroffenen vorgenommen werden. Die Folgen von chirurgischen und medikamentösen Eingriffen werden von den Betroffenen oft als Verstümmelungen wahrgenommen. Die Suizidrate bei operierten und hormonbehandelten Intersexuellen ist stark erhöht; auch verstösst die Zuweisung zum explizit männlichen oder weiblichen Geschlecht gegen die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde, die nicht nur bei Female Genital Mutilation (FGM) in Entwicklungsländern, sondern weiterhin auch bei genitalen Zwangsoperationen in Industrieländern verletzt werden." (36)

Terre des Femmes und internationale Expertinnen konstatieren seit Jahren, dass kosmetische Genitaloperationen an Kleinkindern eine Form von Genitalverstümmelung sind und für die Opfer vergleichbar schädlich wie die weibliche Genitalverstümmelung. (37)

Erwachsene, die als Kinder kosmetischen Genitaloperationen unterzogen wurden, beklagen seit den 1990er-Jahren öffentlich die "Zerstörung des sexuellen Empfindens" und der "körperlichen Unversehrtheit" (38) durch diese Eingriffe, welche sie als "Genitalverstümmelung" erfahren. (39)

Wir betroffene Menschen bitten Sie deshalb inständig, einerseits die offenbar auch im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und im Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) üblichen, fragwürdigen Praktiken an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen zu überprüfen, und andererseits auch endlich eine umfassende und verantwortungsvolle Aufarbeitung der Vergangenheit in Angriff zu nehmen, und bitten um eine diesbezügliche Stellungnahme innert nützlicher Frist.

In der Hoffnung auf einen konstruktiven Dialog zwischen verantwortlichen Ärzten und uns Betroffenen grüßen wir Sie freundlich

Im Namen von Zwischengeschlecht.org


Daniela Truffer
Gründungsmitglied Zwischengeschlecht.org
Gründungsmitglied Selbsthilfegruppe Intersex.ch
Mitglied XY-Frauen
Mitglied Intersexuelle Menschen e.V.



Quellen (Links Stand 15.04.2012)

(1) Jürgen W. Bierich, in: Overzier "Die Intersexualität" (1961), S. 387

(2) Hans Martin Wisseler: „Harnwegsinfektionen nach Klitorektomien bei Mädchen mit kongenitalem adrenogenitalem Syndrom (AGS)“. Med. Dissertation, Hamburg 1976

(3) http://www.uke.de/kliniken/kinderchirurgie/index.php

(4) http://www.uke.de/kliniken/kinderchirurgie/index_61380.php?id=11_0_0

(5) http://www.kinderkrankenhaus.net/h/kinderchirurgie_26_de.php

(6) http://kinderkrankenhaus.net/h/einheit_fur_ambulantes_operieren_35_de.php

(7) http://www.kinderkrankenhaus.net/h/kinderurologie_27_de.php

(8) http://www.operation.de/hypospadie-heilungschancen/

(9) Dr. med. Jörg Woweries: "Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland. Stellungnahme.", S. 4. http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/woweries-stellungnahme-intersexualitaet.pdf

(10) Christian Schäfer: "Intersexualität: Menschen zwischen den Geschlechtern".
http://www.springer.com/medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0

Lisa Brinkmann; Katinka Schweizer; Hertha Richter-Appelt: "Behandlungserfahrungen von Menschen mit Intersexualität. Ergebnisse der Hamburger Intersex-Studie". Gynäkologische Endokrinologie 04/2007, S. 235-242

(11) Eva Kleinemeier, Martina Jürgensen: "Erste Ergebnisse der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz Januar 2005 bis Dezember 2007", S. 18. http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de/fileadmin/documents/netzwerk/evalstudie/Bericht_Klinische_Evaluationsstudie.pdf

(12) Ebd., S. 37

(13) Sarah M. Creighton: "Adult Outcomes of Feminizing Surgery". In: Sharon E. Sytsma (Ed.): "Ethics and Intersex", Dordrecht: Springer, 2006, S. 207-214
(14) M. Jürgensen; O. Hiort; U. Thyen: "Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsentwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und Herausforderungen bei der Versorgung". Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3, March 2008, S. 226-233

(15) Martine Cools, Stenvert L. S. Drop, Katja P. Wolffenbuttel, J. Wolter Oosterhuis, and Leendert H. J. Looijenga: "Germ Cell Tumors in the Intersex Gonad: Old Paths, New Directions, Moving Frontiers". Endocrine Reviews 27(5), 2006: S. 468–484 (S. 481)

(16) Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität "Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung": "Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, Nr. 156, S. 241-245

(17) Pressemitteilung 06/2010 des Deutschen Ethikrates vom 25.6.2010
http://www.ethikrat.org/presse/pressemitteilungen/2010/pressemitteilung-2010-06

(18) Claudia Wiesemann, Redebeitrag in der Abschlussdiskussion am „Forum Bioethik“ des Deutschen Ethikrates, 23.06.2010, Transkript:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/09/13/Ethik-als-Freifahrtschein-Claudia-Wiesemann-23-6-10

(19) Eckhard Korsch: "Überlegungen zur praktischen Umsetzung des DSD-Consensus-Statements", Vortrag gehalten an der APE 2006, Folien 11-17

(20) Deutscher Ethikrate 15.6.2010
http://diskurs.ethikrat.org/2011/06/eine-erste-einschatzung/

(21) Deutscher Ethikrat: Stellungnahme "Intersexualität", 2012.
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf

(22) Empfehlung 6 und 7 zur medizinischen Behandlung, Stellungnahme "Intersexualität", S. 174.

(23) Empfehlung 6 zur medizinischen Behandlung, Stellungnahme "Intersexualität", S. 174.

(24) Vgl. Abschnitt 8.3.8.1. "Entschädigungsfonds", Stellungnahme "Intersexualität", S. 164-166.

(25) Empfehlung 14 zur medizinischen Behandlung, Stellungnahme "Intersexualität", S. 176.

(26) Erik Parens (Ed.): "Surgically Shaping Children", Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 2006, S. xxix

(27) Vortrag vom 7.3.2001, gehalten anläßlich der 45. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Druckfassung:
Konstanze Plett: Intersexualität aus rechtlicher Perspektive. "Gigi - Zeitschrift für die sexuelle Emanzipation" Nr. 13 (Mai/Juni 2001)

(28) Katrin Hafner: "Ein Intersexueller klagt seinen ehemaligen Arzt an". Tages-Anzeiger, 05.02.2008. http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/wissen/medizin/838834.html

(29) Angela Kolbe: Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht. Eine interdisziplinäre Untersuchung. Nomos 2010 (Dissertation)

(30) Lucie G. Veith / Sarah Luzia Hassel-Reusing / Claudia J. Kreuzer: Parallelbericht zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW). Erstellt von: Intersexuelle Menschen e.V. / XY-Frauen (http://intersex.schattenbericht.org)

(31) CEDAW/C/DEU/CO/6
Deutsche Übersetzung: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/ConcludingCommentsFrauen.pdf

(32) UN-Pressemitteilung vom 4. November 2011
http://www.unog.ch/unog/website/news_media.nsf/%28httpNewsByYear_en%29/5E9C56AC5E294D50C125793E0044841D?OpenDocument

(33) Abschliessende Bemerkungen UN-Komitee gegen Folter, S. 6-7
http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/cat_state_report_germany_5_2009_cobs_2011_de.pdf
Relevanter Ausschnitt sowie Link zum englischsprachigen Original:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/08/22/UN-Ausschuss-gegen-Folter-D-soll-kosmetische-Genitaloperationen-entschadigen

(34) Bundestags-Pressemeldung vom 25.06.2012
http://www.bundestag.de/presse/hib/2012_06/2012_314/01.html

(35) "Intersexualität und Menschenrechte", Mitteilung vom 26.5.2010
http://www.mersi-hamburg.de/Main/20100526001

(36) Motion 6: "Position zu Intersexualität"
http://www.queeramnesty.ch/docs/QAI_Motion_GV2010_Intersex.pdf

(37) Hanny Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal". Orlanda 2003. Vgl. insbesondere Kapitel 3: "Intersex-Chirurgie – ein Segen für wen?", S. 49-58

Fana Asefaw, Daniela Hrzán: Genital Cutting – Eine Einführung. In: ZtG Bulletin 28, 2005, S. 8-21
Relevante Auszüge: https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/08/07/Genitale-Zwangsoperationen-an-Zwittern-Genitalverstuemmelung-Typ-IV-Fana-Asefaw%2C-Daniela-Hrzan%2C-2005
Ganzer Text: http://www.gender.hu-berlin.de/w/files/ztgbulletintexte28/2artikel_asefaw_hrzan.pdf

Marion Hulverscheidt: "Weiblich gemacht? Genitalverstümmelung bei afrikanischen Frauen und bei Intersexuellen". In: TDF. Menschenrechte für die Frau, Nr. 3/4, 2004, S. 23-26
http://kastrationsspital.ch/public/Hulverscheidt_TDF_3-4-04.pdf

Konstanze Plett: "Die Macht der Tabus". amnesty journal 03/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte
http://schattenblick.net/infopool/buerger/amnesty/bagru265.html

(38) Cheryl Chase: "Letters from Readers". In: The Sciences, July/August, 3, 1993
http://www.isna.org/articles/chase1995a

(39) Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG):
"Genitalverstümmelungen in Deutschland in der Kinder- und Jugendgynäkologie"
https://blog.zwischengeschlecht.info/pages/Genitalverstuemmelungen-AGGPG-%281996%29

 

 

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